Lstft !1.
Das Buch für Alle.
255
rar, unter ihnen mich Nolund, nachdem seine geistvolle Fran,
die berühmte Madame Noland, welche man wohl den „Genins
der Gironde" genannt hat, am 10. November 1793 unter
der Guillotine geendet hatte. — Das war das Ende der Gi-
ronde, deren Mitglieder während ihrer politischen Lansbahn
häufig gesehlt haben, die denn Tode aber mit einer solchen
Hoheit und Seelengröhe entgegengingen, daß ihr Andenken
dadurch für alle Zeiten mit einen, Schimmer poetischer Ver-
klärung umgeben erscheint.
Das neue Theater in Genf.
(Siehe das Bild auf S. 258.)
gestiftet worden; siir die Damen bestand der erste Preis ans
einer goldenen mit einen, kostbaren Diamant besetzten Me-
daille, der zweite ans einen, Eibcuholzbogen zum L-chießen
im Werthe von 100 Dollars. Das Schießen selbst gewährte
siir die Zuschauer, welche sich sehr zahlreich eingesnndeu Hutten,
hus unterhaltendste und uninuthigste Schauspiel, die Da-
men waren beinahe insgesamt»! in Weiß gekleidet nud wußten
beim Schießen so viel Anmnth und Koketterie zu entfalten,
dah man ihrem Treiben nut dein lebhaftesten Interesse folgte,
um so mehr, als die Zahl der Treffer bei ihnen vergleichs-
weise höher war als auf den Scheiben der Männer. Der
Bweck, diesen Zeitvertreib ans die höchste Stufe der Popn-
larität zu heben, wurde denn auch anscheinend ans den,
Schützenfeste zu Chicago in, vollsten Maße erreicht.
Ter Kanton Genf ist ei, e der kleinsten, aber wohlhabend-
sten Republiken der schweizerischen Eidgenossenschaft, er um-
faßt einen Flächenruum von nur 5 ft- geographischen Quadrat-
meilen mit 94,000 Einwohnern, von denen mehr als die
Hätfte auf die herrlich gelegene Stadt Genf allein fallen, die
von jeher durch den Reichthnm und die feine Bildung ihrer
Bewohner sich ausgezeichnet Hut. Die Stadt hat durch die
großartigen Stiftungen und Schenknngen ihrer Bürger bereits
eine Menge der prächtigsten öffentlichen Bauten und Samm-
lungen von Kunstwerken erhallen, nud erst vor wenigen
Jahren Has bedeutende Vermögen des Ex-HerzogS Karl von
Braunschweig geerbt, welchem sie in Folge einer von ihn,
selbst testamentarisch sestgestellten Bedingung ein prachtvolles
Denkmal uns den, Quai du Montblanc errichtet hat, das wir
in Heft 8 dieses Jahrganges in Bild und Wort unseren
Lesern vorgcführt haben. Aus den reichen Fonds dieser Erb-
schaft Hut die Stadt nun auch ein neues Theater gebaut,
welches nm 2. Oktober 1879 mit Rossini's Oper „Wilhelm
Teil" cingcweiht worden ist und von welchen, wir ans L>. 256
eine Ansicht geben. Dieses Theater an der Place nenvc ist nächst
der Großen Oper in Puris und dem Wiener Opernhaus eines
der schönsten und größten in ganz Europa und nach den Ent-
würfen des Genser Architekten Goß ganz in jenen, modernen
französischen Rennisjancestyle erbaut, welchen Garnier bei der
von ihm entworfenen neuen Großen Oper in Puris mit vielen,
Erfolge nngewcndct Hut. Auch im Aenßeren hat daS Genfer
Theater einige Aehnlichkeit mit den, Pariser Prachtbau, und man
rühmt nicht nur seine schönen architektonischen Verhüttnisse, son-
dern auch seinczweckmüßige Einrichtung. Die drei Eingangsthü-
ren führen in eine weile Halle, welche links mit dem Zugang
für die zu Wagen ko,„inenden Besucher in Verbindung steht,
während rechts ein sehr schönes Kaffeehaus eingerichtet ist
und in, Fonds sich die Kassen und die Zugänge zu den, eigent-
lichen Vestibüle und den Treppen befinden. Der Zuschauer-
raum ist weit und sehr zweckmäßig eingetheilt, in Hellchnmois
und Gold gemalt und Sitze wie Brüstungen mit rothem Sam-
met uusgeschlagen. Die Decke ziert ein Gemälde von Brisset,
den Trinuiphzng Apollos darstellend; in den Bogenrnndnn-
gen sind 15 Medaillons mit den Porträts berühmter fran-
zösischer Säuger nud Schauspieler beider Geschlechter ans
diesem Jahrhundert angebracht; der an drei starken Draht-
tunen hängende geschmackvolle Kronleuchter spendet ans 400
Flammen ein ebenso angenehmes wie lebhaftes und genügen-
des Licht. Das ulte Theater, 1784 erbaut, war dadnrcb
merkwürdig, daß der durch seinen Antrag ans Eröffnung des
Prozesses gegen Ludwig XVI., sowie auf Todesstrafe für die
-Emigranten berüchtigte Collot-d'Herbois als Direktor uugestellt
genzcjen war.
