ber Hermann StehrS „Heiligenhof".
Die große literarische Mode unserer Tage ist der religiöse
Roman, der religiöse Hymnus, die ekstatische Konfession — solche
Moden haben ihr WiderwärtigeL und ihr Gutes. Widerwärtig ist,
daß die höchsten Dinge profaniert, entweiht/ entheiligt werden
durch das Gcschwäh Unberufener; gut ist, daß durch das modische
Tamtam der Geistes- und Seelenzustand dieser Zeit ihr selber
klar bewußt wird und so eine gewisse Empfänglichkeit breiterer
Schichten für die Schöpfungen wirklicher Gottsucher und Gott-
finder entsteht. Man wird an dem Crfolg der neuen Schöpfung
Hermann Stehrs abmessen können, ob diese religiöse Mode unserer
Tage wirklich nur modisches Gerede oder ob sie Ieichen eines
tiefen Herzensbedürfnisses der Zeitgenossen ist. Dies neue Wsrk
Stehrs ist die Schöpfung eines Gottsuchers, wie er mit dem gleichen
Ernst in unserer neueren deutschen Dichtung kaum zu finden ist,
die Schöpfung eines Gottsuchers, die sich getrost den schönen und
gewaltigen Selbstbekenntnissen der pietistischen Frommen des
17. und 18. Jahrhunderts vergleichen kann an seelischer Macht
und die an künstlerischem Reichtum eine der edelsten Schöpfungen
des Naturalismus ist. Aus dem Geist der frommen Selbstdar-
stellungen des Pietismus ist dieser Roman erwachsen: sein Schöpfer
stammt aus Schlesien, das seit den Zeiten Jakob Böhmes eine nicht
abreißende Tradition mystischer Denker und Seher hat; er kennt
und liebt, wie eine Bemerkung in dem Romane selber anzeigt,
frühe pietistische Selbstbiographien und Erbauungsbücher; er
hat in sich selber einen asketischen Heiligen, der in diesem Roman
sich auswirkt und seine Seelcngeschichte darstellt.
Wie in Deutschland seit Goethe fast jeder bedeutende Roman,
ist auch Stehrs neues Werk ein Entwicklungsroman — aber darin
weicht er von der Tradition des deutschen Cntwicklungsromanes
ab, daß nicht die Entwicklung eines Geistes, sondern die Entfaltung
einer Seele, nicht die Erlangung eines breiten Weltbjldes, sondern
die Erfassung des lehten Seelengrundes der Gegenstand dicser
Dichtung ist. Nicht um Erfahrungen und Lebensweisheit handclt
es sich in diesem Werke, sondern um Crleuchtungen und Seelen-
reinheit, und so feiert eine spezifisch pietistische Jnncrlichkeit hier
ihre Auferstehung, und es erscheint endlich in Deutschland ein
Gegenstück zu den großen religiösen Romancn der Russen: ein
reiner Seelenroman, der in sich den Preis der freien Persönlichkeit
enthält und die Freiheit des Gemüts als den höchsten Seelenwert
feiert, was ihn denn wieder an die deutsche Tradition bindet und von
den russischen religiösen Romanen abrückt. Bci den Russen nämlich
ist immer die Gnade im Sinne einer überwcltlichen Vermittlung
zwischen Gott und den Menschen das Ausschlaggebende; Stehr
aber steht dadurch so ganz in der Kette der deutschen Mystiker, daß
ihm die Freiheit des Gemüts nur in der tätigen Selbsterlösung des
Menschen sich offenbart. „Selbst die reinste Liebe ist ein Jrrweg,
wenn sie dich nicht ganz auf den Pfaden deines Geistes führt, und
zuallerletzt im Tiefsten darf kein Mensch jemand anders angehörcn
als nur Gott." So sagt am Schluß des Werkes der Faber-Rebell
als der Deuter des verworrensn Lebsnsschicksals des Heiligenhof-
bauern zu diesem selbst und dies Bekenntnis zu der deutschen Art
von Freiheit ist im Kerne das gleiche, wie es Meister Ekkehart
als der erste vor 600 Jahren geformt hat in der Sprache seiner
Zeit, in den Ausdrücken der Scholastik.
