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sich am fernen Horizont nur noch als schwarze Linien
auszeichnen.
Ja — gerade hier muß es gewesen sein: angesichts
des Schornsteinfclsens und so weit von ihm entfernt,
daß er wie ein in der Prairie ausgestellter Pfahl er-
scheint; gerade hier und angesichts des Plateaurestes,
der iu seinen äußeren Formen in der That an ein mäch-
tiges Rathhaus erinnert. Ja, gerade hier und zu der-
selben Jahreszeit.
Als der Donner der Kanonen bei Fort Suuiter den
furchtbaren Bürgerkrieg gleichsam eiuläutete und seinen
Widerhall in den ersten Schlachten auf weit von ein-
ander liegenden Schauplätzen fand, da glaubte Mancher,
welchen die Besorguiß um die Seinigen von der dem
Treiben wilder Guerilla- und Rüuberschaaren ausge-
setzten heimathlicheu Scholle forttrieb, den Folgen des
alle Verhältnisse erschütternden Ringens dadurch zu
entgehen, daß er die abgesondert liegenden Staaten aui
Stillen Occan aufsuchte. Was ihm von seiner Habe
geblieben, was er rechtzeitig geborgen hatte oder irgend
noch flüssig machen konnte, verwendete er zur Aus-
rüstung, um zunächst auf den bden westlichen Gras-
fluren Sicherheit zu finden, dann aber sich allmühlig
nach Kalifornien durchzuarbeiten. Mochten seine zurück-
gelassenen Aecker zerstampft, sein Gehöft verwüstet wer-
den: die Seinigen sah er wohlbehalten um sich, cs
begleiteten ihn Pferde und Rinder, welche sein fliegen-
des Heim vervollständigten.
Einzeln, je nachdem cs ihnen gelang, vom bedrohten
Missouri fort zu schlüpfen, waren die kleinen Karawanen
aufgebrochcn, um sich später zu gemeinsamem Schutz
gegen die Angriffe feindlicher Eingeborener oder ge-
wissermaßen aus dem Erdboden wachsender Räuber-
banden zu vereinigen. Und wie lange dauerte diese
ans Zeit geschlossene Kameradschaft? Wie lange dauerten
Zusammenhörigkeit und Freundschaft? Nicht länger,
als Kräfte und Büttel das Beieinandcrbleiben gestatteten,
dieses nicht durch Opfer erkauft werden mußte. Denn
nach Westen stand der Sinn eines Jeden, krankhaft
zog es Alle über Ebenen, durch Gebirgszüge und Wüsten,
da ein Tag Zeitverlust vielleicht über das Leben der
ganzen Gesellschaft entschied.
Wo Ermattung der Zngthicre, wo Krankheit oder
gar ein Sterbcfall zur Unterbrechung der Reise zwang,
da begleiteten wohl Trostcsworte das Versprechen, auf
geeigneter Stätte die Nachzügler zu erwarten: im Grunde
aber wurde Alles beherrscht durch das Gefühl, daß
Jeder sich selbst der Nächste. Aus den Augen, aus
dem Sinn; wer zurückblicb, mochte sehen, wie er von
dannen kam. Ging er zu Grunde, weinte Niemand
ihm eine Thrüne nach; besser der Einzelne, als eine
ganze Genossenschaft. — —
Die Sonne neigte sich den Scott-Blnfss zn. Ge-
rötheten Antlitzes, wie ermüdet, betrachtete sie die sich
östlich erstreckende Ebene. Mit zauberischen Reflexen
schmückte sie die Ränder der abgesondert stehenden Fcls-
thürme. Die sich träge senkenden Sommerfüdcn zeugten
dafür, daß die atmosphärischen Strömungen vollständig
entschlummerten. Hier und da weidete Wohl noch eine
Gruppe Büffel und trieben zierlich gebaute Antilopen
ihr munteres Spiel, allein diese Bewegungen ver-
schwanden inmitten der gewaltigen starren Einöde.
Aehnlich verhielt es sich mit einem vcrhältnißmäßig
leichten Reisewagcn auf dem Ufer des Nordarmes,
dessen Weißes Lcinwandverdcck weithin leuchtete, mit
zwei Pferden, die in dessen Nähe grasten, und endlich
mit einer schmalen Rauchsäule, die einige Schritte ab-
wärts einer kleinen Feucrstelle entquoll und steil in
die regungslose Atmosphäre emporsticg.