Das ameriluunsche Uationnl-Sogkilschnhenfest in
Chicago.
(Siche das Bild auf Seile 256.)
Unter den Vergnügungen oder Sports, welche körperliche
Fertigkeiten und Uebungcn verlangen und daher von den,
seine angelsächsische Abstammung nie verlengnenden Nord-
Amerikaner ganz besonders gepflegt werden, nimmt das ans
England nach Amerika verpflanzte und dort so sehr beliebte
und außerordentlich populär gewordene Bogenschüßen eine
hervorragende Stelle ein, und es gibt in den Vereinigten
Staaten wohl kann, noch ein Städtchen mehr ohne einen
Archerp-Clnb, eine Bogenschützen-Gesellschaft, die nicht von
Zeit zu Zeit große Scheibenschießen und Prüniienbewerbungen
veranstaltete. Auch die Damenwelt, namentlich die jüngere,
hat diesem nationalen Zeitvertreib großen Geschmack abge-
wonnen und übt das Bogenschießen mit Leidenschaft, und von
einen, gebildeten jungen Manne erwartet man von vorn-
herein, daß er ebenso gut sein Ziel mit dein Vogen treffe
als ein Donbtü ans dem Billard mache. Um nun diesen,
Sport einen noch höheren Ausschwung zu geben und ihn, zn
einen, allgemeinen, großartigen Ausdruck zn verhelfen, sind
die bedeniendsten Bogenschützen der Vereinigten Staaten zn-
jammengetreten, nm die „National-Archery-Association" (den
nationalen Bogenschützen!»,nd) zn gründen und die Abhaltung
eines großen Landesschicßens zu veranstalten, welches denn
auch in den Lagen des 12. bis 14. August 1879 unter un-
geheurem Zulauf in Chicago abgehallen worden ist und von
welchen, unser Bild ans S. 256 eine Darstellung gibt. Die
Schießbahn war in Whitcrstocking Park, wo die Scheiben in
zwei Reihen, von denen die näher dem Schützenstande befind-
liche sür Damen, die weiter entfernte für Herren bestimmt, gner
über den Rasenplan ausgestellt waren; neben jeder Scheibe be-
fand sich ein grüner Schntzschirm für den Zeiger. Die Scheiben
der Herren standen ans eine Entfernung von 100, diejenigen
der Damen aus eine solche von 40 Pards vom Schießstand;
jeder Schütze hatte 72, jede Dame 48 Pfeile zn verschießen, und
zwar in,mer je drei Pfeile hinter einander, und die höchste
Summe der geschossenen Kreise diente zur Entscheidung über die
Preise. Die Linie der Ausstellung sür die Schützen war bezeichnet
durch die schwarzen Tafeln mit den Notizen Wer die Treffer
und durch die Rechen für die Bogen und Köcher der Schützen.
Die Preise, meist in Geld bestehend, waren von den Bogen-
jchützen-Gesellschasten der verschiedenen Staaten und Städte
Der Krieg Englands gegen Afghanistan.
XIV.
(Tiehe das Bild auf Seite 2-57.)
Einen sehr wichtigen Stützpunkt für die englische Macht
in Afghanistan, der namentlich bei den, jüngsten Vormarsche
des Generals Roberts ans die Hauptstadt Kabul von Werth
ivnr, bildet die von, Generallicutenant Sir Donald Stewart
besetzt gehaltene volkreiche und große Stadt Kandahar,
von welcher wir ans Seite 257 eine Ansicht geben. In,
Vordergründe unseres Bildes befindet sich das Lager der ans
zwei englischen und vier eingeborenen Infanterieregimenten,,
mehreren Batterien Feldartillerie und drei Kavallerieregi-
mentern bestehenden brittischci, Besatznngstrnppen. In dein
nach der Seile der Stadt zn unmittelbar daranstoßenden,
von einer Maner umgebenen Parke hat General Stewart
sein Hauptquartier anfgejchlngen, und in, Hintergründe zieht
sich die von einer mit Thürinen versehenen Mauer umgebene
Stadt hin. Kandahar zählt gegen 50,000 Einwohner und
liegt an der wichtigen, nordwestlich nach Herat und nord-
östlich nach Kabul führenden Straße in einer fruchtbaren und
wohlbebauten Ebene an, linken llfer des sich in den Hilmend
ergießenden Urghund-Flnsses. In, Südosten führt der Bo-
län-Paß zn dieser Stadt, die meist von Angehörigen der
intelligenten und betriebsamen Durani-Stämine bewohnt ist
nud für,Handel und Industrie den wichtigsten Centrnlpunkt
Afghanistans bildet. Das bedeutendste Gebäude im Innern
ist das links auf unseren. Bilde hervorragende Mausoleum
Ahmed Schah's, welches den Eingeborenen sür so heilig gilt,
daß selbst kein Verbrecher, der in demselben Zuflucht sticht,
ergriffen werden darf. — Als afghanischer Gouverneur fnn-
girt in Kandahar unter dem Oberbefehle des Generals Stewart
ein Verwandter und Namensvetter des in, Februar 1879
verstorbenen Beherrschers von Afghanistan, Schir Ali Khan,
welcher als den Engländern freundlich gesinnt gilt, weshalb
auch wohl bisher noch keinerlei Unruhen oder Anfstnnds-
verfuche dort vorgekommen sind.
