kräftigt mit tauscnd Siegeln den Liebesbund. Nun sind
sie beide auf der Erde vereint,
„Und ein zweites Wort! Es werde!
Trennt uns nicht zum zweitcnmal."
Wenn Goethe als Dichter und leidenschaftlich emp-
findender Mensch seinen Blick in die Vergangenheit
zurück lenkt und sich ganz dem Aauber einer geheimnis-
vollen Rückerinnerung hingibt, so schaut er anderseits
als Denker und Verkünder einer ethisch bedeutsanien
llnsterblichkeitslehre nur in die Aukunft und wendet sein
Auge vom Überirdischen hinweg zum diesseitigen Leben.
Nichts erscheint geeigneter, einer kräftigen Dieüscits-
moral zur Grundlage zu dienen, als Goethes Gedanke,
die erhoffte Unsterblichkeit sei einzig und allein abhängig
von einer wertvollen irdischen Betätigung. Erst muß
man sich dcr Unvergänglichkeit sciner Kraft würdig
erweisen, erst muß man eine große Entelechie sein, um
sich als solche auch künftig zu manifestieren. Goethes
Unsterblichkeitsproblem wird zum Postulat, zur Forde-
rung: Lege Unsterblichkeit in dein Leben! Ahnlich wie
Kants Pflichtbegriff, der den Gedanken der „Würdig-
keit einer transzendentalen Glückseligkeit" niit der Un-
sterblichkeitsidee, als mit ihr durchaus zusammengehörig,
in Verbindung bringt, ähnlich auch wie die Wieder-
kunftslehre Nietzsches, der uns zuruft: Lebt so, daß ihr
die ewige Wiederkehr eures Lebens nicht zu fürchten
braucht, sondern ersehnt und wollt! — so wirkt auch
Goethes Unsterblichkeit zurück auf unser täglicheü Tun.
Das Hauptgewicht legt Goethe auf die Forderung, sich
in rechter Weise zu betätigen, um eines ewigen Fort-
wirkens wert zu sein und teilhaftig zu werden. Die
Hoffnung auf den „Himmel", auf ein Aeitlich-Tran-
szendentes also, als Erlösung vom Diesseits kann und will
er nicht nähren. Jn sehnsüchtigen Erwartungen der
ewigen Seligkeit, die nicht selten Hand in Hand gehen
mit einem untätigen Hinbringen des irdischen Lebens
in Gebet, Reue und Buße, sieht er eine Gefahr. Wir
sollen nicht hinüberschielen zu jenem unentdeckten Lande,
von dess' Bezirk, wie Hamlet sagt, kein Wanderer wieder-
kehrt. „Ein tüchtiger Mensch, der schon hier etwas
Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu
streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künstige
Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in dieser,"
so äußert er sich im hohen Alter, während wir ihn zu
gleicher Aeit mit jenen Gedanken der Unzerstörbarkeit
unseres ewig wirkenden Wesens beschäftigt sehen. Es
ist das praktische Bekenntnis eines rastlos tätigen,
unermüdlich schaffenden Geistes, des Fürsprechers eines
starken, freudigen DiesseitsglaubenS. Es ist die Mahnung,
unser Leben recht zu nutzen, es nicht zu verschleudern,
zu verschwenden und zu verträumen. Wir sollen wirken
im Angesichte der Ewigkeit, der Ewigkeit unserer Taten.
Unsere Handlungen sind Gottesgedanken; betrachten wir
sie als unverlierbare Elemente göttlichen Lebens und
Bewußtseins. Einmal geschehen,-können sie nicht mehr
ausgestrichen werden. Sie müssen nun weiter wirken,
bald ofsen und jedem sichtbar, bald unmerklich, geheim,
unterirdisch und lange Aeit zum Erfolge brauchend.
Sehe jeder zu, daß es zum Guten ist, was er während
der Zeit seiner Menschwerdung auf Erde tut und wirket.
f846jl ' Julius Glarner.
losse über den Vers.
„Und wenn mich am Tag die Ferne
Blauer Bergc sehnlich zieht,
Nachts das Ubermaß der Sternc
Prächtig mir zu HLupten glüht..."
Diese Verse Goethes, die ich zitieren hörte, klangen
mir ganz wundervoll melodisch. Es war wie ein aus
dem Erlebnis Goethes sich von selbst gestaltender Rhyth-
mus. Jch suchte dann das Gedicht auf und konnte es
durchaus nicht finden. Begreiflich! Da das Gedicht
gar nicht so anfängt, sondern die obige Strophe die
zweite eines Gedichtes: „Schwebender Genius über
der Erdkugel" ist. Durch Iufall fand ich die Strophe jetzt
wieder. Und nun war das Merkwürdige, daß ich Schwie-
rigkeiten hatte, sie, die sür sich von selbst klang, im Au-
sammenhang mit der Anfangs- und Endstrophe zu
lesen.