Von dem Scitcnbrctt des Wagens aus war ein
Stück Segeltuch zeltartig mittelst Pflocken und Schnüren
auf dem Erdboden befestigt worden. Alles, was zur
Bequemlichkeit in dem Wagen mitgeführt worden, hatte
zur Herstellung eines Lagers unterhalb dieses noth-
dürftigen Schutzdaches gedient. Wollene Decken bildeten
dessen Hauptbcstandtheile; ein weiches Pfühl lag zn
Hänptcn, gewiß ein für dortige Verhältnisse üppiges
Bett; aber wie unzureichend erschien es, wenn man
Diejenige betrachtete, für welche es mit so viel Bedacht
und treuer Sorgfalt geordnet worden war.
Eine junge Frau lag auf demselben. Durch die
obere Decke hindurch ließen sich nothdürftig die Formen
einer schlanken Gestalt erkennen. Die bis zu den
Ellenbogen hinauf sichtbaren Weißen Arme waren von
erschreckender Hagerkeit und zeugten von unheilbarem
Siechthum. Der eine ruhte auf der Decke; den anderen
hatte sie nm ein neben ihr schlummerndes Kind von
höchstens einem Jahr geschlungen. Dieselbe Hagerkeit
trat in dem Antlitz der jungen Dulderin zu Tage, nur
daß hier der Eindruck durch eine gewisse Engelsschön-
heit gemildert wurde und das einzige Gefühl schmerz-
licher Theilnahme wachricf. Obwohl durch atmosphä-
rische Einflüsse etwas gebräunt, hatte die Haut sich
eine außerordentliche Zartheit bewahrt. Zn deren
beinah durchsichtig bleicher Farbe, die auf Stirn und
Schläfen in blau geiidcrtes Marmorweiß überging, kon-
trastirle unheimlich die scharf begrenzte Röthe der ein-
Das Buch für Alle.
gefallenen Wangen. Müde, entsprechend dem Leidens-
zug, welcher sich nm die farblosen Lippen tief ausgeprägt
hatte, blickten die großen dunkelblauen Augen. Das
erhöht ruhende Haupt war unbedeckt. In langen, licht-
blonden Wellen floß das aufgelöste seidenweiche Haar
über das Pfühl und die Schultern bis weit über die
Decken hin.
Die arme junge Frau war offenbar in trauriges
Nachdenken versunken. Ausdruckslos, gleichsam mecha-
nisch schweiften ihre Blicke im Kreise. Bald überflogen
sie die in ihrer Nähe stehenden Blechgefässe, welche
dürftige Erfrischungen für sie und das Kind enthielten,
bald die beiden kräftigen, wenn auch hageren Pferde,
oder die in ihrem Gesichtskreise befindlichen Büffel-
heerden, um immer wieder nut einem rührenden Aus-
druck inniger Herzensgüte zu dem vor dem Feuer be-
schäftigten jungen Manne zurückzukehren. Dieser, fast
noch ein Knabe, jedoch für das Alter von siebenzehn
Jahren ungewöhnlich hoch und kräftig gewachsen, über-
wachte einen Kessel, in welchem siedendes Wasser
rm einige ausgesuchte Stücke Büffelfleisch hermn-
brodelte, rind einen anderen Behälter, der zur Be-
reitung des Thee's diente, Beides zur Nahrung für
die Kranke bestimmt; ferner eine Pfanne mit einem
Vorrath in Fett zischenden Fleisches für seinen eige-
nen Bedarf. Seine einfachen abgetragenen Kleidungs-
stücke erzählten von langer beschwerlicher Reise und
anstrengender Arbeit. Dagegen brauchte man nur
einen Blick auf sein braun gelocktes Haupt, auf das
noch jugendwciche sonnverbrannte Antlitz oder in die
ruhigen blauen Augen zu werfen, um ihn nicht in
einen Rang mit gewöhnlichen Knechten und Viehtreibern
zu stellen. Rege beschäftigt, fand er doch Zeit, immer
wieder zu der jungen Frau und deren Kind hinüber
zu spähen; dann offenbarte sich in seinen Zügen ein
Ausdruck, als hätte er in lautes Klagen und Jammern
ausbrcchen mögen.
Eine Weile war in Schweigen verstrichen, als er,
aufschaucnd, einem traurigen Blick der jungen Frau
begegnete.
„Edith," sprach er ermuthigend hinüber, „es ist
jetzt so weit, daß Du etwas genießen kannst. Fleisch-
brühe und Thec sind fertig."