Tewsik Pnfcha, Dtzekönig von Egypten.
(Siche das Porträt auf S. 26V.)
Tewsik oder — wie man es in Egypten ansspricht —
Tansik Pascha, Khcdive oder Vizekönig von Egypten, ist
durch den Ferman des Sultans von, 25. Juni 1879 anser-
fehen worden, dis Würde seines abgesetztcn Vaters Ismail
Pascha als Herrscher von Egypten zn übernehmen. Tewsik
Pascha, nun siebcnundzwanzig Jahre alt, ist der älteste Sohn
des früheren Vizekönigs Ismail Pascha, über dessen Absetzung
und jetzigen Aufenthalt zn Neapel wir in Heft 6 dieses Jahr-
ganges berichtet haben, und der einzige von seinen Brüdern,
welcher nicht zu seiner Ausbildung nach Europa geschickt wor-
den ist, während die anderen Söhne Jsma'il's je mehrere
Jahre in Paris und London, Prinz Hassan auch in Berlin,
zngebracht und früher schon europäische Lehrer gehabt haben.
Tewsik Pascha dagegen erbielt eine sorgfältige mohammeda-
nische Erziehung durch gelehrte Moslims und nur diejenigen
Lehrer, welche ihn im Französischen, Italienischen und Eng-
lischen zn unterrichten hatten, waren Christen und Europäer.
So ist Tewsik ein guter Muselmann geblieben, aber fern von
jedem starren Fanatismus, hat dadurch die guten und löb-
lichen Eigenschaften seines Charakters bewahrt und ist der
Gefahr entgangen, dieselben gegen den leichten Firniß einer
sonst bei den vornehmen Orientalen üblichen abendländischen
Halbbildung zn vertauschen oder nur die Laster und
Schattenseiten der Civilisation kennen zn lernen. Er ist
vor Allem der gewöhnlichen Harcinswirthschast und leeren
Prunkliebe der Orientalen abgeneigt und begnügte sich bis-
her mit einer einzigen Gattin, einer angeblich hochgebildeten
Fran, der Prinzessin Eininch, Tochter des verstorbenen
Prinzen El Hamy Pascha, mit der er seit den, Januar
1873 vermählt ist und drei Kinder hat, die Prinzen Abbas
Bey (geb. 1874) und Mehemct Ali Bey (geb. 1876),
sowie die Prinzessin Nazleh Hanen, (geb. 1877). Die Ehe
Tewsik Pascha's soll eine sehr glückliche sein, und der junge
Herrscher erfreut sich in Egypten einer hohen Achtung wegen
seines eifrigen und fron,,,,en Wandels innerhalb der Lehren
des Propheten. Gleich seinen Brüdern war auch Tewsik mit
einen, egyptischen Minister-Portefeuille betraut gewesen, und
zwar Jahre lang mit den, wichtigsten, den, Ministerium des
Innern. Tewfit mag sich dabei mannigfache Kenntnisse in der
egyptischen Verwaltung gesammelt haben und man rühmt ihm
große Einsicht und den besten Willen nach. Seine Regierung hat
er damit begonnen, daß er eine Civilliste von nur 1,800,000
Mark (gegen 10'/- Millionen, die sein Vater erhielt) ver-
langte, keine kostspielige Haremsnnrthschast nnterhäl, und den
Willen knndgab, die Armee ans 12,000 Mann zn verringern.
Ueberhanpt soll der neue Herrscher des Pharaonenlandes die
besten Intentionen hegen — ob es ihm in dem so zerrütteten
Lande und bei der Schwierigkeit der dortigen Verhältnisse
gelingen wird, dieselben dnrchzuführen, kann erst die Zukunft
lehren.
S p a t e n r c ch t.
Von
(eh. -'NitNN. (Nachdruck verboten.)
„Dc nich will dykea, mot wyken."
(Der nicht will deichen, mni, weichen.)
Alles RechtSwort.
a NUN die Deichrichter diesen Deich gerecht
vertheilt haben, sv gebiete ich, der Deich-
gräfe, allen Denjenigen, welchen dieser neue
Deich auf ihren. Erbe obliegt, daß sic dcu-
selbigcn fortan erblich deichen sollen. Und
lege ihn ans ihr Erbe nnd auf ihr Gut
nnd spreche die Landschaft, welche diesen
Deich gedeicht hat, davon frei."
Also sprach mit weithin tönender Stimme von der
Kappe des Eckwarder Deiches in der Landschaft But-
jadingen*) herab der Generaldcichgräfe des vldenburger
Landes, Herr Anton Günther v. MUnuich. Denn wie-
der einmal inan schrieb das Jahr des Heils 1692
war eine Strecke Deiches, mit der man hoffte, sich
der tobenden Nordsee zu erwehren, vollendet worden.
