Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 24.1889

DOI Heft:
Heft 26
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.51129#0629
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

1889.







Felix Lchweighofer.
Noch einer Photogrolchic gezeichnet von C. Kolb. (S. 62k)

Mit dem lauten Ruf: „Marianne! Marianne!"
stürzte ihr Emmerich schluchzend zu Füßen und drückte
seine Lippen auf ihre thränenfeuchten Finger, lind sic
lehnte sich an seine Schulter und weinte sich von
ganzem Herzen aus. Jetzt dachte auch sie nicht mehr an
die Borfalle, die sie heute stutzig gemacht hatten, sie
hatte keinen Vorwurf für sein Ausbleiben; ihr galt
Emmerich jetzt als der Tröster, an welchen sie sich mit
der Innigkeit anschmiegte, niit der ein leidendes Herz
nach Mitgefühl nnd Liebe sucht.
Lauge saßen sie so, stumm sich umschlungen
haltend; Leopold betrachtete das Paar mit bewegter
Anthcilnahmc von der Fensternische aus, in die er sich
zurückgezogen hatte.
In diesem Augenblick schwur sich Emmerich in seinem
Herzen zu, Marianne sei sein guter Engel und keine

Endlich hatte er Wjcra doch ge-
schrieben. Der schwerwiegende Brief
war ein Meisterstück der Stylistik, doch
trotzseinersangninischenLeichtmüthigkeit
getraute sich Emmerich kaum zu hoffen,
dieser Brief werde das erwünschte Resul-
tat: den schweigenden Rückzug Wjera's,
erzielen. Aber er sollte sie auch nur
momentan beschwichtigen, sie von einer
unüberlegten That zurückhalten. Für
das Weitere schwebte ihm dann der
dunkle Entschluß vor, ihr nach mehr-
tägiger Frist, zur Abklärung ihres Zor-
nes, den Bruder als Vermittler zu
senden. Und am Ende mußte Wjera
doch so vernünftig sein, cinzusehen, daß
sie den zum zweiten Male Treubrüchigen
keinenfalls mehr zurückerobern, sondern
sich nur selbst anf's Peinlichste bloß-
stellen würde, falls sie nicht der Ver-
nunft Gehör gab.
Es war am Tage nach dem Begräb-
nis; der Konsistorialrüthin. Marianne
ging daran, ihre Sachen zu Packen, denn
sie sollte auf den Rath des für Alles
sorgenden Leopold inzwischen zu einer
entfernten Verwandten derBrüder ziehen.
Es war ein Bild von ergreifender
Trauer: das schlanke Mädchen in dem
düsteren KrcPPtleide ans dem Boden
kniend, von Zeit zu Zeit das müde
Haupt mit den herrlichen schweren
Goldflechten ans den Kofferrand legend,
um sich wieder und wieder einem jener
Schmcrzensausbrüchc zu überlassen, die
wie Fieberschauer über sie kamen. Sie
konnte es zuweilen nicht glauben, daß
die Mutter für immer dahingegangen
sei; es war ja so entsetzlich schnell ge-
kommen.
Mitten in ihren schmerzlichen Be-
trachtungen wurde sie durch den Eintritt
des Stubenmädchens unterbrochen, das
ihr eine Karte überreichte.

bei ihnen eiugefuudcn hätte. Wo war
Pold hoffte, die Trauernde mit dem
Bräutigam zu versöhnen, wenn er ihr
Emmerich in diesem Momente, wo sie so
sehr des Trostes eines ihr Nahestehen-
den bedurfte, zuführte. Und ohne einen
Augenblick zu zögern, griff er nach
seinem Hute und verließ das Hotel.
Unglücklicher Weise war in der gan-
zen Straße keine Droschke zu scheu.
Leopold lief durch eine Seitengasse, um
den nächsten Wageustandplatz zu er-
reichen. Als er nm die dritte oder vierte
Ecke bog, prallte er nut einen; Manne
zusammen, der eben ein Kaffeehaus an
der Straßenecke verließ.
„Verzeihung!" entschuldigte sich der
- -Eilige und wollte schon vorbei, als er
das verstörte, vom Wein erhitzte Ge-
sicht des Bruders erkannte.
Leopold fragte gar nicht erst, wo
Emmerich gewesen, warum er so erhitzt
aussehe, sondern: zog ihn unaufhaltsam
mit fort, ihm unterwegs keuchend, in
abgebrochenen Sätzen das Unglück mit-
thcilend, von den: er eben Zeuge ge-
worden.
Emmerich's Rausch war mit einem
Male verflogen; er hatte jetzt nur noch
den Gedanken an Marianne; dieser Ge-
danke wischte in diesem Augenblick sogar
seine Erlebnisse von heute Nachmittag
aus seinem Gedächtnis;. Jin bass war
der Schwächling zu den: Entschlüsse ge-
kommen, Marianne in einem Briefe zu
bekennen, daß ihn eine ältere Ver-
pflichtung zwinge, auf ihre Hand zu
verzichten. Aber jetzt gab es wieder
keine Wjcra mehr für ihn, jetzt sah er
nur Marianne am Todtenbette der
Mutter verlassen in ihrem fürchter-
lichen Schmerz. Die Treulosigkeit des
Einzigen, der ihr jetzt in ihrem Gram
eine Stutze hätte sein sollen, hätte die
Arme ja 'tvdtcn müssen!

Gebrüder Üran u s.
Novelle
von
Carl Ed. Klopfer.
iForüchnng u. Schluß.) (Nochdr.uk verboten.)
—.iwmcrich — am Tode meiner Mutter bist
Du schuld!" waren die ersten Worte, die
, sich aus der gequälten Brust des Mädchens
' rangen.
Leopold mußte daran denken, daß die
(7,^ Damen wirklich nicht ausgegangcn wären,
wenn Emmerich sich zur verabredeten Stunde
: er nur? Leo-

Macht der Erde dürfe in: Stande sein, ihn voi: der
hohen, edlen Aufgabe abzubringen, sein ganzes künftiges
Leben nur ihren: Glück zu weihen.
4.
Statt Marianne war es nun Wjera, der sein Scheide-
brief gelten sollte. Es hatte ihn einen mehrtägigen
schweren Kampf gekostet, ehe er wirklich daran ging,
Wjera diesen Bries zu schreiben. Nicht etwa, daß er
sic ungerne aufgegeben hätte, denn jetzt lebte ja in
seinen: wankelmüthigen Herzen wieder lediglich das Bild
Mariannens, aber es befiel ihn nun doch ein banger
Schauder bei der Erwägung, wie das leidenschaftliche
Weib seine nunmehrigen Absichten anfnehmen werde,
nachdem er sich ihr abermals auf das Innigste ver-
bunden hatte.
 
Annotationen