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IN. Heinrich »rirdderg, Igl. vrrnr. Jinti,Minister.
Nach einer Phologrnsthic gezeichnet von C. Kolb. (S. L7t.)

Vs ist langst Nacht und ohne Plan und Ziel eilt
Annunziata die Straße hinunter. Sie ist unbekannt
in Rom, sie weiß nicht, wohin der Weg, den sie ein-
geschlagen, führt, weiß nicht, zu wem sie ihre Zuflucht
nehmen soll. — Fort, fort! . . . das ist ihr einziger
Gedanke, ob ihre Flucht sie all den Rand eines Ab-
grundes führt, ob in ein schäumendes Gewässer, das
sie erbarmungslos in seinen Strudel reißt, das ist ihr
Alles gleich, nur fort, fort!
Der Mangel an Orkskenntniß wird dem armen
Kinde zum Verderben. Sic läuft eine Straße hinunter,
biegt in eine Seitenstraße, gewinnt wieder eine andere
Straße und erkennt zu ihrem Entsetzen, daß sie sich im
Kreise herumgedreht hat. Der kleine Vorsprung, den
sie gewonnen, ist ihr wieder verloren gegangen und sie
lauft — Petronella gerade in die Arme.
Mit einem lauten Trinmphgeschrei streckt die Alte
die Hand aus, nm sie festznhattcn; aber Annunziata
entwindet sich ihr mit aalartiger Behendigkeit. Das
schwarze Tuch, das sie um sich geschlungen,
bleibt in den Händen ihrer Verfolgerin, die
betroffen einen Moment still steht und sich
dann zum weiteren Nachsehen anfrasft.
Straße ans, Straße ab, durch kleine
und große Gäßchen, über Brücken und Plätze
geht die tolle Jagd. Tie leichtfüßige Annun-
ziata gewinnt wohl einen Vorsprung vor
ihrer Verfolgerin, aber ihr Helles Kleid
läßt sie in denn leuchtenden Mondschein der-
selben immer ans eine weite Strecke sichtbar
bleiben. Verliert Petronella die Fliehende
ja einmal aus den Angen, so kommt sie
ihr bei einer Biegung des Weges wieder zu
Gesicht.
Annunziata muß fürchten, daß sich die
Zahl ihrer Verfolger vermehrt; wer sollte
einer Mutter nicht Beistand leisten, die bittet,
ihr zur Wiedererlangung ihrer entlaufenen
Tochter behilflich zu sein? Daß Petronella
bis seht noch Niemand aufgernfen, konnte
nur ihrer eigenen Verwirrung znznschreiben
sein. Vielleicht kam auch Jemand des Weges,
der unaufgefordert Hand an die Fliehende
legte. Bis jetzt wichen die wenigen Fuß-
gänger, die ihr in den menschenleeren Straßen
begegneten, der Weißen Gestalt, die sic für
eine gespenstische Erscheinung halten mochten,
ängstlich ans. Aber die Augenblicke der Frei-
heit waren gezahlt — was dann — was dann?
Atheinlos, halb von Sinnen, erreichte
das gehetzte Kind die Porta di Riza Grande.
Dort stand ein Reisewagen, und ohne zu
bedenken waS sie that, nur der augenblick-
lichen Eingebung folgend, sprang sie hinein.
Der Anblick des alten Herrn, "der an den
Schlag trat und sich ihr als den Besitzer
des Wagens knndgab, erweckte neue Hoff-
nungen in Annunziata s Brust. Vielleicht
hatte ihr die heilige Jungfrau einen Retter
gesandt. Wenn er sie mitnahm, wenn er
den Wagen davonfahren ließ, ehe Petronella,