„Ich möchte warten," antwortete eine sanfte, matte
Stimme. „Ich fühle noch kein rechtes Bedürfnis;,
außerdem schläft die Kleine so sanft, ich würde sie
wecken. Schiebe die Gefässe so weit von der Gluth
zurück, daß der Inhalt abkühlt, jedoch nicht ganz er-
kaltet.^ Nachher will ich mit Thusnelda gemeinschaft-
lich essen. Aber Du selber — laß Dich dadurch nicht
hindern —"
„Ich verspüre keinen Hunger," fiel der junge Mann
beinah rauh ein, und etwas regsamer ordnete er zwischen
den Gefässen.
„Ich kenne Dich, Gregor," versetzte Edith Melville
dringlich, „es widerstrebt Dir, allein zu essen, und doch
gewährt es mir Freude, Dich bei einer kräftigen Mahl-
zeit zu beobachten."
„Ich wiederholt," bekräftigte Gregor erzwungen
sorglos, „ich verspüre nichts weniger als Hunger." Er
saun einige Sekunden nach, und mit der unverkenn-
baren Absicht, die arme Dulderin dadurch zu ermun-
tern, erzählte er in beinahe fröhlichem Tone: „Ein
Glück, daß ich das Thier erlegte. Die frische Fleisch-
brühe ist geradezu Arznei für Dich. Wir haben über-
haupt vorläufig keine Noth zu befürchten, und lange
kann es nicht dauern, bis Jessie und Jones uns Hilfe
schicken."
Durch einen Blick auf Edith überzeugte er sich,
daß sie seinen Worten mit freundlicher Theilnahme
lauschte, und ohne Säumen fuhr er lebhaft fort:
„Hättest nur sehen sollen, wie die junge Kuh sich über-
schlug, als ich ihr auf sechzig Ellen die Kugel iu's
Auge schoß. Schade d'rum, daß wir uns mit den
Wölfen in das Fleisch theilen müssen. Ich werde in-
dessen für mehr sorgen. Jst's doch eine Lust, hier
herum zu jagen. Wenn eine Heerde das Strombett
kreuzt, brauche ich mich nur in den Hinterhalt zu
legen, um das beste Stück auszusuchen. Wärest Du
erst wieder ganz gesund, möchte ich nie eine feinere Zeit
erleben."
Ein schmerzliches Lächeln belebte flüchtig das zarte
Antlitz der Leidenden.
„Ich und gesund!" seufzte sie; „aber ein Glück,
daß Du den Muth nicht verlierst. Durch Dein Bei-
spiel fühle auch ich mich crmuthigt, seit einigen Stun-
den sogar körperlich erleichtert. Oder fiel Dir nicht
auf, daß ich kaum noch huste? Und es kann ja nicht
Gottes Wille sein, daß wir hier in der endlosen Wild-
niß zu Grunde gehen."
„Unsinn," versetzte Gregor achselzuckend, sah aber
in eine andere Richtung, „so lange uns die Pferde, der
Wagen und meine Büchse bleiben, gibt es keine Ge-
fahr; und der Tag kommt ebenfalls, au welchem das
Fahren Dir keine Qual mehr bereitet. Ob die Hilfe
etwas früher oder später eintrifst, fällt daher nicht in's
Gewicht."
„Du meinst wirklich, daß Jessie und Jones nur
Ljtst 3-
davon gingen, um die Leute auf dem Fort für uns in
Bewegung zu setzen?" fragte Edith ungläubig.
„Warum sollten sie nicht? Ans alle Fälle kehren
sic nicht zurück, bevor sie Beistand gefunden haben,"
tröstete Gregor, und wiederum kehrte er sein Antlitz
ab, um die auf demselben wirkende Besorgnis; zu ver-
heimlichen. Denn unter dem Schlitze der Nacht und
ohne sich zu verabschieden hatten die beiden Dienstboten
sich auf den Pferden entfernt, unzweifelhaft, um eine'
voraus geeilte Karawane eiuzuholen und sich derselben
anzuschließen.
Nach einer Pause hob die junge Frau wieder an:
„Gregor, sehe Dich zu mir. Ich möchte mit Dir reden.
Bleibst Du dort, so bin ich gezwungen, meine Stimme
zu sehr anzustrengen; und ich muß mich schonen, ob-
wohl ich mich heute freier fühle als seit Wochen."
Gregor erhob sich schnell, und dein Ruf Folge
leistend, streckte er sich so hin, daß sein Oberkörper
unter das Zeltdach reichte, sein Kopf sich also beinah
neben dem Haupte Edith's befand.
„Also Wohler fühlst Du Dich," begann er fast zu
heiter für den Ausdruck der Wahrheit, „nun ja, Dn
wirst die eigentliche Krankheit überstanden haben, so
daß Du nur noch Kräfte zu sammeln brauchst. Deine
Stimme klingt wirklich freier, rind in der That, Du
hustest kaum noch."