Man muß bei diesem Werke Hermann Stehrs von den see-
lischen Voraussehungen sprechen, aus denen es geboren ist, nm
zum Verständnis des eigentlich Künstlerischen zu kommen. Die
Seelcngeschichte eines Menschen, der einen Iohannes in sich birgt
und zu einem wahren Christen werden will, zu schreiben, das war
die Absicht Stehrs. Religiöse Autobiographie also, oder Legenden-
Schreibung oder richtiger eine Mischung aus religiöser Autobio-
graphie und legendarischer Erzählung ist, künstlerisch bctrachtct,
die Form dieses merkwürdigen Gottsucher-Evangeliums. Mit
ganz außerordentlichem Kunstverstand hat Stehr sein Werk auf-
gebaut und dann doch die Fülle der Sinnlichkeit darüber gebreitet,
so daß die Nähte der Komposition kaum zu bemerken sind. Die
Erzählung spielt in Westfalen, im Münsterland; der Held, Andreas
Sintlinger, ist ein wcstfälischer Hofbcsiher von altem Bauernadel
und hohem Wohlstand; Bauer also und doch vom Druck der harten
körperlichen Arbeit frei und geistigen Erlebnissen zugänglich. Jhm
gegenüber haust ein anderes altes Bauerngeschlecht, die Brind-
eisener, die lange mit den Sintlingern feind sind und sich im
Niedergange befinden. In der Umgebung dieser beiden allein
liegenden HLfe sind reiche Dörfer und ein armes Dorf, Querhofen,
wo in alten Zeiten Reste der Münsterschen Wiedertäufer ange-
siedelt worden sind. Eine ganze Welt von Menschen-Beziehungen
zueinander und untereinander, die um die beiden Fremdhöfe herum-
liegt und in die zuzeiten von ferne auch die Stimmen der großen
Welt sich mischen, etwa in den Schicksalen des Faber-Rebellen und
des Brindeisener-Sohnes, sowie in dem Kampf der Kirche gegen
die wiedertäuferischen Querhofener und ihren großen Schüher,
den Sintlinger-Bauern. In dieser bäuerlichen Welt nun spielen
die Seelengeschichte des Andreas Sintlinger und die Legenden
um das Sintlinger-Lenlein. Andreas Sintlinger, von Natur aus
ein wüster und wilder Mensch, kommt nach dem ersten Brausen
seincr überströmenden Iugend durch die Erkenntnis von der Blind-
heit und dabei Engelhaftigkeit seines Kindes zu der Cinkehr in
sich sslber und zu der Suche nach Gott. Ein geheimnisvolles Band
verbindet ihn mit seinem Kinde, das durch sein reines und klares
Wesen nicht nur den Bauern selber reinigt und läutert, sondern
auf jeden, der in seine Nähe kommt, mit einer eigenen engelhaften
Güte wirkt, so daß eine Reihe lieblichster Legenden sich um seine
Person bilden. Die Heilung einer betrübten Frau von dem Leid
um ihr verstorbenes Söhnchen ruft dann eine ganze religiöse
Bewegung in dem wiedertäuferischen Querhofen hervor, was zu
Zusammenstößcn mit der Geistlichkeit und zum Cingreifcn des
Heiligenhof-Bauern führt. Durch die Crschütterungen dieser Be-
wegung und durch die Liebe zu dem Brindeisener-Sohn wird das
Heiligenhof-Lenlein wieder sehend, und diese Anwandlung, sowie
der bald darauf erfolgcnde Tod des Mädchens nach einer leiden-
schaftlichen Liebe zum Brindeisener-Sohne erschüttert den Bauern
aufs tiefste, da er aus dem Wunder seines blinden Kindes seine
eigene Kraft zum Leben gezogen hat. Und nun kommt die lehte
Derwandlung des Bauern: der Faber-Rebell, ein Arbeiterführer
und heilandsähnlicher Mensch, mit dem der Bauer schon in der
crsten Ieit sciner Erweckung auf eigenartige Weise zusammen-
getroffeu ist und den er auch auf seinem späteren Lebenswege als
seinen ständigcn geistigen Begleiter und Gewissensfreund emp-
findet, bringt ihm die Deutung seines vielverschlungenen Lebens
und die leßte Befreiung von Jrrwahn und Sclbsttauschung, damit
zugleich die Freiheit der Seele und die Ruhe in Gott. Es ist un-
möglich, die Fülle der Geschehnisse wie der inneren Handlung, die
ganze bäuerliche Welt und ihre Erschütterung durch den Glauben
und den Kampf um die Freiheit des Herzens hier darzulegen:
ein ganzes Menschenleben — die Summe der Existenz Hermann
Stehrs — steckt in diesem Werke. Eine unerhörte Fülle des Details
an Natur- und Seelenschilderung, eine ganze Welt von Menschen,
eine ganze menschlichs Seele ist in diesem Werke vereinigt. Liebliche
Legenden und schauerliche menschliche Zusammcnbrüche, Ge-
spenster verfallener Menschen und Erweckungen genesender Mcn-
schen, Leid und Trost, Menschenuntergang und Menschenerlösung;
all das ruht in diesem mächtigen Werk eng beieinander und wird
durch die Macht der dichterischen Intuition Stehrs und durch die
Kunst einer bildkräftigen, melodischen Sprache zusammengehaltcn.