Zum eigentlichen Bau des Erdwalles, als zu einer
„außerordentlichen Dcichlast", hatten auch die benach-
barten Aemter nnd Bogteien beitragen müssen; der Ge-
meinde Eckwarden aber, deren Gemarkung er vor der
See zu schützen bestimmt war, lag eS von nun an allein
ob, für seine Instandhaltung Sorge zu tragen. Der
Deichgrüfe, nachdem er demnach die übrigen Kontribuen-
ten ihrer Pflicht los nnd ledig gesprochen, „rächte eine
kleine Panse, ehe er in bewegtem Tone fortfnhr: „So
lasset nun uns Alle, die wir hier versammelt sind, den
allmächtigen Gott bitten, daß er seinen Segen geben
wolle zu unserem Werk, auf daß dies Land gnädiglich
behütet bleibe vor ferneren Einbrüchen der wilden See.
Denn es heißet wohl mit Recht, ,Er herrschet über das
ungestüme Meer und stillet seine Wellen, wenn sie sich
erheben/ Darum sei auch mit uns, Herr, nach Deiner
Gnade und Treue!"
Die Dcichrichtcr uud Deichgcschworencn der Gemeinde,
die ihren Vorgesetzten im Kreise umstanden und wäh-
rend seiner letzten Worte den Hut abgezogen hatten,
sagten Amen, nnd auch aus der Menge, die sich am
Fuß des Deiches versammelt hatte, nm Zeuge der feier-
lichen „Abnahme" des Werkes zn sein, hallte das Amen
wieder. Aber die Gesichter Aller, ohne Ausnahme,
waren tiefernst, nnd Einer nnd der Andere wandte sich
ab, nm die Thronen zn verbergen, die ihm über die
Wangen rollten. Denn die Zeiten waren schwer nnd
schlimm wie noch nie. Der Deich mochte ja schützen
gegen die See — man wollte es zu Gott hoffen!
aber den Wohlstand des Landes fraß die ungeheure
Deichlast auf nnd allüberall erhob Armuth nnd Noch
ihr bleiches Haupt.
Der treffliche Mann, der die Erbauung des neuen
Bollwerkes wider den Erbfeind dieser ganzen Nordsee-
küste geplant nnd geleitet hatte, verstand nur zn wohl,
sich den Ausdruck der Gesichter zn deuten. Wußte doch
Niemand besser als er, welche Unsummen an Geld und
Arbeitskräften diese scheinbar so kunstlosen Bauten ver-
schlangen. Es war, als wolle er noch ein Wort, viel-
leicht eines der Vertröstung auf bessere Zeiten, hiuzu-
fügen. Allein gerade in diesem Augenblick trug der
Abendwind vom Dorfe Eckwarden die Töne der großen
Betglocke, die nur au den Vorabenden von Sann- uud
Festtagen angeschlagen ward, herüber. Münnich horchte
nach der Richtung, von welcher die Töne kamen. „Es
ist Allerheiligen morgen!" sagte einer der Deichgcschwo-
rencn zur Erklärung.
„Allerheiligen!" wiederholte der Oberdeichgräfe in
eigenthümlich wchmüthigem Tone. „Jawohl, wir haben
Ursache, des Tages zu gedenken!"
Es war nicht der Festtag der katholischen Kirche,
der hier eingetäntct ward; die vtdenburgischcn Marsch-
lande bekannten sich schon seit länger als anderthalb
hundert Jahren zur Lehre Luthers, mithin siel iu ihucu
die Feier der ausschließlich katholischen Festtage fort.
Am.Vorabend von Allerheiligen jedoch ertönten in alten
Dörfern an der ganzen Seeküste die Glocken zur mah-
neuden Erinnerung au das furchtbare Unglück, das schon
zu wiederholten Malen-gerade dieser Tag den gesamm-
ten Küstenländern an der Nordsee gebracht. Nicht blvS
in den Chronikenbüchern standen sie verzeichnet, die ent-
setzlichen Allerheitigcnslnthen von 1140 und 1570, die
Erzählungen von dem haarsträubenden Elend, das sie
gebracht, lebte fort von Geschlecht zu Geschlecht, **) uud
fast jedes Kind in den oldenburgischen Marschen wußte
davon zu berichten, daß der Allerheiligeutag des Jahres
1570 allein im Butjadiugerlande viertausend -Menschen
das Leben gekostet habe. —
TaS Batjadingerland (wörtlich: drangen vor der Jade („baten
dc Ja'") dcr To» liegt aas der zweite» Silbe) ist der halbinselsvrmig
zwischen Wcscrmiindnng and Jadebasea vorspringende Thcil des oldca-
barger Landes.
Noch im Jahre 1820, also 25N Jahre nach dcr zaletzt gedachte»
Flnth (1610) gab cs Familie», ia deaca die Berichte voa diesem cnt-
ietzlichca Natnrcrcignihe sich darch sortgesctztc Traditio» lcb-adig er-
halten hatten
Das Buch für Alle.