Jch hatte die Kurve der ersten Zeile obiger Strophe
immer so genommen, daß ihr Höhepunkt in „Tag" war
und ein zweiter in „Ferne". Jch las also: Und wenn
nnch am TAG die FERNE... So konnte ich diesen
Strvphenanfang im Ausammenhang aber nicht lesen.
Denn das Gedicht fängt an:
„Zwischen Oben, zwischen Unten
Schweb ich hin zu muntrer Schau,
Ich ergehe mich am Bunten,
Ich erquicke mich am Blau."
Das ist nun für mich, als wäre die zweite Strophe
ein Gedicht für sich, das in das andere hineingeflickt
wäre. Das ist aber natürlich nicht der Fall. Vielmehr
hat Strophe II dasselbe Metrum wie Strophe I.
Nun bitte ich, diese zwei Strophen zusammen zu lesen.
Es bleibt doch nur übrig, so zu lesen:
UND wenn mich am TAG die Ferne
BLAUer Berge SCHNlich zieht.
oder allenfalls:
Und wenn MICH am Taq die FERne
Blauer BCRge sehnlich ZICHT...
Dann aber ist der natürliche Rhythmus dieser zwei
Zeilen entzwei. Was ist ein Vers? Diese Frage erhebt
sich ganz scharf. „Und wenn mich am Tag die Ferne
blauer Berge sehnlich zieht"... ich bittesdas als Prosa
zu lesen wie eine Briefstelle. Dann offenbart sich der
wunderbare Rhythmus dieser Ieilen ohne weiteres.
Sind also die hochpoetischsten Stellen eines Gedichtes
die, wo wirklich gesprochene Sprache lebt, ohne irgend-
eine „metrische Störung"?
Jst die höchste Prosa die höchste Poesie? Diese Frage
erläutert sich an solchen Gedichtstellen. Diese vorliegende
ist geradezu ein Phänomen. Man kann sich kaum vor-
stellen, daß Goethe, wenn er dieses Gedicht wiederlas,
nicht gemerkt haben sollte, daß mit der zweiten Strophe
eine andere, eine beinahe entgegengesetzte Kurve an-
fängt. Es ist, als wäre der Klangstrom erst da heran-
geflossen, während die erste Strophe wie mit Fingern
abgezählt klingt. Oder kann ein Mensch auf der Welt
mir die zweite Strophe nach dem Schema der ersten
laut lesen?
Jst die höchste Poesie dort, wo das Vers-Schema
in die Latenz versinkt?
sie beide auf der Erde vereint,
„Und ein zweites Wort! Es werde!
Trennt uns nicht zum zweitcnmal."
Wenn Goethe als Dichter und leidenschaftlich emp-
findender Mensch seinen Blick in die Vergangenheit
zurück lenkt und sich ganz dem Aauber einer geheimnis-
vollen Rückerinnerung hingibt, so schaut er anderseits
als Denker und Verkünder einer ethisch bedeutsanien
llnsterblichkeitslehre nur in die Aukunft und wendet sein
Auge vom Überirdischen hinweg zum diesseitigen Leben.
Nichts erscheint geeigneter, einer kräftigen Dieüscits-
moral zur Grundlage zu dienen, als Goethes Gedanke,
die erhoffte Unsterblichkeit sei einzig und allein abhängig
von einer wertvollen irdischen Betätigung. Erst muß
man sich dcr Unvergänglichkeit sciner Kraft würdig
erweisen, erst muß man eine große Entelechie sein, um
sich als solche auch künftig zu manifestieren. Goethes
Unsterblichkeitsproblem wird zum Postulat, zur Forde-
rung: Lege Unsterblichkeit in dein Leben! Ahnlich wie
Kants Pflichtbegriff, der den Gedanken der „Würdig-
keit einer transzendentalen Glückseligkeit" niit der Un-
sterblichkeitsidee, als mit ihr durchaus zusammengehörig,
in Verbindung bringt, ähnlich auch wie die Wieder-
kunftslehre Nietzsches, der uns zuruft: Lebt so, daß ihr
die ewige Wiederkehr eures Lebens nicht zu fürchten
braucht, sondern ersehnt und wollt! — so wirkt auch
Goethes Unsterblichkeit zurück auf unser täglicheü Tun.