Alle Möglichkeiten der Annäherung an Gott sind in dieser Dichtung
dargestellt, soweit sie nicht geistig, sondern seelisch sind: der dumpfe
Fanatismus, der Gott herabtroßen will, der Crlösungsglaube durch
einen Mittlcr, die freie Selbsterlösung, die stille Inbrunst quie-
tistischer Mystiker. Einzig die Nöte intellektucller Menschen in
ihrem Ringen um Gott sind nicht gestaltet, denn die Episode des
Brindeisener-Sohnes ist eigentlick. nicht so recht gelungen und
wirkt irgendwie fremd in dem Ganzen. Das Erlebnis Pascals
etwa odcr des Goethischen Faust findet in dieser Welt rein
scelenhafter Mystik keinen Widerhall, wie denn das ganze Werk
die Gestaltung rein seelischer Kräfte und Kämpfe bedeutet und
ebendeshalb zur Idylle und zur Legende, zur Hymne und zur
mystischen Betrachtung neigt — und nicht zum Drama.
Das Zeichen des echten Gottsuchers ist, daß er, im Suchen,
Gott zuzeiten findet, auch wenn es ihm selber nicht bewußt wird,
und daß er in diesem Zustand der Vereinigung mit Gott Worte
findet, die nicht von dicser Welt sind, Erleuchtungen hat, in denen
ihm ein himmlisches Licht glänzt. Stehr hat solche Worte gefunden
und ein Äbglanz dieses überirdischen Lichtes ist in manchen Gleich-
nissen und Gebeten, die sich in dem Roman finden. Beim Lesen
dieser Seiten weiß man: Stehr redet nicht von Religion und über
sie — sondern er hat sie und lebt aus dem tiefen Grundc, den
er zu künden sucht. Es wird einem das ganz besonders klar, wenn
man etwa an das Hauptwerk des andercn schlesischen Dichters,
an Gerhart Hauptmanns „Cmanuel Quint" denkt. Hier ein merk-
würdiges Schwanken von Glauben und Skepsis, bei Stehr eine
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Die große literarische Mode unserer Tage ist der religiöse
Roman, der religiöse Hymnus, die ekstatische Konfession — solche
Moden haben ihr WiderwärtigeL und ihr Gutes. Widerwärtig ist,
daß die höchsten Dinge profaniert, entweiht/ entheiligt werden
durch das Gcschwäh Unberufener; gut ist, daß durch das modische
Tamtam der Geistes- und Seelenzustand dieser Zeit ihr selber
klar bewußt wird und so eine gewisse Empfänglichkeit breiterer
Schichten für die Schöpfungen wirklicher Gottsucher und Gott-
finder entsteht. Man wird an dem Crfolg der neuen Schöpfung
Hermann Stehrs abmessen können, ob diese religiöse Mode unserer
Tage wirklich nur modisches Gerede oder ob sie Ieichen eines
tiefen Herzensbedürfnisses der Zeitgenossen ist. Dies neue Wsrk
Stehrs ist die Schöpfung eines Gottsuchers, wie er mit dem gleichen
Ernst in unserer neueren deutschen Dichtung kaum zu finden ist,
die Schöpfung eines Gottsuchers, die sich getrost den schönen und
gewaltigen Selbstbekenntnissen der pietistischen Frommen des
17. und 18. Jahrhunderts vergleichen kann an seelischer Macht
und die an künstlerischem Reichtum eine der edelsten Schöpfungen
des Naturalismus ist. Aus dem Geist der frommen Selbstdar-
stellungen des Pietismus ist dieser Roman erwachsen: sein Schöpfer
stammt aus Schlesien, das seit den Zeiten Jakob Böhmes eine nicht
abreißende Tradition mystischer Denker und Seher hat; er kennt
und liebt, wie eine Bemerkung in dem Romane selber anzeigt,
frühe pietistische Selbstbiographien und Erbauungsbücher; er
hat in sich selber einen asketischen Heiligen, der in diesem Roman
sich auswirkt und seine Seelcngeschichte darstellt.