lassen und die Treppe hinabgehen. Gewiß gab Pe-
tronella ihm noch eine Strecke weit das Geleite und
sprach mit ihm über die Mittel, das Widerstreben
Annunziata's zu brechen. — Plötzlich kam dieser ein
Gedanke! — Vielleicht ließ die Alte einen Augenblick
die Thüre offen, da sie doch gewiß nicht weit mitging,
vielleicht war eine Flucht aus diesem Elend möglich!
Schnell wie der Gedanke und leicht wie ein Wind-
hauch schlüpft sie aus dem Zimmer.
Sie fliegt den Gang hinunter, erreicht die Treppe,
den Hausflur, die Hausthüre. Sie legt die Hand auf
den. Drücker und stößt einen Seufzer der freudigsten
Ueberraschnng ans. Die Thür ist nicht verschlossen,
sie öffnet sich. Annunziata befindet sich im Freien...
Einen Augenblick steht sie still und athmet in
langen Zügen die balsamische Luft, die sie so lange
entbehrt; im nächsten fliegt sie schon wie ein gescheuchtes
Reh von dannen, denn nicht lange wird es dauern, so
kehrt Petronella zurück und wird ihre Flucht entdecken.

Verlöre n.
R o m a n
Volk
-Ludwig Ka Vicht.
(Fortsetzung.) , ,
(Nachdruck »erboten.)
nnunziata, Annunziata!" rief Renzo lei-
denschaftlich und wollte ans sie zustürzcn.
Abwehrend streckte sie ihm die Hände ent-
gegen und sah ihn mit einem so hoheits-
vollen Blick an, daß er unwillkürlich einen
Schritt zurllckwich.
„Rühre mich nicht an!" gebot sie.
„Annunziata, Annunziata," flehte er, „habe Er-
barmen; ich liebe Dich ja so grenzenlos."
„Wenn Du mich liebst, wie kannst Du mich so
Peinigen lassen?" fragte sie bitter.
„Weil ich Dich nicht lassen kann, weil ich Dich be-
sitzen muß, um jeden Preis."
„Nie, nie/ sagte sie schaudernd.
„Du mußt mein werden, Du mußt!"
schrie er wild, riß sie in seine Arme und
preßte sie an sich, als wolle er sie ersticken.
Der Abscheu gab dem zarten Mädchen Riesen-
kräfte. Sie stieß den Burschen von sich,
daß er ein Stück fortflog.
„Besudle mich nicht mit Deinen Lieb-
kosungen, ich dulde sie nicht!" rief sie be-
bend vor Zorn. „Ihr könnt mich einsperren,
Ihr könnt mich verhungern, verschmachten
lassen, Ihr könnt mich martern wie Ihr
wollt, nie sollt Ihr es dahin bringen, daß
Du mit meinem Willen nur die Spitze meines
kleinen Fingers berührst."
„So geschieht es ohne Deinen Willen,
mein Püppchen!" schrie Renzo, den Zorn
nnd verschmähte Liebe in eine Art von
Raserei versetzten. „Mein wirst Du, wenn
nicht mit Güte, so mit Gewalt, das hat mir
die Tante zugeschworen!"
Er schüttelte drohend die Faust.
Auch Petronella gerieth jetzt in Wnth,
daß das Mädchen ihren Liebling so schnöde
zurnckwies; sie überschüttete Annunziata mit
einer Fluth von Schimpsworten, schlug sie
endlich sogar und zerrte sie an den Haaren,
bis das arme Kind laut weinend ans seinem
Bette niedersank.
Das schien Rcnzo's Herz zu rühren, er
ergriff den Arm der Alten nnd führte sie
halb mit Gewalt aus dem Gemach. In dem
anstoßenden Wohnzimmer hörte Annunziata
Beide noch lange und leise mit einander
reden, endlich öffnete sich abermals die Thüre
nnd Petronella erschien auf der Schwelle.
Das Mädchen stellte sich schlafend in der
Hoffnung, so am besten weiteren Erörterungen
entzogen zu bleiben, nnd richtig, die Alte
ging wieder zurück nnd gleich darauf hörte
Annunziata sie nnd Renzo das Zimmer ver-
 
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