„Gott sei Dank, Gregor, wer weiß, ich werde es
dennoch überstehen. Ich wollte ja so dankbar sein,
wenn ich mit dem Kinde nur noch die ersten Ansiede-
Umgen erreichte. Aber gerade weil ich mich heute auf-
fällig besser befinde, möchte ich ein ernstes Wort mit
Dir sprechen. Bisher brachte ich cs nicht über's Herz,
die Möglichkeit zu erwähnen, daß mein armes kleines
Töchterchen auch mutterlos werden könnte, nachdem cs
bereits den Pater verlor —"
„Nenne ihn nicht," fiel Gregor bitter ein, „er ist
zwar mein naher Verwandter und Dein Mann; seit-
dem er sich aber gegen Dich verhärtete und versündigte,
unschuldige Menschen vor der Rachsucht der
Rebellen zu bewahren suchtest, spreche ich seinen Namen
nur noch mit Widerwillen auS."
„lirtheile nicht so streng über ihn," versetzte EdVO
klagend, „bedenke, er war abwesend, außerdem den
Einflüssen seines Vaters und zahlreicher Verwandten
ausgesetzt, namentlich dem der unbarmherzigen Tante
Sarah."
„Das war ich ebenfalls," erwiederte Gregor heftig,
„aber gerade, weil man mich gewaltsam in die Reihen
der Rebellen drängen wollte, haßte ich die Secession
doppelt. Mein Haß wuchs, als Marianne sich von
dem getreuen Stoctou trennte — wer Hütte das jemals
geglaubt und mit seinen Todfeinden Hand in Hand
ging. Meine Erbitterung erreichte ihren Gisstet, als
man Dich zur Verrätherin stempelte, weil Du die
Pflichten der Nächstenliebe erfülltest. Mit Allen ver-
feindet, entfloh ich, um Deinen Spuren zu folgen.
Mein letztes Wort war ein Fluch gegen die Taute
Sarah. Mögen sie mich suchen, wo sie wollen; nach
der Plantage kehre ich nimmermehr zurück. Von uiir
hören sollen sie erst, wenn ich mir einen gefürchteten
Namen gemacht oder mein Ende auf einem Schlacht-
felde gefunden habe. Zuvor aber gehöre ich noch Dir.
Ich habe mich Dir zugcsellt, um die von den Mel-
villes au Dir begangenen Verbrechen zu sühnen; aber
auch weil Du mein Liebling gewesen bist, seitdem ich
Dich kenne. Nein, Edith, nie vergeß ich, daß Du von
Anfang an zu mir standest, den verwaisten Knaben
freundlich beriethest, wenn Andere mich tadelten, mir
meinen freien Willen nicht gönnten. Einen Pferde-
knecht nannten sie mich, weil ich mit den unbändigsten
Gäulen über Stock und Stein jagte, einen entarteten
Melville, und doch war der Eolouel meines Vaters
leiblicher Vetter. Jetzt bin ich ein freier Amerikaner und
bahne mir meinen Weg ohne fremde Hilfe dürch's
Leben. Du aber und die kleine Thusnelda hier, Ihr
sollt keine Noth leiden, so lange ich noch ein Glied zu
rühren vermag, darauf magst Du bauen und alle Deine
Sorgen von Dir abstrcifeu."
Während Gregor mit einem Gemisch von Haß und
Begeisterung sprach, betrachtete Edith ihn mit ängst-
licher Spannung. Dann reichte sie ihm die Hand und
liebreich hob sie an: „Deine Anhänglichkeit wird Dir
noch einmal reich gesegnet werden, und hörst Du cs
gern, lieber Gregor, so gestehe ich, daß Deine Freund-
schaft und Dein Schutz mir lieber sind, als Hütten
hundert Andere sich zu meinem Beistand um mich ge-
scharrt. Und welchen Verlaß bieten mir Andere?
Diejenigen, denen wir uns am Missouri anschlossen,
waren froh, uns der langsameren Reise wegen endlich
abschüttelu zu können, und die beiden Dienstleute, die
gegen vorausbezahlten Lohn sich verpflichteten, bei uns
auszuharren — ich würde mich mehr wundern, kehrten
sie mit den Pferden zurück, als wenn wir sie nie
wiedersäheu. Ich bin es zu sehr gewohnt, von allen
Seiten hintergangen, bedrängt und verstoßen zu werden."
Sie seufzte schmerzlich und fügte leise hinzu: „Mein armes
Kind; wie es sanft schläft, ahnungslos, daß ein böses
Verhängniß über unseren Häuptern schwebt."
sich am fernen Horizont nur noch als schwarze Linien
auszeichnen.
