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ehe sie im
deren Inhalt zu fassen, und nachdem

Prosrllor M. Julius Sturm.
Nach einer Photographie gezeichnet von C. Kolb. (S. 103.)

dies endlich geschehen, brach sie in ein wahres Jammer-
geheul aus.
„Giovanna krank, Giovanna sterbend!" schluchzte sie.
„O gebenedeite Schmerzensmutter, o ihr Heiligen, habet
Erbarmen mit ihr und mit mir, Giobanna, arme liebe
Giovanna!"
„Du bist ja in vielen Jahren nicht mit ihr zusam-
mengekommen ; ich meine, Ihr hättet nicht in Eintracht
gelebt, Mutter," erlaubte sich Annunziata leise zu be-
merken.
„Das ist es ja eben!" fuhr Petronella auf. „Wenn
sie stirbt und ich habe mich nicht vorher mit ihr ver-
söhnt, schleppe ich den Vorwurf zeitlebens mit mir
herum, und alle Seelenmessen, die ich für sie lesen lasse,
helfen nichts und befreien sie nicht ans dem Fegefeuer."
„So mache Dich schnell auf und fahre nach Pisa,"
mahnte Annunziata, ebenfalls von dieser Vorstellung
erschreckt.

„Nach Pisa fahren, auf der Stelle,
als ob das so gar nichts wäre!" tobte
Petronella. „Was fällt der Giovanna
ein? Wie kann sie mir zumutheu, eine
solche Reise zu machen?"
„Wenn sie todkrank ist, kann sie doch
aber nicht zu Euch fahren, Tante!" lachte
Renzo, der hinzugckommcn war. Annun-
ziata warf ihm einen vorwurfsvollen Blick
zu. Wie durfte er wagen, in solchem
Tone zu der Mutter zu sprechen?
„Nein, nein, die Acrmste kann nicht
zu mir kommen," schluchzte Petronella.
„Wie soll ich aber zu ihr gelangen?"
„Auf der Eisenbahn," sagte Renzo.
„Du fährst ja mir ein paar Stunden,"
fügte Annunziata hinzu.
„Und Dich soll ich hier allein lassen,
Annunziata? Nimmermehr!"
„So nimm mich mit."
„Was füllt Dir ein, meinst Du, ich
hätte so viel Geld, daß wir Beide im
Lande unihcrfahrcn könnten?"
„Base Giovanna ist reich, sie wird
Euch zur Erbin einsctzcn wollen," rief
Renzo dazwischen.
„Das arme Lamm," nickte Petronella,
„sie will sich mit mir versöhnen, wer weiß,
was sie sonst noch im Sinne hat. Ich
muß hin."
„So wollen wir schnell einige Sachen
zusammcnpacken, Mutter," versetzte An-
nunziata und wollte geschäftig davoneilen.
Die Mutter hielt sic beim Arme fest.
„Ich kann Dich nicht hier allein lassen."
„So fahre ich mit."
„Nein. Das Haus darf nicht ohne
Aufsicht bleiben und die Arbeit muß fertig
werden, der Padrvne wartet darauf." Sic
deutetc auf cincn mit Stroh und Stroh-
flcchtercien bedeckten Tisch.
„Soll ich telegraphiren, daß Du nicht
kommen kannst?" fragte Annunziata.

nicht Annunziata dazu gekommen, welche den Boten
abfertigtc, die Depesche erbrach und deren Inhalt der
Mutter vorlas. Das Letztere selbst zu thun, würde
dieser auch im ruhigsten Gemüthszustande schwer genug
angckommen sein; denn sie stand mit den krausen
Lettern ans sehr gespanntem Fuß und staunte die
Tochter, die so leicht und schnell damit umzuspringen
wußte, wie ein Wunder von Gelehrsamkeit an.
Hatte das bloße Eintreffen des Telegramms schon
eine so überwältigende Wirkung auf Signora Petro-
nella ausgeübt, so raubte die Nachricht, welche es ent-
hielt, ihr den letzten Rest ihrer Fassung. Eine in Pisa
wohnende Base war schwer erkrankt, fühlte ihr letztes
Stündlein herannahen und beschwor sic, den ersten Bahn-
zug zu benutzen und zu ihr zu eilen.
Annunziata mußte der Mutter die Depesche ein
zweites rind ein drittes Mal vorlesen,
Stande war,

verloren.
R o nr a n
Von
Ludwig Kabicht.
(Fortsetzunq.)
(Nachdruck verboten.)
dwin wollte trotz der dringenden Mah-
nungcn seines Bruders noch immer nichts
von der Abreise hören.
IN* „Ich gehe nicht ans Florenz, ehe ich
' st- nicht noch einen Versuch gemacht habe,
llV Annunziata's Mutter zu erweichen."
„Du erntest von der Italienerin nur Spott und
Hohn; höre auf meine Bitten, komm mit mir nach
Rom," flehte Bernhard. Edwin blieb hartnäckig bei
seinem Nein.
Da Bernhard einsah, daß cs ihm nicht gelingen
werde, den Bruder zur gänzlichen Abreise
von Florenz zu bewegen, so drang er in
ihn, wenigstens jetzt den schon lange ge-
hegten rind geplanten Abstecher nach Pistoja,
Bologna und Ravenna zu machen. Er
hoffte, wenn er ihn nur erst auf einige
Tage aus der Arnostadt entfernt habe, werde
es weniger Schwierigkeiten machen, ihn znm
Aufgeben des schon weit über ihren ur-
sprünglichen Plan ausgedehnten Aufent-
haltes daselbst zu bestimmen. Nach langem
Zögern und Widerreden willigte Edwin
endlich in den Vorschlag des Bruders, und
Bernhard ging sogleich aus, um Vorbe-
reitungen für den beabsichtigten Ausflug
zu treffen.
Am anderen Morgen verließen die
Brüder mit dem ersten Zuge Florenz und
begaben sich zunächst nach Pistoja.
10.
Signora Petronella lief händeringend
und heftig gestikulircnd in ihrem Wohn-
zimmer auf und ab; es hatte sich etwas
ganz Unerhörtes für sie begeben. Ein Bote
des Telegraphenamtes hatte ihr eine De-
pesche überbracht; dieser Vorfall war schon
an und für sich geeignet, die gute Frau
in die heftigste Aufregung zu versetzeu,
denn so lange sic lebte, war ihr das noch
nicht geschehen. Es war schon ein Ereig-
nis;, wenn sich einmal ein Brief in ihr
Häuschen verirrte, und nun gar ein Te-
legramm ! — Das konnte nicht mir rechten
Dingen zugehcn, das mußte den Untergang
der Welt oder etwas dem Aehnliches be-
deuten.
Sie zitterte so, daß sie dem Boten we-
der das blaue Eouvert abnehmen, noch
daS Bestellgeld einznhändigen vermochte,
und es würde sich höchst wahrscheinlich cinc
heftige Scene zwischen ihr und dem un-
geduldigen Beamten entwickelt haben, wäre
 
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