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242

Ihnen hier überall im Wege. Nun ja, ich will von
meiner Freiheit Gebrauch machen, jedoch erst dann,
wenn ich meine Kinder vor mir sehe. Vorher Weiche
ich keinen Schritt von Ihnen. Habe ich zwanzig Jahre
bei Ihnen ausgehalten, mag ich auch länger bleiben.
Ihr Schatten will ich sein, Tag und Nacht Ihnen zu-
rufen: wo sind meine Kinder? Fortgebracht haben
Sie dieselben und seit acht Jahren sah und hörte ich
nichts von ihnen, als Ihre Vorspiegelungen, und
die sind erlogen. Nein, ich gehe nicht. Sie sollen
mir Bürge sein für das, was Sie mir raubten, und
müßte ich meine Fingernägel vergiften und in Ihr
Fleisch bohren."
„Du redest wieder im Wahnwitz," entgegnete Slow-
field, welchem, trotz der in seinem Wesen sich offen-
barenden Furcht, derartige Scenen nichts Neues zu
sein schienen, „geh' hin und schlafe aus, morgen früh
hat Dein Blut sich abgekühlt und wir sind wieder die
alten Freunde."
„Die alten Freunde," wiederholte Nelly scharf und
ihre schwarzen Augen funkelten unheilverkündend, daß
nian sie mit dem eines Reptils hätte vergleichen mögen,
wie sie solchen ihr Gift entnahm, „ja, gute Freunde;
so gut, daß wir nicht von einander lassen, bis der
Tod zwischen uns tritt. Mr. Slowfield, geben Sie
mir meine Kinder zurück —"
Ein einfacher Schlag des Thürklopfers unterbrach
sie, und wie durch Zauber ebneten sich ihre feindselig
wogenden Leidenschaften. An Stelle der bisherigen
drohenden Haltung trat eine gewisse Unterwürfigkeit;
ihre Züge erschlafften, wogegen die plötzlich abgestumpften
Blicke nur noch von endlosem, unheilbarem Gram zeugten.
Auch in Slowfield war eine Wandlung vor sich
gegangen. Er fühlte sich wieder im Besitz des Ueber-
gewichtes über die erbitterte Hausgenossin, und darnach
bemaß er sein Verfahren im Verkehr mit ihr.
„Da ist Hawkins," sprach er anscheinend sorglos,
und strenger fügte er hinzu: „Ich werde ihn selbst
einlassen.' Er braucht Dich nicht zu sehen. Geh' in
Dein Zimmer und vergiß nicht den Brief."
Schweigend gehorchte Nelly; gleich darauf ent-
riegelte Slowfield die Hausthür. Ein hagerer, hoch
gewachsener Herr in schwarzen: Anzuge trat zu ihm
herein. Eine kurze Begrüßung folgte, und gedämpft
zu einander sprechend begaben sie sich in das Vor-
zimmer.
Nachdem Beide einander gegenüber Platz genommen
hatten, gingen sie alsbald zu dem Zweck über, zu
welchem Hawkins sich eingestellt hatte.
„Wie steht es mit 'unserem Patienten?" fragte
Slowfield, und gespannt suchte er die gelbbraunen
Augen des Doktors, die so kalt schauten, als wären
sie aus einem Glaswerk hervorgcgangen.
Hawkins strich mit der unförmlich großen Hand
über sein schwarz und dünn behaartes Haupt, über
fein hageres, glatt geschorenes Jltisgesicht und den
langen Kinnbart; dabei zwinkerte er mit den Lidern,
wie im Kampfe mit einigen in die Augen geflogenen
Schuupftabakskörucheu.
„Es geht langsam bergab," auiwortete er gelassen.
„Die Zelt ist absehbar, in welcher kein anderer Aus-
weg bleibt, als ihm ein sicheres Unterkommen zu ver-
schaffen."
„Sie haben sich bereits für einen Ort entschieden?"
hieß es geschäftsmäßig zurück.
„Die alte Gelegenheit. Ich wüßte keine bessere."
„Wie offenbart sich das Schwinden der Vernunft?"
„In einem tiefen Haß gegen Alle, mit denen er
in früheren Zeiten verkehrte, namentlich gegen Ver-
wandte. Er stürbe lieber HungcrS, bevor er seine
Hand zu irgend welchen Gewinn bringenden Verein-
barungen böte."
„Sprach er je über in seinem Besitz befindliche
Anhaltepunkte, ich meine Schriften oder sonstige Do-
kumente?"