Wie in Deutschland seit Goethe fast jeder bedeutende Roman,
ist auch Stehrs neues Werk ein Entwicklungsroman — aber darin
weicht er von der Tradition des deutschen Cntwicklungsromanes
ab, daß nicht die Entwicklung eines Geistes, sondern die Entfaltung
einer Seele, nicht die Erlangung eines breiten Weltbjldes, sondern
die Erfassung des lehten Seelengrundes der Gegenstand dicser
Dichtung ist. Nicht um Erfahrungen und Lebensweisheit handclt
es sich in diesem Werke, sondern um Crleuchtungen und Seelen-
reinheit, und so feiert eine spezifisch pietistische Jnncrlichkeit hier
ihre Auferstehung, und es erscheint endlich in Deutschland ein
Gegenstück zu den großen religiösen Romancn der Russen: ein
reiner Seelenroman, der in sich den Preis der freien Persönlichkeit
enthält und die Freiheit des Gemüts als den höchsten Seelenwert
feiert, was ihn denn wieder an die deutsche Tradition bindet und von
den russischen religiösen Romanen abrückt. Bci den Russen nämlich
ist immer die Gnade im Sinne einer überwcltlichen Vermittlung
zwischen Gott und den Menschen das Ausschlaggebende; Stehr
aber steht dadurch so ganz in der Kette der deutschen Mystiker, daß
ihm die Freiheit des Gemüts nur in der tätigen Selbsterlösung des
Menschen sich offenbart. „Selbst die reinste Liebe ist ein Jrrweg,
wenn sie dich nicht ganz auf den Pfaden deines Geistes führt, und
zuallerletzt im Tiefsten darf kein Mensch jemand anders angehörcn
als nur Gott." So sagt am Schluß des Werkes der Faber-Rebell
als der Deuter des verworrensn Lebsnsschicksals des Heiligenhof-
bauern zu diesem selbst und dies Bekenntnis zu der deutschen Art
von Freiheit ist im Kerne das gleiche, wie es Meister Ekkehart
als der erste vor 600 Jahren geformt hat in der Sprache seiner
Zeit, in den Ausdrücken der Scholastik.
Man muß bei diesem Werke Hermann Stehrs von den see-
lischen Voraussehungen sprechen, aus denen es geboren ist, nm
zum Verständnis des eigentlich Künstlerischen zu kommen. Die
Seelcngeschichte eines Menschen, der einen Iohannes in sich birgt
und zu einem wahren Christen werden will, zu schreiben, das war
die Absicht Stehrs. Religiöse Autobiographie also, oder Legenden-
Schreibung oder richtiger eine Mischung aus religiöser Autobio-
graphie und legendarischer Erzählung ist, künstlerisch bctrachtct,
die Form dieses merkwürdigen Gottsucher-Evangeliums. Mit
ganz außerordentlichem Kunstverstand hat Stehr sein Werk auf-
gebaut und dann doch die Fülle der Sinnlichkeit darüber gebreitet,
so daß die Nähte der Komposition kaum zu bemerken sind. Die
Erzählung spielt in Westfalen, im Münsterland; der Held, Andreas
Sintlinger, ist ein wcstfälischer Hofbcsiher von altem Bauernadel
und hohem Wohlstand; Bauer also und doch vom Druck der harten
körperlichen Arbeit frei und geistigen Erlebnissen zugänglich. Jhm
gegenüber haust ein anderes altes Bauerngeschlecht, die Brind-
eisener, die lange mit den Sintlingern feind sind und sich im
Niedergange befinden. In der Umgebung dieser beiden allein
liegenden HLfe sind reiche Dörfer und ein armes Dorf, Querhofen,
wo in alten Zeiten Reste der Münsterschen Wiedertäufer ange-
siedelt worden sind. Eine ganze Welt von Menschen-Beziehungen
zueinander und untereinander, die um die beiden Fremdhöfe herum-
liegt und in die zuzeiten von ferne auch die Stimmen der großen
Welt sich mischen, etwa in den Schicksalen des Faber-Rebellen und
des Brindeisener-Sohnes, sowie in dem Kampf der Kirche gegen
die wiedertäuferischen Querhofener und ihren großen Schüher,
den Sintlinger-Bauern. In dieser bäuerlichen Welt nun spielen
die Seelengeschichte des Andreas Sintlinger und die Legenden
um das Sintlinger-Lenlein. Andreas Sintlinger, von Natur aus
ein wüster und wilder Mensch, kommt nach dem ersten Brausen
seincr überströmenden Iugend durch die Erkenntnis von der Blind-
heit und dabei Engelhaftigkeit seines Kindes zu der Cinkehr in
sich sslber und zu der Suche nach Gott. Ein geheimnisvolles Band