Ja — gerade hier muß es gewesen sein: angesichts
des Schornsteinfclsens und so weit von ihm entfernt,
daß er wie ein in der Prairie ausgestellter Pfahl er-
scheint; gerade hier und angesichts des Plateaurestes,
der iu seinen äußeren Formen in der That an ein mäch-
tiges Rathhaus erinnert. Ja, gerade hier und zu der-
selben Jahreszeit.
Als der Donner der Kanonen bei Fort Suuiter den
furchtbaren Bürgerkrieg gleichsam eiuläutete und seinen
Widerhall in den ersten Schlachten auf weit von ein-
ander liegenden Schauplätzen fand, da glaubte Mancher,
welchen die Besorguiß um die Seinigen von der dem
Treiben wilder Guerilla- und Rüuberschaaren ausge-
setzten heimathlicheu Scholle forttrieb, den Folgen des
alle Verhältnisse erschütternden Ringens dadurch zu
entgehen, daß er die abgesondert liegenden Staaten aui
Stillen Occan aufsuchte. Was ihm von seiner Habe
geblieben, was er rechtzeitig geborgen hatte oder irgend
noch flüssig machen konnte, verwendete er zur Aus-
rüstung, um zunächst auf den bden westlichen Gras-
fluren Sicherheit zu finden, dann aber sich allmühlig
nach Kalifornien durchzuarbeiten. Mochten seine zurück-
gelassenen Aecker zerstampft, sein Gehöft verwüstet wer-
den: die Seinigen sah er wohlbehalten um sich, cs
begleiteten ihn Pferde und Rinder, welche sein fliegen-
des Heim vervollständigten.
Einzeln, je nachdem cs ihnen gelang, vom bedrohten
Missouri fort zu schlüpfen, waren die kleinen Karawanen
aufgebrochcn, um sich später zu gemeinsamem Schutz
gegen die Angriffe feindlicher Eingeborener oder ge-
wissermaßen aus dem Erdboden wachsender Räuber-
banden zu vereinigen. Und wie lange dauerte diese
ans Zeit geschlossene Kameradschaft? Wie lange dauerten
Zusammenhörigkeit und Freundschaft? Nicht länger,
als Kräfte und Büttel das Beieinandcrbleiben gestatteten,
dieses nicht durch Opfer erkauft werden mußte. Denn
nach Westen stand der Sinn eines Jeden, krankhaft
zog es Alle über Ebenen, durch Gebirgszüge und Wüsten,
da ein Tag Zeitverlust vielleicht über das Leben der
ganzen Gesellschaft entschied.
Wo Ermattung der Zngthicre, wo Krankheit oder
gar ein Sterbcfall zur Unterbrechung der Reise zwang,
da begleiteten wohl Trostcsworte das Versprechen, auf
geeigneter Stätte die Nachzügler zu erwarten: im Grunde
aber wurde Alles beherrscht durch das Gefühl, daß
Jeder sich selbst der Nächste. Aus den Augen, aus
dem Sinn; wer zurückblicb, mochte sehen, wie er von
dannen kam. Ging er zu Grunde, weinte Niemand
ihm eine Thrüne nach; besser der Einzelne, als eine
ganze Genossenschaft. — —
Die Sonne neigte sich den Scott-Blnfss zn. Ge-
rötheten Antlitzes, wie ermüdet, betrachtete sie die sich
östlich erstreckende Ebene. Mit zauberischen Reflexen
schmückte sie die Ränder der abgesondert stehenden Fcls-
thürme. Die sich träge senkenden Sommerfüdcn zeugten
dafür, daß die atmosphärischen Strömungen vollständig
entschlummerten. Hier und da weidete Wohl noch eine
Gruppe Büffel und trieben zierlich gebaute Antilopen
ihr munteres Spiel, allein diese Bewegungen ver-
schwanden inmitten der gewaltigen starren Einöde.
Aehnlich verhielt es sich mit einem vcrhältnißmäßig
leichten Reisewagcn auf dem Ufer des Nordarmes,
dessen Weißes Lcinwandverdcck weithin leuchtete, mit
zwei Pferden, die in dessen Nähe grasten, und endlich
mit einer schmalen Rauchsäule, die einige Schritte ab-
wärts einer kleinen Feucrstelle entquoll und steil in
die regungslose Atmosphäre emporsticg.
