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Wilhelm Jorlnm. Noch eimr Photographie g-zcichne« von C. Kolb. (S. 28 l.)

denen eine verbrecherische Hand sie entführt, anch die ihr
geraubte Muttersprache wiederzugeben. Das junge Mäd-
chen hatte sich die fremden schweren Laute mit über-
raschender Leichtigkeit angeeignct; es schien weniger ein
Lernen zu sein als ein Anffrischcn und Erinnern einer
Sprache, die sic längst besessen, die aber wie vergraben
und verschüttet in ihrem Gcdüchtniß geruht hatte. Kaum
nach Hause zurückgckehrt, begann der Regierungsrath
einen zwar nicht streng schnlgemäßen, aber dvch mehr
regelrechten Unterricht mit seiner Tochter. Er selbst
wollte ihr Lehrer sein, keinem Anderen wollte er das
Glück gönnen, ihren Geist sich entfalten zu sehen, und
er fand in dicserBesehäftigung einen reichen, hohen Genuß.
Magda lernte und begriff nicht nur wunderbar schnell,
sie verstand auch zu denken und zu kombiniren, und sie
hatte einen Lehrer, der sie den Weg, den sie unbewußt
einschlng, mit sicherer Hand weiterznführcn wußte.

Kerl o r e u.
R o m a n
von
T n d n> i g K a l> i ch t.
lFortsrhung.)
(Nachdruck verboten.)
er RegiernngSrath v. Haidhausen strich
seiner Tochter liebkosend über das blonde
Haar.
„Der alte Goethe hat eS sich wohl
schwerlich träumen lassen, daß sein .Her-
mann und Dorothea' als deutsches Lese-
buch für den Elementarunterricht benutzt werden könnte,"
sagte er scherzend. „Aber komm, mein Kind, ehe wir
uns in die poetischen Studien vertiefen, möchte ich erst
ganz prosaisch den Bedürfnissen deS MagcnS Genüge
leisten. Das Frühstück ist hoffentlich
servirt."
Vater nnd Tochter gingen Arm in
zllrm anH^die Terrasse, wo der Früh-
ftüMtMs gedeckt war nnd der leise sum-
mende Ton der Kaffeemaschine verkündete,
daß der duftende Trank der Genießenden
harre. Magda bediente den Vater in
aninuthigster Weise. Der Regicrnngsrath
folgte jeder ihrer Bewegungen mit den
Augen und ans seinen Blicken leuchtete
dabei das freudigste Behagen nnd eine
tiefinnerliche Befriedigung. Wer sein Ge-
sicht vor etlichen Monaten gesehen und
dessen damaligen Ausdruck mit dem heu-
tigen verglich, dem mußte es sein als sähe
er_eine Landschaft, die er an einem grauen,
nebelfeuchten Novembertagc besucht, im
Glanze eines schönen Frühlingsabends
wieder.
Während Magda die Tassen füllte,
dem Vater das Weißbrod mit Butter
strich, ihm bald die frischen Eier, bald
den Honig oder das kalte Fleisch reichte
nnd selbst dem Frühstück zusprach, stockte
die Unterhaltung zwischen Beiden nicht eine
Minute. Sie hatten einander so viel zu
sagen, es waren ja viele Jahre nachzu-
holen, in denen der Vater der Liebe des
Kindes, das Kind der Zärtlichkeit des
Vaters entbehrt hatte. Einen besonderen
Reiz erhielt das Gespräch dadurch, daß
es in zwei Sprachen geführt ward und
zuweilen in einem Satze zweimal ans
einer in die andere Sprache übersprang.
Es war eigentlich Gesetz, daß nur deutsch
gesprochen werden sollte, jedoch schien
dieses Gesetz das Schicksal manches an-
deren zu theilen: es war nur gegeben, nm
gebrochen oder umgangen zu werden. Von
dein Augenblicke an, wo Haidhausen mit
seiner Tochter deutschen Boden betreten,
hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, ihr
mit dem Vaterlande und dem Vaterhanse,

Gewiegte Pädagogen würden zu Haidhausen's Me-
thode vielleicht bedenklich den Kopf geschüttelt und sehr
zweifelhafte Resultate vorausgesagt'haben. Glücklicher
Weise war Niemand in der Nähe, der sein Urtheil ab-
geben konntez denn Haidhausen hatte sich mit seinem
wiedcrgefnndenen Kinde ans den Landsitz des verstor-
benen Barons v. Eisenberg zurückgezogen! er Hütte sich
aber anch durch kein schulmeisterliches Achselzucken nnd
bedenkliches Fingererheben inr Mindesten beunruhigen
lassen. Er ließ seine Magda an Koethe's ,-,Hermann
nnd Dorothea" lesen lernen, „denn," sagte er, „wer
mit der Sprache Dante's nnd Tasso's groß geworden
ist, dem kann ich, nm ihm das Deutsche lieb zu machen,
von Anfang an keinen Geringeren bieten als Goethe.
Hoffentlich ist dadurch dem Mädchen der Geschmack an
unserer modernen süßlich sensationellen Literatur für
alle Zeiten verdorben, nnd ich habe nicht das Herze-
leid, mnsikalische und silvanische nnd geo-
logische nnd was weis; ich noch alles 'für
Märchen in Goldschnitt und Duodezformat
auf allen Tischen nmhcrliegen zu sehen."
Trotz aller Leichtigkeit, mit welcher
Magda sich in die veränderte Hingebung
nnd Lebensweise fand, konnte es nicht
fehlen, daß ihr Vieles fremd nnd unge-
wohnt erschien, der Ilebergang war doch
gar zu Plötzlich nnd unvermittelt gewesen.
So überraschende Fortschritte sie in der
deutschen Sprache machte, fehlte ihr bei
der Unterhaltung doch häufig der richtige
Ausdruck für ihren Gedanken, sie griff
dann unwillkürlich nach dein entsprechen-
den italienischen Worte, nnd Haidhausen
wehrte ihr nicht. Er erkannte, daß man
einen Menschen ebenso wenig ohne jeden
Uebergang in ein ungewohntes Erdreich
versetzen kann wie eine Pflanze.
Auch an diesem Morgen machte Magda
wieder sehr umfangreiche italienische An-
leihen, wie der RegiernngSrath cs zu
nennen liebte. Er erhob endlich scherzend
den Finger nnd sagte:
„Wir werden schleunig die Terrasse ver-
lassen müssen; hier unter den Myrten-,
Drangen- nnd Lorbeerbäumen glaubst Du
Dich in Italien, komm, laß uns in den
Park gehen i"
Sie stand auf, hing sich an seinen Arm
nnd sagte, während sie an den Statuen
vorüberschritt, die im Garten und Park
zwischen dem Grün hervorschimmerten:
„Und Marmorbilder steh'n nnd seh'n
mich an!"
„Ebenfalls Erinnerungen an Italien!"
rief der RegiernngSrath. „Ich könnte
Deinem Großvater beinahe zürnen, daß
er das Gedächtnis; an das Land, wo die
Eitronen blühen, hier gar zu lebendig
gemacht hat. Ich aber werde mich hüten,
Dich wieder ein Gedicht zn lehren, wenn
Du Mignon's Klage so gegen mich ans-
 
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