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Der Sieg des Marmors

«Zuerst wurde der Tempel der Diana in
Ephesus in ionischem Stil von Chersi-
phron aus Knossos und dessen Sohn Me-
tagenes begonnen, den später Demetrios,
ein Tempelsklave der Diana selbst, und
Paionios aus Ephesus vollendet haben
sollen. In Milet baute dem Apollo eben-
falls in ionischen Symmetrien der gleiche
Paionios und Daphnis aus Milet (einen
Tempel).»

Vitruv VII praef. 16 p. 161; Übersetzung
K. Fensterbusch

Das ältere Artemision fiel nach Angabe
verschiedener weiterer antiker Quellen
im Jahre 356 v. Chr. dem Brandanschlag
eines gewissen Herostrat zum Opfer, der
angeblich mit dieser Tat seinen Namen
unsterblich machen wollte. In derselben
Nacht, in der sich dies ereignete, soll
Alexander der Große geboren worden
sein. Dies ist einer der seltenen Fälle, bei
dem die historische Nachricht archäolo-
gisch verifizierbar ist, da viele der skulp-
tierten Trommeln und Kuben sowie der
Simenfries Spuren eines Brandes auf-
weisen.

Als Architekten des Jüngeren Tempels
werden Paionios, Demetrios und Cheiro-
krates genannt. Der archaische Bau, an
dem mindestens 100 Jahre gebaut worden
war, wurde wahrscheinlich anläßlich des
Kalliasfriedens (eines Friedensschlusses
zwischen Griechen und Persern) einge-
weiht. Nach der Niederschlagung des
Ionischen Aufstandes gegen die Perser zu
Anfang des 5. Jhs. v. Chr. herrschten
diese jahrzehntelang in Ionien. Mit Be-
ginn der persischen Herrschaft im 5. Jh.
v. Chr. mußte sich Ionien bis zum Anfang

des 4. Jhs. v. Chr. im strategischen Spiel
der drei Mächte Athen, Sparta und Per-
sien behaupten. Die Athener unterstütz-
ten die demokratischen Organisationen,
die Spartaner und Perser die Oligarchien,
aber diese Regel war nicht immer gültig.
Mit dem Schlagwort Autonomie, d. h.
mit der Verweigerung des Bündnisses mit
Athen, gewannen die Spartiaten in den
Städten viele Freunde aus den oberen
Schichten, wie in Ephesos, wo der Spar-
taner Lysander als König verehrt wurde.
Im 4. Jh. v. Chr. gaben der Zusammen-
bruch des athenischen Imperialismus und
die anderweitigen Probleme des Groß-
königs den ionischen Städten eine Bewe-
gungsfreiheit, die eine gewisse kulturelle
Prosperität begünstigte.

Mausolos, der Herrscher über Karien,
favorisierte die Demokratie in den ioni-
schen Städten nicht, sondern bekämpfte
Athen und unterstützte die Oligarchien.
Es scheint auch, daß vor der Eroberung
der ionischen Städte durch Alexander
den Großen die Demokratien aus den
Städten verschwunden waren und Tyran-
neien an ihre Stelle getreten sind. Einer
der Tyrannen, ein gewisser Syrphax, hat
sich mit seinen Verwandten in das Areal
des Altares geflüchtet, wo Alexander ihn
gefangennahm und steinigen ließ (Arrian,
Anabasis I 17,2).

Mit einer Reihe von künstlerischen In-
itiativen dürfte bereits vor Alexander be-
gonnen worden sein, vor allem mit dem
Tempelneubau. Man muß diese Initiati-
ven den autoritären politischen Kräften
vor der Einnahme der Stadt durch Alex-
ander zuschreiben.

Ist es möglich, daß diese Tyrannen des
4. Jhs. v. Chr. mit ihren Werken die noch
lebendige Tradition der archaischen Ty-
rannen wiedererstehen lassen wollten?
Vielleicht ist dies einer der Gründe für
die Übernahme archaischer Motive. Wie
wir gesehen haben, begünstigten Perser
und Spartaner die Autonomie der Küsten-
städte. Die Autonomie, seit dem ioni-

Abb. 61 Grundriß des archaischen Tem-
pels mit Altar. Um die Cella läuft ein doppel-
ter Säulenkranz. Sie besitzl einen tiefen Pro-
naos mit acht Säulen, einen offenen Hofund
ein Adyton, einen Raum, der nur vom Hof
aus zu begehen ist. Rekonstruktion aus dem
Jahre 1972.

Abb. 62 Grundriß des spätklassischen
Tempels. An den beiden Längsseiten und an
der Rückseite besteht der Säulenkranz aus
zwei, an der Vorderseite aus drei Säulen-
reihen. Die Frontseite weist acht, die Riick-
front neun Säulen auf. Die Ostseite der Cella
ist als Opisthodom (offene Halle) ausgebil-
det. Von der Vorhalle fiihrt eine Treppe in
den offenen Hofhinab. Der Säulenbau steht
auf einem hohen Stufensockel. Im Westen ist
der Altar mit Säulenaufbau rekonstruiert.
Im Unterschied zum archaischen Tempel
(Abb. 61)istder Tempel um eine Säulenreihe
hin nach Westen erweitert. Er hat kein Ady-
ton, sondern ein Opisthodom, steht auf
einem hohen Sockel und liegt damit etwa
2,70 m höher als der archaische Bau. Der
Gmnd fur diese Erhöhung dürfte der hohe
Wasserspiegel im 4. Jh. v. Chr. gewesen
sein. Die bei beiden Tempeln vorhandenen
Figuralsäulen sind an den Frontsäulen und
im Pronaos anzunehmen.
 
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