„Nie eine Silbe, doch entnahm ich einzelnen seiner
gedankenlosen Bemerkungen, daß er um räthselhaste
Dinge ängstlich sorgt. Meinen harmlosen Fragen be-
gegnete er mit unzweideutigem Mißtrauen."
„Er verrieth also keine Neigung, mit mir oder
Miß Melville in näheren Verkehr zu treten?"
„Die bloße Nennung Ihrer Namen würde wahr-
scheinlich genügen, ihn auf Wochen hinaus vollständig
unzugänglich zu machen."
„Steht er mit irgend Jemand in Briefwechsel?"
„Mit Niemand; ich bürge dafür. Habe ich doch
die beste Gelegenheit, darüber zu wachen."
„Das ist sehr wichtig," versetzte Slowfield lebhaft,
„will er selbst nicht aus seiner Verborgenheit heraus-
treten, ist es Ihnen erleichtert, ihn darin zu bestärken.
Halten Sie seinen Gemüthsznstand wirklich für unheil-
bar?" fügte er fragend hinzu, und schärfer sah er in
die seltsam zwinkernden Augen des Doktors.
Diefer nickte bezeichnend und antwortete mit einem
häßlichen verschmitzten Lächeln: „Für so unheilbar,
daß er, ich wiederhole es, binnen kurzer Frist zu seiner
eigenen wie zu Anderer Sicherheit in eine Anstalt ge-
bracht werden uinß."

Heft 11-

Das Buch für Alte.

Slowfield neigte billigend das Haupt. Unter den
lauernden Blicken Hawkins' sah er eine Weile nach-
denklich vor sich nieder, bevor er wieder anhob: „Macht
sich die Ueberführung nothwendig, was ich nicht be-
zweifle, ich hebe ausdrücklich hervor: was ich nicht
bezweifle, so muß Alles aufgeboten werden, in den
Besitz seiner Papiere zu gelangen. Glückt das nicht,
so ist es mir unmöglich, seine Gerechtsame an ent-
sprechender Stelle zu vertreten, und der Aermste hat
seine Störrigkeit durch schwere Verluste zu büßen."
„Ich verstehe," warf Hawkins ein, und den wahren
Ausdruck seiner Augen verheimlichend, bekämpfte er
wieder einige Schnupftabakskörner. „Was geschehen kann,
geschieht, und mit gutem Gewissen leihe ich meinen
Beistand, zumal, wie Sie saßen, sein eigener Vortheil
es bedingt. Leicht ist es übrigens nicht; drei Paar
Augen überwachen ihn auf Schritt und Tritt."
„Ich baue auf Ihre Umsicht; sind Vorschüsse er-
forderlich, so stehe ich zu Diensten," erwiederte Slow-
field billigend. „Ich lasse Ihnen vollkommen freie
Hand und erwarte nur, über alle Vorkommnisse recht-
zeitig unterrichtet zu werden. Wie steht es mit den
beiden Kindern? Deren Mutter machte mir nämlich
vor Kurzem wieder einmal eine Scene."
„Nun, so leidlich; das heißt, für die Welt sind
sie rettungslos verloren. Wunderbar, daß Beide dem
Irrsinn verfielen."
„Ihre Mutter ist eine excentrische Person," erklärte
Slowfield wie beiläufig, „da kaun's nicht überraschen.
Doch gleichviel, hätte ich geahnt, daß sie derartig un-
geberdig werden würde, möchte ich mich besonnen haben,
die Kinder von ihr zu nehmen. Von Tag zu Tag wird
sie mir unbequemer. Jede andere Person besorgt meinen
Hausstand ebenso gut."
„Für eine Anstalt ist sie noch nicht reif?"
„Längst; dagegen stößt es auf unüberwindliche
Schwierigkeiten, sie von hier fortzuschaffen. Das
Sicherste wäre, sie mit ihren Kindern zu vereinigen.
Um solchen Preis ginge sie bis an's Ende der Welt."
„Unmöglich," versetzte Hawkins unter betheuerndem
Blinzeln, „ich selber möchte wenigstens die Verant-
wortlichkeit für deren Ueberführung in andere Verhält-
nisse nicht übernehmen."
„Schade d'rum," meinte Slowfield nachdenklich,
„aber läßt sich nichts ändern, so müssen wir eben das
Beste davon machen, mag's mich immerhin mehr kosten,
als mir lieb ist."