verbindet ihn mit seinem Kinde, das durch sein reines und klares
Wesen nicht nur den Bauern selber reinigt und läutert, sondern
auf jeden, der in seine Nähe kommt, mit einer eigenen engelhaften
Güte wirkt, so daß eine Reihe lieblichster Legenden sich um seine
Person bilden. Die Heilung einer betrübten Frau von dem Leid
um ihr verstorbenes Söhnchen ruft dann eine ganze religiöse
Bewegung in dem wiedertäuferischen Querhofen hervor, was zu
Zusammenstößcn mit der Geistlichkeit und zum Cingreifcn des
Heiligenhof-Bauern führt. Durch die Crschütterungen dieser Be-
wegung und durch die Liebe zu dem Brindeisener-Sohn wird das
Heiligenhof-Lenlein wieder sehend, und diese Anwandlung, sowie
der bald darauf erfolgcnde Tod des Mädchens nach einer leiden-
schaftlichen Liebe zum Brindeisener-Sohne erschüttert den Bauern
aufs tiefste, da er aus dem Wunder seines blinden Kindes seine
eigene Kraft zum Leben gezogen hat. Und nun kommt die lehte
Derwandlung des Bauern: der Faber-Rebell, ein Arbeiterführer
und heilandsähnlicher Mensch, mit dem der Bauer schon in der
crsten Ieit sciner Erweckung auf eigenartige Weise zusammen-
getroffeu ist und den er auch auf seinem späteren Lebenswege als
seinen ständigcn geistigen Begleiter und Gewissensfreund emp-
findet, bringt ihm die Deutung seines vielverschlungenen Lebens
und die leßte Befreiung von Jrrwahn und Sclbsttauschung, damit
zugleich die Freiheit der Seele und die Ruhe in Gott. Es ist un-
möglich, die Fülle der Geschehnisse wie der inneren Handlung, die
ganze bäuerliche Welt und ihre Erschütterung durch den Glauben
und den Kampf um die Freiheit des Herzens hier darzulegen:
ein ganzes Menschenleben — die Summe der Existenz Hermann
Stehrs — steckt in diesem Werke. Eine unerhörte Fülle des Details
an Natur- und Seelenschilderung, eine ganze Welt von Menschen,
eine ganze menschlichs Seele ist in diesem Werke vereinigt. Liebliche
Legenden und schauerliche menschliche Zusammcnbrüche, Ge-
spenster verfallener Menschen und Erweckungen genesender Mcn-
schen, Leid und Trost, Menschenuntergang und Menschenerlösung;
all das ruht in diesem mächtigen Werk eng beieinander und wird
durch die Macht der dichterischen Intuition Stehrs und durch die
Kunst einer bildkräftigen, melodischen Sprache zusammengehaltcn.
Alle Möglichkeiten der Annäherung an Gott sind in dieser Dichtung
dargestellt, soweit sie nicht geistig, sondern seelisch sind: der dumpfe
Fanatismus, der Gott herabtroßen will, der Crlösungsglaube durch
einen Mittlcr, die freie Selbsterlösung, die stille Inbrunst quie-
tistischer Mystiker. Einzig die Nöte intellektucller Menschen in
ihrem Ringen um Gott sind nicht gestaltet, denn die Episode des
Brindeisener-Sohnes ist eigentlick. nicht so recht gelungen und
wirkt irgendwie fremd in dem Ganzen. Das Erlebnis Pascals
etwa odcr des Goethischen Faust findet in dieser Welt rein
scelenhafter Mystik keinen Widerhall, wie denn das ganze Werk
die Gestaltung rein seelischer Kräfte und Kämpfe bedeutet und
ebendeshalb zur Idylle und zur Legende, zur Hymne und zur
mystischen Betrachtung neigt — und nicht zum Drama.
Das Zeichen des echten Gottsuchers ist, daß er, im Suchen,
Gott zuzeiten findet, auch wenn es ihm selber nicht bewußt wird,
und daß er in diesem Zustand der Vereinigung mit Gott Worte
findet, die nicht von dicser Welt sind, Erleuchtungen hat, in denen
ihm ein himmlisches Licht glänzt. Stehr hat solche Worte gefunden
und ein Äbglanz dieses überirdischen Lichtes ist in manchen Gleich-
nissen und Gebeten, die sich in dem Roman finden. Beim Lesen
dieser Seiten weiß man: Stehr redet nicht von Religion und über
sie — sondern er hat sie und lebt aus dem tiefen Grundc, den
er zu künden sucht. Es wird einem das ganz besonders klar, wenn
man etwa an das Hauptwerk des andercn schlesischen Dichters,
an Gerhart Hauptmanns „Cmanuel Quint" denkt. Hier ein merk-
würdiges Schwanken von Glauben und Skepsis, bei Stehr eine
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