Das Hauptgewicht legt Goethe auf die Forderung, sich
in rechter Weise zu betätigen, um eines ewigen Fort-
wirkens wert zu sein und teilhaftig zu werden. Die
Hoffnung auf den „Himmel", auf ein Aeitlich-Tran-
szendentes also, als Erlösung vom Diesseits kann und will
er nicht nähren. Jn sehnsüchtigen Erwartungen der
ewigen Seligkeit, die nicht selten Hand in Hand gehen
mit einem untätigen Hinbringen des irdischen Lebens
in Gebet, Reue und Buße, sieht er eine Gefahr. Wir
sollen nicht hinüberschielen zu jenem unentdeckten Lande,
von dess' Bezirk, wie Hamlet sagt, kein Wanderer wieder-
kehrt. „Ein tüchtiger Mensch, der schon hier etwas
Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu
streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künstige
Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in dieser,"
so äußert er sich im hohen Alter, während wir ihn zu
gleicher Aeit mit jenen Gedanken der Unzerstörbarkeit
unseres ewig wirkenden Wesens beschäftigt sehen. Es
ist das praktische Bekenntnis eines rastlos tätigen,
unermüdlich schaffenden Geistes, des Fürsprechers eines
starken, freudigen DiesseitsglaubenS. Es ist die Mahnung,
unser Leben recht zu nutzen, es nicht zu verschleudern,
zu verschwenden und zu verträumen. Wir sollen wirken
im Angesichte der Ewigkeit, der Ewigkeit unserer Taten.
Unsere Handlungen sind Gottesgedanken; betrachten wir
sie als unverlierbare Elemente göttlichen Lebens und
Bewußtseins. Einmal geschehen,-können sie nicht mehr
ausgestrichen werden. Sie müssen nun weiter wirken,
bald ofsen und jedem sichtbar, bald unmerklich, geheim,
unterirdisch und lange Aeit zum Erfolge brauchend.
Sehe jeder zu, daß es zum Guten ist, was er während
der Zeit seiner Menschwerdung auf Erde tut und wirket.
f846jl ' Julius Glarner.
losse über den Vers.
„Und wenn mich am Tag die Ferne
Blauer Bergc sehnlich zieht,
Nachts das Ubermaß der Sternc
Prächtig mir zu HLupten glüht..."
Diese Verse Goethes, die ich zitieren hörte, klangen
mir ganz wundervoll melodisch. Es war wie ein aus
dem Erlebnis Goethes sich von selbst gestaltender Rhyth-
mus. Jch suchte dann das Gedicht auf und konnte es
durchaus nicht finden. Begreiflich! Da das Gedicht
gar nicht so anfängt, sondern die obige Strophe die
zweite eines Gedichtes: „Schwebender Genius über
der Erdkugel" ist. Durch Iufall fand ich die Strophe jetzt
wieder. Und nun war das Merkwürdige, daß ich Schwie-
rigkeiten hatte, sie, die sür sich von selbst klang, im Au-
sammenhang mit der Anfangs- und Endstrophe zu
lesen.
Jch hatte die Kurve der ersten Zeile obiger Strophe
immer so genommen, daß ihr Höhepunkt in „Tag" war
und ein zweiter in „Ferne". Jch las also: Und wenn
nnch am TAG die FERNE... So konnte ich diesen
Strvphenanfang im Ausammenhang aber nicht lesen.
Denn das Gedicht fängt an:
„Zwischen Oben, zwischen Unten
Schweb ich hin zu muntrer Schau,
Ich ergehe mich am Bunten,
Ich erquicke mich am Blau."
Das ist nun für mich, als wäre die zweite Strophe
ein Gedicht für sich, das in das andere hineingeflickt
wäre. Das ist aber natürlich nicht der Fall. Vielmehr
hat Strophe II dasselbe Metrum wie Strophe I.
Nun bitte ich, diese zwei Strophen zusammen zu lesen.
Es bleibt doch nur übrig, so zu lesen:
UND wenn mich am TAG die Ferne
BLAUer Berge SCHNlich zieht.
oder allenfalls:
Und wenn MICH am Taq die FERne
Blauer BCRge sehnlich ZICHT...
Dann aber ist der natürliche Rhythmus dieser zwei
Zeilen entzwei. Was ist ein Vers? Diese Frage erhebt
sich ganz scharf. „Und wenn mich am Tag die Ferne
blauer Berge sehnlich zieht"... ich bittesdas als Prosa
zu lesen wie eine Briefstelle. Dann offenbart sich der
wunderbare Rhythmus dieser Ieilen ohne weiteres.
Sind also die hochpoetischsten Stellen eines Gedichtes
die, wo wirklich gesprochene Sprache lebt, ohne irgend-
eine „metrische Störung"?
Jst die höchste Prosa die höchste Poesie? Diese Frage
erläutert sich an solchen Gedichtstellen. Diese vorliegende
ist geradezu ein Phänomen. Man kann sich kaum vor-
stellen, daß Goethe, wenn er dieses Gedicht wiederlas,
nicht gemerkt haben sollte, daß mit der zweiten Strophe
eine andere, eine beinahe entgegengesetzte Kurve an-
fängt. Es ist, als wäre der Klangstrom erst da heran-
geflossen, während die erste Strophe wie mit Fingern
abgezählt klingt. Oder kann ein Mensch auf der Welt
mir die zweite Strophe nach dem Schema der ersten
laut lesen?
Jst die höchste Poesie dort, wo das Vers-Schema
in die Latenz versinkt?