Von dem Scitcnbrctt des Wagens aus war ein
Stück Segeltuch zeltartig mittelst Pflocken und Schnüren
auf dem Erdboden befestigt worden. Alles, was zur
Bequemlichkeit in dem Wagen mitgeführt worden, hatte
zur Herstellung eines Lagers unterhalb dieses noth-
dürftigen Schutzdaches gedient. Wollene Decken bildeten
dessen Hauptbcstandtheile; ein weiches Pfühl lag zn
Hänptcn, gewiß ein für dortige Verhältnisse üppiges
Bett; aber wie unzureichend erschien es, wenn man
Diejenige betrachtete, für welche es mit so viel Bedacht
und treuer Sorgfalt geordnet worden war.
Eine junge Frau lag auf demselben. Durch die
obere Decke hindurch ließen sich nothdürftig die Formen
einer schlanken Gestalt erkennen. Die bis zu den
Ellenbogen hinauf sichtbaren Weißen Arme waren von
erschreckender Hagerkeit und zeugten von unheilbarem
Siechthum. Der eine ruhte auf der Decke; den anderen
hatte sie nm ein neben ihr schlummerndes Kind von
höchstens einem Jahr geschlungen. Dieselbe Hagerkeit
trat in dem Antlitz der jungen Dulderin zu Tage, nur
daß hier der Eindruck durch eine gewisse Engelsschön-
heit gemildert wurde und das einzige Gefühl schmerz-
licher Theilnahme wachricf. Obwohl durch atmosphä-
rische Einflüsse etwas gebräunt, hatte die Haut sich
eine außerordentliche Zartheit bewahrt. Zn deren
beinah durchsichtig bleicher Farbe, die auf Stirn und
Schläfen in blau geiidcrtes Marmorweiß überging, kon-
trastirle unheimlich die scharf begrenzte Röthe der ein-
Das Buch für Alle.
gefallenen Wangen. Müde, entsprechend dem Leidens-
zug, welcher sich nm die farblosen Lippen tief ausgeprägt
hatte, blickten die großen dunkelblauen Augen. Das
erhöht ruhende Haupt war unbedeckt. In langen, licht-
blonden Wellen floß das aufgelöste seidenweiche Haar
über das Pfühl und die Schultern bis weit über die
Decken hin.
Die arme junge Frau war offenbar in trauriges
Nachdenken versunken. Ausdruckslos, gleichsam mecha-
nisch schweiften ihre Blicke im Kreise. Bald überflogen
sie die in ihrer Nähe stehenden Blechgefässe, welche
dürftige Erfrischungen für sie und das Kind enthielten,
bald die beiden kräftigen, wenn auch hageren Pferde,
oder die in ihrem Gesichtskreise befindlichen Büffel-
heerden, um immer wieder nut einem rührenden Aus-
druck inniger Herzensgüte zu dem vor dem Feuer be-
schäftigten jungen Manne zurückzukehren. Dieser, fast
noch ein Knabe, jedoch für das Alter von siebenzehn
Jahren ungewöhnlich hoch und kräftig gewachsen, über-
wachte einen Kessel, in welchem siedendes Wasser
rm einige ausgesuchte Stücke Büffelfleisch hermn-
brodelte, rind einen anderen Behälter, der zur Be-
reitung des Thee's diente, Beides zur Nahrung für
die Kranke bestimmt; ferner eine Pfanne mit einem
Vorrath in Fett zischenden Fleisches für seinen eige-
nen Bedarf. Seine einfachen abgetragenen Kleidungs-
stücke erzählten von langer beschwerlicher Reise und
anstrengender Arbeit. Dagegen brauchte man nur
einen Blick auf sein braun gelocktes Haupt, auf das
noch jugendwciche sonnverbrannte Antlitz oder in die
ruhigen blauen Augen zu werfen, um ihn nicht in
einen Rang mit gewöhnlichen Knechten und Viehtreibern
zu stellen. Rege beschäftigt, fand er doch Zeit, immer
wieder zu der jungen Frau und deren Kind hinüber
zu spähen; dann offenbarte sich in seinen Zügen ein
Ausdruck, als hätte er in lautes Klagen und Jammern
ausbrcchen mögen.
Eine Weile war in Schweigen verstrichen, als er,
aufschaucnd, einem traurigen Blick der jungen Frau
begegnete.
„Edith," sprach er ermuthigend hinüber, „es ist
jetzt so weit, daß Du etwas genießen kannst. Fleisch-
brühe und Thec sind fertig."