255
rar, unter ihnen mich Nolund, nachdem seine geistvolle Fran,
die berühmte Madame Noland, welche man wohl den „Genins
der Gironde" genannt hat, am 10. November 1793 unter
der Guillotine geendet hatte. — Das war das Ende der Gi-
ronde, deren Mitglieder während ihrer politischen Lansbahn
häufig gesehlt haben, die denn Tode aber mit einer solchen
Hoheit und Seelengröhe entgegengingen, daß ihr Andenken
dadurch für alle Zeiten mit einen, Schimmer poetischer Ver-
klärung umgeben erscheint.
Das neue Theater in Genf.
(Siehe das Bild auf S. 258.)
gestiftet worden; siir die Damen bestand der erste Preis ans
einer goldenen mit einen, kostbaren Diamant besetzten Me-
daille, der zweite ans einen, Eibcuholzbogen zum L-chießen
im Werthe von 100 Dollars. Das Schießen selbst gewährte
siir die Zuschauer, welche sich sehr zahlreich eingesnndeu Hutten,
hus unterhaltendste und uninuthigste Schauspiel, die Da-
men waren beinahe insgesamt»! in Weiß gekleidet nud wußten
beim Schießen so viel Anmnth und Koketterie zu entfalten,
dah man ihrem Treiben nut dein lebhaftesten Interesse folgte,
um so mehr, als die Zahl der Treffer bei ihnen vergleichs-
weise höher war als auf den Scheiben der Männer. Der
Bweck, diesen Zeitvertreib ans die höchste Stufe der Popn-
larität zu heben, wurde denn auch anscheinend ans den,
Schützenfeste zu Chicago in, vollsten Maße erreicht.
Ter Kanton Genf ist ei, e der kleinsten, aber wohlhabend-
sten Republiken der schweizerischen Eidgenossenschaft, er um-
faßt einen Flächenruum von nur 5 ft- geographischen Quadrat-
meilen mit 94,000 Einwohnern, von denen mehr als die
Hätfte auf die herrlich gelegene Stadt Genf allein fallen, die
von jeher durch den Reichthnm und die feine Bildung ihrer
Bewohner sich ausgezeichnet Hut. Die Stadt hat durch die
großartigen Stiftungen und Schenknngen ihrer Bürger bereits
eine Menge der prächtigsten öffentlichen Bauten und Samm-
lungen von Kunstwerken erhallen, nud erst vor wenigen
Jahren Has bedeutende Vermögen des Ex-HerzogS Karl von
Braunschweig geerbt, welchem sie in Folge einer von ihn,
selbst testamentarisch sestgestellten Bedingung ein prachtvolles
Denkmal uns den, Quai du Montblanc errichtet hat, das wir
in Heft 8 dieses Jahrganges in Bild und Wort unseren
Lesern vorgcführt haben. Aus den reichen Fonds dieser Erb-
schaft Hut die Stadt nun auch ein neues Theater gebaut,
welches nm 2. Oktober 1879 mit Rossini's Oper „Wilhelm
Teil" cingcweiht worden ist und von welchen, wir ans L>. 256
eine Ansicht geben. Dieses Theater an der Place nenvc ist nächst
der Großen Oper in Puris und dem Wiener Opernhaus eines
der schönsten und größten in ganz Europa und nach den Ent-
würfen des Genser Architekten Goß ganz in jenen, modernen
französischen Rennisjancestyle erbaut, welchen Garnier bei der
von ihm entworfenen neuen Großen Oper in Puris mit vielen,
Erfolge nngewcndct Hut. Auch im Aenßeren hat daS Genfer
Theater einige Aehnlichkeit mit den, Pariser Prachtbau, und man
rühmt nicht nur seine schönen architektonischen Verhüttnisse, son-
dern auch seinczweckmüßige Einrichtung. Die drei Eingangsthü-
ren führen in eine weile Halle, welche links mit dem Zugang
für die zu Wagen ko,„inenden Besucher in Verbindung steht,
während rechts ein sehr schönes Kaffeehaus eingerichtet ist
und in, Fonds sich die Kassen und die Zugänge zu den, eigent-
lichen Vestibüle und den Treppen befinden. Der Zuschauer-
raum ist weit und sehr zweckmäßig eingetheilt, in Hellchnmois
und Gold gemalt und Sitze wie Brüstungen mit rothem Sam-
met uusgeschlagen. Die Decke ziert ein Gemälde von Brisset,
den Trinuiphzng Apollos darstellend; in den Bogenrnndnn-
gen sind 15 Medaillons mit den Porträts berühmter fran-
zösischer Säuger nud Schauspieler beider Geschlechter ans
diesem Jahrhundert angebracht; der an drei starken Draht-
tunen hängende geschmackvolle Kronleuchter spendet ans 400
Flammen ein ebenso angenehmes wie lebhaftes und genügen-
des Licht. Das ulte Theater, 1784 erbaut, war dadnrcb
merkwürdig, daß der durch seinen Antrag ans Eröffnung des
Prozesses gegen Ludwig XVI., sowie auf Todesstrafe für die
-Emigranten berüchtigte Collot-d'Herbois als Direktor uugestellt
genzcjen war.
