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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 29.1919

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Heft 9/10
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Sternberg, Leo: Der Frühmesser
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https://doi.org/10.11588/diglit.26487#0211

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er Frühmeffer.

Von Leo Sternberg.

Wenn man auf dem Rücken des Rochusberges
steht, der sich als letzter Ausläufer des Gebirges über
Bingcn in die fruchtbare Ebene vorschiebt, und die helle
offene Rheinlandschaft überschaut, die der silberne Strom
mit seinen schiffsförmigen Augen wie eine breite Licht-
straße heiterer Tiefen durchzieht, so dächte man nicht, daß
unter dem lachenden Spiegel die Asphodeloswiesen des
Todes liegen — wäre die Erinnerung daran nicht durch
eine Sandsteintafel an der Kapelle wachgehalten, die
sich mit weithin sichtbarer Turmspitze über dem be-
waldeten Bergesriegel erhebt.

Und wenn die Kirche das irdische Leben auch ver-
wirft, so gibt sie durch diese Tafel, in welche die Namen
von achtzehn verlorenen Menschenleben eingegraben
sind, doch unwillkürlich zu erkennen, daß das Überleben
unseres göttlichen Teiles noch nicht mit dem Grab in
den Wellen versöhnt — mag es immerhin in der Tragik
der Welt beschlossen scheinen, daß die Jdee nur siegt,
indem ihr Träger zugrunde geht.

Freilich wäre aber auch mit der Nettung unserer
körperlichen Wesenheit wenig gewonnen, wenn damit
nur unsere weltliche Erscheinung aus den Fluten ge-
zogen würde und das Ewige mcht ebensogut in dem
Überlebendcn imstande ware, seinen Triumph zu offen-
baren über den Tod — wie es bei jenem Ünglück der
Fall gewesen ist.

Es war am zweiten Ostertage. Rheinische Studenten
waren zur Feier ihres Stiftungsfestes in dem alten,
fröhlichen Bingen zusammengeströmt, und das Couleur
beherrschte die ganze, sich um die finstere Burgmasse
herumlagernde Stadt, die ihren reichsten Flaggenschmuck
angelegt hatte — bei den engen Häuserzeilen und win-
keligen Gäßchcn ein buntes, festlich bewegtes Bild.

Äm Ufer des schiffbelebten Stromes und auf Wein-
bergspfaden leuchteten die farbigen Mützen auf. Aüge
dicht besetzter Wagen schlängelten sich die Fahrwege
zur Höhe des Rochusberges, des Scharlachkopfes und
des Schloßbezirks hinan, und die bärtigen alten Herren
mit dem Stürmer auf dem grauen Haar schossen noch
einmal in die Blüte der verflosscnen Burschenherrlichkeit
gleich den Pfirsichbäumen, deren rosige Schleier wieder
über allen Hängen ichwebten...

Man hatte einen Salondampfer gechartert, der be-
wimpelt und mit einer Kapelle an Bord, die singenden
Mujensöhne in Gesellschaft ihrer Damen an Sanden
und Pappelauen vorüber führte, deren duftige Kulissen
im Bronzegold des ersten Grünens erglänzten.

Wenn man morgens über den Wassern getanzt hatte,
so tanzte man am Nachmittage— auf der sonnigen Burg-
terrasse droben, wo man weit über die wogige Berg-
landschaft des Hunsrücks hinüberschaut — über den
Gipfeln, tief unter sich die schimmernden Schleifen
des Nahetals und den stillen Rhein, auf dem die Schlepp-
züg^e klein vorüberzogen . . .

Dann kam in festlich erleuchtetem Saale, von dessen
Galerien die Damenwelt zuschaute, der große Kommers,
dem die Chargierten in vollem Wichs präsidierten, mit

seinen Trinksprüchen, Verbrüderungen und der uner-
müdlichen Sangesbegeisterung, die ein gleichgestimmter
Kreis jugendlicher Herzen auslöst.

Ein Fackelzug, der dem Kai entlang sich mit der
schwankenden Kette seiner glühenden Lampions phan-
tastisch in den nächtigen Fluten spiegelte und die ganze
Einwohnerschaft des Städtchens an die Fenster lockte,
beschloß die bewegten Tage, bei denen eine Freude die
andere abgelöst hatte. . . .

Als auf den Schleppzügen, die auf der Binger Reede
vor Anker lagen, längst kein anderes Licht mehr brannte
als die halbmast gesetzten ruhigen Nachtsignale, begab
sich eine Gruppe von zwanzig Personen, die nach-
glühenden Bilder warmen Erlebens in der Brust und
sich in fröhlicher Unterhaltung durch die Dunkelheit
anrufend, nach dem Hafen, um sich auf die andere Rhein-
seite übersetzen zu lassen, wo man noch einen späten Aug
zu erreichen gedachte.

„Der Sang ist verschol — len .. der Wein ist ver —
raucht", sang ein etwas angeheiterter Philologe in weh-
mütigem Baß hinter den andern her.

Der Schiffer, dessen eigener Nachen zu niedrig
geeicht war, ketteteeigenmächtig einen größeren, fremden
Kahn von der Bake los, und obwohl ihn einer anschrie,
ob er auch das Sprichwort kenne „Wer den Rüdesheimer
versäumt, muß mit dem Binger fahren" — wobei er
allerdings possenhaft den Finger an die Nase legte —
lachte die zum Scherzen aufgelegte Schar (und der
Schiffer mit ihr) und tastete sich sorglos die dunkle Lande-
treppe hinab in den umplätscherten Kahn, der unter der
starken Belastung bis an die Eiche einsank.

„Der Frühmesser hat um sieben Uhr morgens
Feierabend . . . Warum gehen wir schon?" — prozeßte
der Philologe mit dem geistlichen Herrn, der ihn als
letzten die Steinstufen hinableitete.

„Herein in den Seelenverkäufer!" trieb ihn ein
Spaßvogel zur Eile an.

Perlendes Frauengekicher und breites Männer-
lachen . . . Jäh unterbrochen — da einer von der
Gesellschaft, der schon mit eingestiegen war, unvermutet
zurückbleiben mußte.

Es war ein unscheinbarer Vorfall. Sein weißer
For schoß nämlich im letzten Augenblicke mit einem
Satze plötzlich aufheulend wieder aus dem Nachen heraus
und tobte, Mark und Bein durchdringende Jammerlaute
anschlagend, so lange auf der Hafenmauer hin und her,
bis sein Herr notgedrungen zu dem winselnden Tiere
zurückkehren mußte...

Die laute Vergnüglichkeit war mit einem Male
dahin, und schweigend stieß der Kahn vom Lande.

Man hatte von dem Fackelzuge einen roten Lampion
mitgebracht, mit dem man sich die nächtliche Wrsser-
partie in eine venetianische Gondelfahrt zu verwandeln
gedachte. Aber sowie man in den offenen Strom ge-
langte, kam ein östlicher Wind über den Wasserspiegel
gestrichen, den die Schiffer bei der Uberfahrt nicht gerne
sehen, und die Kerze fing zu flackern an und — erlosch
mit einem Mal . . .

Beängstigend legte sich die unvermutete Finsternis,
von welcher der Lampion plötzlich verschlungen schien,
auf die Fabrenden, und unwillkürlich rückte man dichter
 
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