„Die Kosten können bei Ihnen unmöglich in's Ge-
wicht fallen; man redet davon, die Steilung als Be-
vollmächtigter des verstorbenen Colonel Melville trage
Ihnen manchen greifbaren Vortheil ein," bemerkte
Hawkins, und zwischen den zuckenden Lidern hervor
beobachtete er aufmerksam Slowfield's Physiognomie.
Dieser war indessen auf der Hut und erwiederte
gedehnt: „Kaum auf meine Kosten komme ich. Da
gibt es fo viele Wenns und Abers, daß ich das Ge-
schäft jedem Anderen lieber gönne, als mir selber,
lind dann vergessen Sie nicht: Miß Melville's Hand
liegt- auf Allem. Ohne ihre Zustimmung fällt auf
der Plantage kein Blatt vom Baum. Eher erweicht
mau einen Grauitblock, als deren einmal ausgesproche-
nen Willen."
„Verdächtige Symptome," erklärte Hawkins, seine
Augen auf einige Sekunden schließend, „vielleicht würde
der kurze Aufenthalt in einer Anstalt wohlthütig auf
sie einwirken."
„Nein, nein," nahm Slowfield hastig das Wort,
und er erhob sich, um dem forschenden Blick des Dok-
tors auszuweichen, „ihr gegenüber kann nur Geduld —
doch was reden wir von Dingen, die überhaupt nicht
hierher gehören? Ich stehe in freundschaftlichem Ver-
kehr mit der Dame, und lieber möchte ich Alles ver-
lieren, als ihr Vertrauen."
Hawkins lachte wie Jemand, der eine Sache besser
kennt, als sie darzustellen man geneigt ist, und Slow-
field fuhr fort, indem er nach den: Schreibtisch hinüber-
schritt und ein neben demselben stehendes feuerfestes
Geldspinde öffnete: „Kommen Sie, lieber Doktor.
Zunächst erledigen wir den geschäftlichen Theil der
zwischen uns schwebenden Angelegenheit; nachher bleibt
uns wohl noch Zeit, eine oder zwei Flaschen zu leeren."
Hawkins leistete bereitwillig Folge, und ohne Zeit-
verlust vertieften sie sich so ernst in ein neues Gespräch,
daß sie nicht einmal hörten, wie Nelly die Hausthür
öffnete und den Mulattenknaben hinausließ. Sie rech-
neten und bcriethen, erhebliche Summen wurden zwi-
schen ihnen genannt, auch Wohl um deren Höhe ge-
feilscht. Zwei Handelsleute, die einen Ausgleich zwi-
schen ihnen schwebender Differenzen anstreben, hätten
nicht geschäftlicher zu Werke gehen können, als wie die
beiden würdigen Genossen über fremdes Eigenthum,
über Gesundheit und Leben Anderer verfügten.
Neunzehntes Uapitel.
Kapitain Slocton.
Es mochte um dieselbe Zeit sein, zu welcher Slow-
field seinem Geschäftsfreunde die Hausthür öffnete, als
der Pedlar in die glänzend erleuchtete Vorhalle eines

der ersten Hotels der Stadt eintrat. In demselben
Augenblick schlüpfte ein junger Offizier von der Straße
her durch das Portal an ihm vorüber. Den nächst'-'»
Aufwürter anrufeud, überreichte er ihm einen pracht-
vollen Blumenstrauß nebst Brief mit der Weisung-
beides Herrn Gregor einzuhändigcn, und ohne eine
Antwort abzuwarten, kehrte er sich dem Ausgange wie-
der zu. Indem er abermals an dem Pedlar vorüber-
schritt, sah er ihn fest an. Dieser erwiederte den Blick
mit dem ihm eigenthümlichen schwermüthigen Ernst-
In der Haltung Beider verrieth sich, daß bei günstiger
Gelegenheit sie vielleicht ein Gespräch an ihre Begeg-
nung angeknüpft hätten. Wie der junge Offizier an
der anspruchslosen Erscheinung des Pedlars, dessen
Blick ihn förmlich bannte, fand dieser unverkennbar
Wohlgefallen au dem schlanken jungen Herrn mit dein
gebräunten Antlitz und dem jugendlichen blonden Voll-
bart. Er spähte ihm sogar nach, als hätte er in der
Vergangenheit nach Jemand gesucht, an den er er-
innert worden. Gleich darauf lag die breite Glasthür
zwischen ihnen, und damit hatten sie sich gegenseitig
vergessen.