Das ameriluunsche Uationnl-Sogkilschnhenfest in
Chicago.
(Siche das Bild auf Seile 256.)
Unter den Vergnügungen oder Sports, welche körperliche
Fertigkeiten und Uebungcn verlangen und daher von den,
seine angelsächsische Abstammung nie verlengnenden Nord-
Amerikaner ganz besonders gepflegt werden, nimmt das ans
England nach Amerika verpflanzte und dort so sehr beliebte
und außerordentlich populär gewordene Bogenschüßen eine
hervorragende Stelle ein, und es gibt in den Vereinigten
Staaten wohl kann, noch ein Städtchen mehr ohne einen
Archerp-Clnb, eine Bogenschützen-Gesellschaft, die nicht von
Zeit zu Zeit große Scheibenschießen und Prüniienbewerbungen
veranstaltete. Auch die Damenwelt, namentlich die jüngere,
hat diesem nationalen Zeitvertreib großen Geschmack abge-
wonnen und übt das Bogenschießen mit Leidenschaft, und von
einen, gebildeten jungen Manne erwartet man von vorn-
herein, daß er ebenso gut sein Ziel mit dein Vogen treffe
als ein Donbtü ans dem Billard mache. Um nun diesen,
Sport einen noch höheren Ausschwung zu geben und ihn, zn
einen, allgemeinen, großartigen Ausdruck zn verhelfen, sind
die bedeniendsten Bogenschützen der Vereinigten Staaten zn-
jammengetreten, nm die „National-Archery-Association" (den
nationalen Bogenschützen!»,nd) zn gründen und die Abhaltung
eines großen Landesschicßens zu veranstalten, welches denn
auch in den Lagen des 12. bis 14. August 1879 unter un-
geheurem Zulauf in Chicago abgehallen worden ist und von
welchen, unser Bild ans S. 256 eine Darstellung gibt. Die
Schießbahn war in Whitcrstocking Park, wo die Scheiben in
zwei Reihen, von denen die näher dem Schützenstande befind-
liche sür Damen, die weiter entfernte für Herren bestimmt, gner
über den Rasenplan ausgestellt waren; neben jeder Scheibe be-
fand sich ein grüner Schntzschirm für den Zeiger. Die Scheiben
der Herren standen ans eine Entfernung von 100, diejenigen
der Damen aus eine solche von 40 Pards vom Schießstand;
jeder Schütze hatte 72, jede Dame 48 Pfeile zn verschießen, und
zwar in,mer je drei Pfeile hinter einander, und die höchste
Summe der geschossenen Kreise diente zur Entscheidung über die
Preise. Die Linie der Ausstellung sür die Schützen war bezeichnet
durch die schwarzen Tafeln mit den Notizen Wer die Treffer
und durch die Rechen für die Bogen und Köcher der Schützen.
Die Preise, meist in Geld bestehend, waren von den Bogen-
jchützen-Gesellschasten der verschiedenen Staaten und Städte
Der Krieg Englands gegen Afghanistan.
XIV.
(Tiehe das Bild auf Seite 2-57.)
Einen sehr wichtigen Stützpunkt für die englische Macht
in Afghanistan, der namentlich bei den, jüngsten Vormarsche
des Generals Roberts ans die Hauptstadt Kabul von Werth
ivnr, bildet die von, Generallicutenant Sir Donald Stewart
besetzt gehaltene volkreiche und große Stadt Kandahar,
von welcher wir ans Seite 257 eine Ansicht geben. In,
Vordergründe unseres Bildes befindet sich das Lager der ans
zwei englischen und vier eingeborenen Infanterieregimenten,,
mehreren Batterien Feldartillerie und drei Kavallerieregi-
mentern bestehenden brittischci, Besatznngstrnppen. In dein
nach der Seile der Stadt zn unmittelbar daranstoßenden,
von einer Maner umgebenen Parke hat General Stewart
sein Hauptquartier anfgejchlngen, und in, Hintergründe zieht
sich die von einer mit Thürinen versehenen Mauer umgebene
Stadt hin. Kandahar zählt gegen 50,000 Einwohner und
liegt an der wichtigen, nordwestlich nach Herat und nord-
östlich nach Kabul führenden Straße in einer fruchtbaren und
wohlbebauten Ebene an, linken llfer des sich in den Hilmend
ergießenden Urghund-Flnsses. In, Südosten führt der Bo-
län-Paß zn dieser Stadt, die meist von Angehörigen der
intelligenten und betriebsamen Durani-Stämine bewohnt ist
nud für,Handel und Industrie den wichtigsten Centrnlpunkt
Afghanistans bildet. Das bedeutendste Gebäude im Innern
ist das links auf unseren. Bilde hervorragende Mausoleum
Ahmed Schah's, welches den Eingeborenen sür so heilig gilt,
daß selbst kein Verbrecher, der in demselben Zuflucht sticht,
ergriffen werden darf. — Als afghanischer Gouverneur fnn-
girt in Kandahar unter dem Oberbefehle des Generals Stewart
ein Verwandter und Namensvetter des in, Februar 1879
verstorbenen Beherrschers von Afghanistan, Schir Ali Khan,
welcher als den Engländern freundlich gesinnt gilt, weshalb
auch wohl bisher noch keinerlei Unruhen oder Anfstnnds-
verfuche dort vorgekommen sind.
