Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 29.1919

DOI Heft:
Heft 1/2
DOI Artikel:
Bettingen, Frida: Eva und Abel
DOI Artikel:
Ziegler, Leopold: Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.26487#0049

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Zusammcnbruch de« deutschen Jdealirinu«.

Nimm alle süßen Rechte,

Deren ich mich jetzt entäußere,

Du sanftester der Engel, nimm ihn hin.

Du weißt,

Wo meine Paradiese grünen,

Wo Sterne weissagen und Sonnen knien,

Wo jeder Tag ein frischer Rosenzweig,

Jn Gottes heilgen Willen eingeschmiegt,

Wo seine schöne Welt mein treuer Spiegel,

Wo ich noch gut war
Und sein liebstes Kind,

Wo seine Berge weinten, als er mich verstieß, —

Wo meine Seele blieb, — —

O ew'ger Schlaf,-

Dahin führ ihn,-

Dahin! f829)

er Zusammenbruch

des deutschen Jdealismus.

Schon eine Weile bevor Doktor Solf das einprägsame
Wort vom europäischen Gewissen zwar nicht gefunden,
wohl aber gebraucht und in die europäische Offentlich-
keit gesprochen hatte, war in Stille und Abseitigkeit
folgendes geschehen: Eine Anzahl geistig Schaffender
nämlich, noch vor wenigen Jahren ihrem Tagwerk
in fast unbedingter Vereinzelung in allerlei Winkeln
und Verstecken Deutschlands heimlich nachgehend, geriet
unerwartet in gesellige Bewegung. Ein jeder fand sich
plötzlich in seinem Jnnersten bestimmt, mit dem andern
Fühlung zu nehmen, und ein jeder gewann auch wirklich
mit dem andern Fühlung. Schriftlich oder mündlich,
auf weite Entfernungen oder nachbarlich nah, durch
Vermittlung Dritter oder ganz unvermittelt, empfanden
sie sich gleichsam über Nacht wunderlich geeinigt in dem
vormals ungekannten Bewußtsein ein und derselben
Verantwortlichkeit. Und zwar einer Verantwortlichkeit,
die sich von jeder bisher üblichen aufs bestimmteste da-
durch unterschied, daß sie sich auf Vorgänge, Handlungen,
Taten erstreckte, die von den verantwortlich Fühlenden
selbst in keiner Weise verursacht oder veranlaßt waren,
ja ihren eigenen Neigungen und Wünschen und Lebens-
zielen entschieden wider den Strich gingen. Vielleicht
trat hier etwas ein ähnlich der physiologischen Erschei-
nung, welche man das „Vikariieren" oder das „Stell-
vertreten" von gewissen Teilen des Gehirnes nennt,
und die darin besteht, daß etwa für eine verletzte Stelle
der Rindenschicht mit der Zeit eine benachbarte Stelle
die Arbeit übernimmt. Die sich in dem neuen Bewußt-
sein von Verantwortung zusammenfanden, hatten näm-
lich bemerkt, wie einerseits die Völker als solche schlechter-
dings unverantwortlich schon ihrem Wesen nach seien
und deshalb nicht einmal in Gedanken mit irgendeiner
Verantwortlichkeit belastet werden dürften, während
anderseits die sogenannten Führer der Völker freilich
nach dem Buchstaben des Gesetzes verantwortlich waren,
aber diese ihre ungeheure Verantwortlichkeit in den
entscheidenden Fragen nirgends betätigten: sie dachten

und wirkten im günstigsten Fall für das äußerliche Ge-
deihen ihrer Völker, nicht aber dachten sie tiefer oder
wirkten sie weiter. Völker und Führer hatten entweder
einträchtig dieses verzehrende Weltfeuer geradezu ent-
fesselt, oder die letzteren hatten es im Widerspruch mit
den Völkern zum mindesten nicht verhindert. Wobei
sich die Völker wie immer und überall gar nichts dachten,
die Führer dagegen stets nur das eine: Jch hab's nicht
aufhalten können, — vielleicht daß wenigstens mein eigen
Volk dabei gewinnt . . . Und gerade dieser letztere
Gedanke war offenbar völlig unvcrantwortlich. Denn
die Verantwortlichkeit des Führers endigt keineswegs
da, wo seine zufällige Macht endigt und er aus ein-
gefleischter Schwäche ein drohendes Verhängnis zu
verhüten unterläßt. Nicht für seine Begehungen, sondern
viel mehr noch für seine Unterlassungen ist der Führer
seincm Volke haftbar — nicht nur soweit er tatsächlich
führt, sondern auch dort noch, wo er tatsächlich nicht
mehr führt, wohl aber hätte führen sollen, führen müssen.
Die Lebensfrage Europas enthüllt sich heute als die
Frage der Führung der europäischen Völker, und in
diesem Zusammenhang den neuen Begriff der Ver-
antwortlichkeit in sich heraus gearbeitet zu haben, das
ist vielleicht die eigentliche Leistung jenes abseitigen
Kreises innerlich erschütterter Menschen gewesen, deren
wir hier gedenken. Sie selber führten zu keiner Aeit
ihres Lebens, und keinerlei gesetzliche Verantwortlichkeit
hat sie je beschwert. Aber sie verzehrten sich Tag und
Nacht in dem unabweisbaren Gefühl, stellvertretend
verantwortlich zu sein für diesen Ausbruch eines teuf-
lischen Aerstörungswillens, der keine Grenzen mehr
kennt und von dem Europa vor dem Krieg nichts übrig
lasscn wird wie einen stinkenden Leichen- und Trümmer-
hügel, auf welchem ein paar elende Fledderer gierig
nach Beute wühlen. Sie konnten die über die Maßen
traurige Ahnung nicht los werden, daß dieses Europa
wegen seines Mangels an Führerverantwortlichkeit das
Geschick Griechenlands und Deutschlands nach ihren
dreißigjährigen Kriegen werde teilen müssen. Und sie
wagten in letzter Stunde eine Hoffnung auf Zukunft
nur dann zu fassen, wenn eine allernächste Aeit unter
dem Druck unsäglicher Nöte erzeugen würde, was zu
erzeugen die Vergangenheit zu faul und zu feig ge-
wesen ist.

Diese neue Art persönlicher Verantwortlichkeit, von
Haus aus unstreitig eher als religiöse wie als politische
oder moralische Tatsache zu beMrten und in diesem
Betracht möglicherweise das einzige tröstliche Ver-
sprechen der ganzen Aeit, sie hat nun unter der nicht
ganz verschwindenden Aahl ihrer Vertreter und Be-
kenner einen ihrer besten Träger in Paul Ernst gefunden.
Jn einem dieser Tage (bei Georg Müller, München)
herauskommenden Werk, „Der Ausammenbruch des deut-
schen Jdealismus" betitelt und eine Reihe von in sich
zusarnmenhängenden Untersuchungen der verschiedensten
Art umfassend, rechnet er auf seine Weise mit einer
Vergangenheit ab, die in dieser Gegenwart ihre endliche
Krönung gefunden hat. Und gewiß, kaum ein zweiter
unter den gegenwärtigen Dichtern Deutschlands dürfte
in eben dem Maße berechtet und berufen sein wie Paul
Ernst, seinem Volke in ungeschminkter Sprache die Wahr-
 
Annotationen