Bevor der Aufwärter mit Blumen und Brief stw
entfernte, trat der Pedlar mit der Frage zu ihm heran,
ob er trotz der vorgeschrittenen Stunde Mr. Gregor
sprechen könne.
„Ich vermuthe, denn die Herrschaften Pflegen sp>"
aufzusitzen," lautete der Bescheid.
„So befindet sich Besuch bei ihnen?"
„Sie empfangen überhaupt keine Besuche. Ich di»
sogar beauftragt. Jeden, der Vvrgelassen zu werden
wünscht, abzuweisen. Haben Sie indessen Geschäfte nm
ihm, so will ich Sie wenigstens anmelden."
„Geschäfte dringender Art," bestätigte der Pedlar
ruhig, und doch hämmerte das Blut in feinen Schlä-
fen, als hätte es sich daselbst einen Ausweg bahnen
wollen.
„So folgen Sie mir," entgegnete der Aufwärtcr,
„ich habe dies an Air. Gregor abzugeben," und er
hob die Blumen empor, „da mag ich die Gelegenheit
benutzen."
Nachdem sie zwei breite, mit Teppichstoff belegte
Treppen erstiegen hatten, betraten sie einen zwielicht-
artig erleuchteten Korridor. Eine kurze Strecke legten
sie auf demfclben zurück, und vor einer breiten Flügel-
thür anhaltend, Pochte der Aufwärter bescheiden.
Durch eine etwas größere Entfernung gedämpft-
ertönte auf der anderen Seite ein sorgloses „Herein!
Der Aufwärter öffnete, und gefolgt von dem Pedlar
überschritt er die Schwelle eines üppig eingerichteten
und hell erleuchteten Gemachs.
„Dies ist das Vorzimmer; warten Sie hier eine
Minute," raunte er dem Pedlar zu, «ud gleich daran!
verschwand er durch eine offene Seitenthür in dein
Nebenzimmer.
Der Pedlar fand unterdessen Zeit, seine Umgebung
flüchtig zu prüfen. Es war ersichtlich, Gregor Ham
eine der geräumigsten und bequemsten Wohnungen »»
Hotel geniiethet. Dieselbe bestand aus Vorzimmer um
Salon. An diese reihten sich auf der einen Seite du'
Schlafräume für ihn und Singsang au, wogegen am
der anderen ein kleinerer Salon für thusnetda al«
Schlafzimmer eingerichtet worden. Es war heute nE
wie in den Tagen, in welchen sie eine elende Lehmhütu
bewohnten: für die beiden Fennde gab es nichts, w»"
zu glänzend oder zu kostbar für ihren gemeinschaftliche»
Schützling gewesen wäre. , Z
Da dicker Teppichstvff den Schall seiner Schüfe
dämpfte, schlich der Pedlar, einem unwiderstehliche»
Drange nachgebend, bis in die Mitte des Zimmer»
vor, von wo aus er einen Blick in den Salon Z»
werfen vermochte. Ihn selbst entdeckte Niemand, inde>»
der Aufwärter vor Gregor hintrat und ihm dadurw
die Aussicht verlegte.
„Was soll das?" fragte Gregor, als jener ihm d»
Blumen überreichte. ,
„Ein junger Herr gab es unten ab. Auf Antw»"
wollte er nicht warten," hieß es zurück.
Gregor nahm den Brief.
„Legen Sie die Blunien da auf den Tisch,"
merkte er gleichmüthig. Ebenso sorglos öffnete er de»
Brief. Dann las er:
„Geehrter Mr. Gregor!
Auf die Lehre, welche ich heute empfing, glam'
ich nicht besser antworten zu können, als indem >»
Sie bitte, in beifolgenden, für Miß Gregor bestimmte
Blumen nur eine anspruchslose Anerkennung zu
blicken für den Genuß, welchen ich heut' im Eirktz»
fand. Die Annahme setze ich voraus. Mit derselbe
befreien Sie mich von dem Selbstvorwurf, mich ci»f
Fehls schuldig gemacht zu haben, wo ich unter de>
Eindruck aufrichtiger Begeisterung handelte.
Ein Unbekannter, der schon morgen die
Stadt wieder verläßt."
„Das nenne ich austaudsvoll," bemerkte Greg»-'
und nachlässig reichte er Thusnelda den Brief, ,-d'j
lies und überzeuge Dich, wie richtig Du Dich beu»» '
uken hast. Seine zudringliche Bewunderung lehn»!
 
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