Tewsik Pnfcha, Dtzekönig von Egypten.
(Siche das Porträt auf S. 26V.)
Tewsik oder — wie man es in Egypten ansspricht —
Tansik Pascha, Khcdive oder Vizekönig von Egypten, ist
durch den Ferman des Sultans von, 25. Juni 1879 anser-
fehen worden, dis Würde seines abgesetztcn Vaters Ismail
Pascha als Herrscher von Egypten zn übernehmen. Tewsik
Pascha, nun siebcnundzwanzig Jahre alt, ist der älteste Sohn
des früheren Vizekönigs Ismail Pascha, über dessen Absetzung
und jetzigen Aufenthalt zn Neapel wir in Heft 6 dieses Jahr-
ganges berichtet haben, und der einzige von seinen Brüdern,
welcher nicht zu seiner Ausbildung nach Europa geschickt wor-
den ist, während die anderen Söhne Jsma'il's je mehrere
Jahre in Paris und London, Prinz Hassan auch in Berlin,
zngebracht und früher schon europäische Lehrer gehabt haben.
Tewsik Pascha dagegen erbielt eine sorgfältige mohammeda-
nische Erziehung durch gelehrte Moslims und nur diejenigen
Lehrer, welche ihn im Französischen, Italienischen und Eng-
lischen zn unterrichten hatten, waren Christen und Europäer.
So ist Tewsik ein guter Muselmann geblieben, aber fern von
jedem starren Fanatismus, hat dadurch die guten und löb-
lichen Eigenschaften seines Charakters bewahrt und ist der
Gefahr entgangen, dieselben gegen den leichten Firniß einer
sonst bei den vornehmen Orientalen üblichen abendländischen
Halbbildung zn vertauschen oder nur die Laster und
Schattenseiten der Civilisation kennen zn lernen. Er ist
vor Allem der gewöhnlichen Harcinswirthschast und leeren
Prunkliebe der Orientalen abgeneigt und begnügte sich bis-
her mit einer einzigen Gattin, einer angeblich hochgebildeten
Fran, der Prinzessin Eininch, Tochter des verstorbenen
Prinzen El Hamy Pascha, mit der er seit den, Januar
1873 vermählt ist und drei Kinder hat, die Prinzen Abbas
Bey (geb. 1874) und Mehemct Ali Bey (geb. 1876),
sowie die Prinzessin Nazleh Hanen, (geb. 1877). Die Ehe
Tewsik Pascha's soll eine sehr glückliche sein, und der junge
Herrscher erfreut sich in Egypten einer hohen Achtung wegen
seines eifrigen und fron,,,,en Wandels innerhalb der Lehren
des Propheten. Gleich seinen Brüdern war auch Tewsik mit
einen, egyptischen Minister-Portefeuille betraut gewesen, und
zwar Jahre lang mit den, wichtigsten, den, Ministerium des
Innern. Tewfit mag sich dabei mannigfache Kenntnisse in der
egyptischen Verwaltung gesammelt haben und man rühmt ihm
große Einsicht und den besten Willen nach. Seine Regierung hat
er damit begonnen, daß er eine Civilliste von nur 1,800,000
Mark (gegen 10'/- Millionen, die sein Vater erhielt) ver-
langte, keine kostspielige Haremsnnrthschast nnterhäl, und den
Willen knndgab, die Armee ans 12,000 Mann zn verringern.
Ueberhanpt soll der neue Herrscher des Pharaonenlandes die
besten Intentionen hegen — ob es ihm in dem so zerrütteten
Lande und bei der Schwierigkeit der dortigen Verhältnisse
gelingen wird, dieselben dnrchzuführen, kann erst die Zukunft
lehren.
S p a t e n r c ch t.
Von
(eh. -'NitNN. (Nachdruck verboten.)
„Dc nich will dykea, mot wyken."
(Der nicht will deichen, mni, weichen.)
Alles RechtSwort.
a NUN die Deichrichter diesen Deich gerecht
vertheilt haben, sv gebiete ich, der Deich-
gräfe, allen Denjenigen, welchen dieser neue
Deich auf ihren. Erbe obliegt, daß sic dcu-
selbigcn fortan erblich deichen sollen. Und
lege ihn ans ihr Erbe nnd auf ihr Gut
nnd spreche die Landschaft, welche diesen
Deich gedeicht hat, davon frei."
Also sprach mit weithin tönender Stimme von der
Kappe des Eckwarder Deiches in der Landschaft But-
jadingen*) herab der Generaldcichgräfe des vldenburger
Landes, Herr Anton Günther v. MUnuich. Denn wie-
der einmal inan schrieb das Jahr des Heils 1692
war eine Strecke Deiches, mit der man hoffte, sich
der tobenden Nordsee zu erwehren, vollendet worden.