„Ich möchte warten," antwortete eine sanfte, matte
Stimme. „Ich fühle noch kein rechtes Bedürfnis;,
außerdem schläft die Kleine so sanft, ich würde sie
wecken. Schiebe die Gefässe so weit von der Gluth
zurück, daß der Inhalt abkühlt, jedoch nicht ganz er-
kaltet.^ Nachher will ich mit Thusnelda gemeinschaft-
lich essen. Aber Du selber — laß Dich dadurch nicht
hindern —"
„Ich verspüre keinen Hunger," fiel der junge Mann
beinah rauh ein, und etwas regsamer ordnete er zwischen
den Gefässen.
„Ich kenne Dich, Gregor," versetzte Edith Melville
dringlich, „es widerstrebt Dir, allein zu essen, und doch
gewährt es mir Freude, Dich bei einer kräftigen Mahl-
zeit zu beobachten."
„Ich wiederholt," bekräftigte Gregor erzwungen
sorglos, „ich verspüre nichts weniger als Hunger." Er
saun einige Sekunden nach, und mit der unverkenn-
baren Absicht, die arme Dulderin dadurch zu ermun-
tern, erzählte er in beinahe fröhlichem Tone: „Ein
Glück, daß ich das Thier erlegte. Die frische Fleisch-
brühe ist geradezu Arznei für Dich. Wir haben über-
haupt vorläufig keine Noth zu befürchten, und lange
kann es nicht dauern, bis Jessie und Jones uns Hilfe
schicken."
Durch einen Blick auf Edith überzeugte er sich,
daß sie seinen Worten mit freundlicher Theilnahme
lauschte, und ohne Säumen fuhr er lebhaft fort:
„Hättest nur sehen sollen, wie die junge Kuh sich über-
schlug, als ich ihr auf sechzig Ellen die Kugel iu's
Auge schoß. Schade d'rum, daß wir uns mit den
Wölfen in das Fleisch theilen müssen. Ich werde in-
dessen für mehr sorgen. Jst's doch eine Lust, hier
herum zu jagen. Wenn eine Heerde das Strombett
kreuzt, brauche ich mich nur in den Hinterhalt zu
legen, um das beste Stück auszusuchen. Wärest Du
erst wieder ganz gesund, möchte ich nie eine feinere Zeit
erleben."
Ein schmerzliches Lächeln belebte flüchtig das zarte
Antlitz der Leidenden.
„Ich und gesund!" seufzte sie; „aber ein Glück,
daß Du den Muth nicht verlierst. Durch Dein Bei-
spiel fühle auch ich mich crmuthigt, seit einigen Stun-
den sogar körperlich erleichtert. Oder fiel Dir nicht
auf, daß ich kaum noch huste? Und es kann ja nicht
Gottes Wille sein, daß wir hier in der endlosen Wild-
niß zu Grunde gehen."
„Unsinn," versetzte Gregor achselzuckend, sah aber
in eine andere Richtung, „so lange uns die Pferde, der
Wagen und meine Büchse bleiben, gibt es keine Ge-
fahr; und der Tag kommt ebenfalls, au welchem das
Fahren Dir keine Qual mehr bereitet. Ob die Hilfe
etwas früher oder später eintrifst, fällt daher nicht in's
Gewicht."
„Du meinst wirklich, daß Jessie und Jones nur
Ljtst 3-
davon gingen, um die Leute auf dem Fort für uns in
Bewegung zu setzen?" fragte Edith ungläubig.
„Warum sollten sie nicht? Ans alle Fälle kehren
sic nicht zurück, bevor sie Beistand gefunden haben,"
tröstete Gregor, und wiederum kehrte er sein Antlitz
ab, um die auf demselben wirkende Besorgnis; zu ver-
heimlichen. Denn unter dem Schlitze der Nacht und
ohne sich zu verabschieden hatten die beiden Dienstboten
sich auf den Pferden entfernt, unzweifelhaft, um eine'
voraus geeilte Karawane eiuzuholen und sich derselben
anzuschließen.
Nach einer Pause hob die junge Frau wieder an:
„Gregor, sehe Dich zu mir. Ich möchte mit Dir reden.
Bleibst Du dort, so bin ich gezwungen, meine Stimme
zu sehr anzustrengen; und ich muß mich schonen, ob-
wohl ich mich heute freier fühle als seit Wochen."
Gregor erhob sich schnell, und dein Ruf Folge
leistend, streckte er sich so hin, daß sein Oberkörper
unter das Zeltdach reichte, sein Kopf sich also beinah
neben dem Haupte Edith's befand.
„Also Wohler fühlst Du Dich," begann er fast zu
heiter für den Ausdruck der Wahrheit, „nun ja, Dn
wirst die eigentliche Krankheit überstanden haben, so
daß Du nur noch Kräfte zu sammeln brauchst. Deine
Stimme klingt wirklich freier, rind in der That, Du
hustest kaum noch."