Zum eigentlichen Bau des Erdwalles, als zu einer
„außerordentlichen Dcichlast", hatten auch die benach-
barten Aemter nnd Bogteien beitragen müssen; der Ge-
meinde Eckwarden aber, deren Gemarkung er vor der
See zu schützen bestimmt war, lag eS von nun an allein
ob, für seine Instandhaltung Sorge zu tragen. Der
Deichgrüfe, nachdem er demnach die übrigen Kontribuen-
ten ihrer Pflicht los nnd ledig gesprochen, „rächte eine
kleine Panse, ehe er in bewegtem Tone fortfnhr: „So
lasset nun uns Alle, die wir hier versammelt sind, den
allmächtigen Gott bitten, daß er seinen Segen geben
wolle zu unserem Werk, auf daß dies Land gnädiglich
behütet bleibe vor ferneren Einbrüchen der wilden See.
Denn es heißet wohl mit Recht, ,Er herrschet über das
ungestüme Meer und stillet seine Wellen, wenn sie sich
erheben/ Darum sei auch mit uns, Herr, nach Deiner
Gnade und Treue!"
Die Dcichrichtcr uud Deichgcschworencn der Gemeinde,
die ihren Vorgesetzten im Kreise umstanden und wäh-
rend seiner letzten Worte den Hut abgezogen hatten,
sagten Amen, nnd auch aus der Menge, die sich am
Fuß des Deiches versammelt hatte, nm Zeuge der feier-
lichen „Abnahme" des Werkes zn sein, hallte das Amen
wieder. Aber die Gesichter Aller, ohne Ausnahme,
waren tiefernst, nnd Einer nnd der Andere wandte sich
ab, nm die Thronen zn verbergen, die ihm über die
Wangen rollten. Denn die Zeiten waren schwer nnd
schlimm wie noch nie. Der Deich mochte ja schützen
gegen die See — man wollte es zu Gott hoffen!
aber den Wohlstand des Landes fraß die ungeheure
Deichlast auf nnd allüberall erhob Armuth nnd Noch
ihr bleiches Haupt.
Der treffliche Mann, der die Erbauung des neuen
Bollwerkes wider den Erbfeind dieser ganzen Nordsee-
küste geplant nnd geleitet hatte, verstand nur zn wohl,
sich den Ausdruck der Gesichter zn deuten. Wußte doch
Niemand besser als er, welche Unsummen an Geld und
Arbeitskräften diese scheinbar so kunstlosen Bauten ver-
schlangen. Es war, als wolle er noch ein Wort, viel-
leicht eines der Vertröstung auf bessere Zeiten, hiuzu-
fügen. Allein gerade in diesem Augenblick trug der
Abendwind vom Dorfe Eckwarden die Töne der großen
Betglocke, die nur au den Vorabenden von Sann- uud
Festtagen angeschlagen ward, herüber. Münnich horchte
nach der Richtung, von welcher die Töne kamen. „Es
ist Allerheiligen morgen!" sagte einer der Deichgcschwo-
rencn zur Erklärung.
„Allerheiligen!" wiederholte der Oberdeichgräfe in
eigenthümlich wchmüthigem Tone. „Jawohl, wir haben
Ursache, des Tages zu gedenken!"
Es war nicht der Festtag der katholischen Kirche,
der hier eingetäntct ward; die vtdenburgischcn Marsch-
lande bekannten sich schon seit länger als anderthalb
hundert Jahren zur Lehre Luthers, mithin siel iu ihucu
die Feier der ausschließlich katholischen Festtage fort.
Am.Vorabend von Allerheiligen jedoch ertönten in alten
Dörfern an der ganzen Seeküste die Glocken zur mah-
neuden Erinnerung au das furchtbare Unglück, das schon
zu wiederholten Malen-gerade dieser Tag den gesamm-
ten Küstenländern an der Nordsee gebracht. Nicht blvS
in den Chronikenbüchern standen sie verzeichnet, die ent-
setzlichen Allerheitigcnslnthen von 1140 und 1570, die
Erzählungen von dem haarsträubenden Elend, das sie
gebracht, lebte fort von Geschlecht zu Geschlecht, **) uud
fast jedes Kind in den oldenburgischen Marschen wußte
davon zu berichten, daß der Allerheiligeutag des Jahres
1570 allein im Butjadiugerlande viertausend -Menschen
das Leben gekostet habe. —
TaS Batjadingerland (wörtlich: drangen vor der Jade („baten
dc Ja'") dcr To» liegt aas der zweite» Silbe) ist der halbinselsvrmig
zwischen Wcscrmiindnng and Jadebasea vorspringende Thcil des oldca-
barger Landes.
Noch im Jahre 1820, also 25N Jahre nach dcr zaletzt gedachte»
Flnth (1610) gab cs Familie», ia deaca die Berichte voa diesem cnt-
ietzlichca Natnrcrcignihe sich darch sortgesctztc Traditio» lcb-adig er-
halten hatten