„Gott sei Dank, Gregor, wer weiß, ich werde es
dennoch überstehen. Ich wollte ja so dankbar sein,
wenn ich mit dem Kinde nur noch die ersten Ansiede-
Umgen erreichte. Aber gerade weil ich mich heute auf-
fällig besser befinde, möchte ich ein ernstes Wort mit
Dir sprechen. Bisher brachte ich cs nicht über's Herz,
die Möglichkeit zu erwähnen, daß mein armes kleines
Töchterchen auch mutterlos werden könnte, nachdem cs
bereits den Pater verlor —"
„Nenne ihn nicht," fiel Gregor bitter ein, „er ist
zwar mein naher Verwandter und Dein Mann; seit-
dem er sich aber gegen Dich verhärtete und versündigte,
unschuldige Menschen vor der Rachsucht der
Rebellen zu bewahren suchtest, spreche ich seinen Namen
nur noch mit Widerwillen auS."
„lirtheile nicht so streng über ihn," versetzte EdVO
klagend, „bedenke, er war abwesend, außerdem den
Einflüssen seines Vaters und zahlreicher Verwandten
ausgesetzt, namentlich dem der unbarmherzigen Tante
Sarah."
„Das war ich ebenfalls," erwiederte Gregor heftig,
„aber gerade, weil man mich gewaltsam in die Reihen
der Rebellen drängen wollte, haßte ich die Secession
doppelt. Mein Haß wuchs, als Marianne sich von
dem getreuen Stoctou trennte — wer Hütte das jemals
geglaubt und mit seinen Todfeinden Hand in Hand
ging. Meine Erbitterung erreichte ihren Gisstet, als
man Dich zur Verrätherin stempelte, weil Du die
Pflichten der Nächstenliebe erfülltest. Mit Allen ver-
feindet, entfloh ich, um Deinen Spuren zu folgen.
Mein letztes Wort war ein Fluch gegen die Taute
Sarah. Mögen sie mich suchen, wo sie wollen; nach
der Plantage kehre ich nimmermehr zurück. Von uiir
hören sollen sie erst, wenn ich mir einen gefürchteten
Namen gemacht oder mein Ende auf einem Schlacht-
felde gefunden habe. Zuvor aber gehöre ich noch Dir.
Ich habe mich Dir zugcsellt, um die von den Mel-
villes au Dir begangenen Verbrechen zu sühnen; aber
auch weil Du mein Liebling gewesen bist, seitdem ich
Dich kenne. Nein, Edith, nie vergeß ich, daß Du von
Anfang an zu mir standest, den verwaisten Knaben
freundlich beriethest, wenn Andere mich tadelten, mir
meinen freien Willen nicht gönnten. Einen Pferde-
knecht nannten sie mich, weil ich mit den unbändigsten
Gäulen über Stock und Stein jagte, einen entarteten
Melville, und doch war der Eolouel meines Vaters
leiblicher Vetter. Jetzt bin ich ein freier Amerikaner und
bahne mir meinen Weg ohne fremde Hilfe dürch's
Leben. Du aber und die kleine Thusnelda hier, Ihr
sollt keine Noth leiden, so lange ich noch ein Glied zu
rühren vermag, darauf magst Du bauen und alle Deine
Sorgen von Dir abstrcifeu."
Während Gregor mit einem Gemisch von Haß und
Begeisterung sprach, betrachtete Edith ihn mit ängst-
licher Spannung. Dann reichte sie ihm die Hand und
liebreich hob sie an: „Deine Anhänglichkeit wird Dir
noch einmal reich gesegnet werden, und hörst Du cs
gern, lieber Gregor, so gestehe ich, daß Deine Freund-
schaft und Dein Schutz mir lieber sind, als Hütten
hundert Andere sich zu meinem Beistand um mich ge-
scharrt. Und welchen Verlaß bieten mir Andere?
Diejenigen, denen wir uns am Missouri anschlossen,
waren froh, uns der langsameren Reise wegen endlich
abschüttelu zu können, und die beiden Dienstleute, die
gegen vorausbezahlten Lohn sich verpflichteten, bei uns
auszuharren — ich würde mich mehr wundern, kehrten
sie mit den Pferden zurück, als wenn wir sie nie
wiedersäheu. Ich bin es zu sehr gewohnt, von allen
Seiten hintergangen, bedrängt und verstoßen zu werden."
Sie seufzte schmerzlich und fügte leise hinzu: „Mein armes
Kind; wie es sanft schläft, ahnungslos, daß ein böses
Verhängniß über unseren Häuptern schwebt."