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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 24.1889

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Heft 19
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https://doi.org/10.11588/diglit.51129#0480
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474

Das Buch für Alle.

Hcst 19.

Raume vorgeht. Es gibt Zellen, in denen zwanzig,
aber auch solche, in denen achtzig Gefangene unter-
gebracht sind. Die Inden werden in besonderen Zellen
eingeschlossen, wahrscheinlich wegen der den russischen
Juden kennzeichnenden Unsauberkeit. Außerdem gibt
es Einzelzellen für solche, die sich Dank irgend welcher
Fürsprache einer besseren Behandlung erfreuen als die
große Masse. Die Zellen enthalten nichts als die
Holzbänke, auf denen die Gefangenen schlafen. Eine
Beschäftigung der Gefangenen ist noch nicht eingeführt,
trotzdem manche mehrere Monate auf ihre Weiter-
schaffung warten müssen. Sie liegen den ganzen Tag
müßig auf ihrer Bank und starren zur Decke empor
oder lauschen den Erzählungen eines Leidensgenossen,
welcher interessante Einzelheiten aus seiner Verbrecher-
laufbahn zum Besten gibt. Lebhafter geht es in der
Franenabtheilung zu. Dort schimmern zwischen den
grünen Sträflingsgewändern die bunten Kleider der
Bäuerinnen, die ihren Männern freiwillig folgen, und
zwischen die Schimpfreden und rohen Scherze der ver-
derbten Frauenzimmer mischt sich das Helle Lachen un-
schuldiger Kinder und Geschrei von Säuglingen. Es ist
ein eigenartiger, erschütternder Anblick: neben einem
Gesicht, in dem sich alle Verworfenheit einer abgefeimten
Verbrecherin ausprägt, das freundliche, lächelnde Ge-
sichtchen eines unschuldigen Kindes!
Zu bestimmten Stunden werden die Gefangenen,
während ihre Zellen gereinigt und gelüftet werden, in
die Höfe hinabgeführt und können sich im Freien er-
gehen. Auf dieser Gefängnißpromenade spendet jedoch
kein Baum Schatten, kein grüner Rasen erfreut das
Auge: kahle Mauern und Wände mit Gitterfenstern
ringsum! Da erhebt sich auch in einem der Höfe
der sogenannte Pugatschew-Thurm, in dem der Sage
nach dieser verwegene Rebell, der sich für den Kaiser
Peter lll. ausgab, vor seiner Hinrichtung gefangen saß.
Mit geheimem Grauen betrachten die Gefangenen diesen
Thurm, jedoch nicht wegen der Erinnerungen, die an
ihm haften, sondern wegen der Kerkerzellen, die er in
seinem Erdgeschoß birgt. Es sind fensterlose Zellen,
gerade groß genug, daß ein Mensch in ihnen aus-
gestreckt liegen kann, drei Schritte lang, zwei Schritte
breit. Hier werden die Gefangenen eingespcrrt, die
sich einen Verstoß gegen die Hausordnung zu schulden
kommen lassen, und man läßt sie in der dunklen Zelle
einige Tage bei Wasser und Brod. Wer nur drei
Tage in einer solchen Zelle zugebracht hat, vermag,
wenn er wieder an's Tügeslicht kommt, Stunden lang
die Augen nicht zu öffnen und wankt wie ein Betrun-
kener hin und her. Die Gefängnißverwaltung kommt
jedoch nicht oft in die Lage, von diesem gefürchteten
Strafmittel Gebrauch machen zu müssen, wie denn
überhaupt Strafen verhältnißmäßig selten verhängt
werden. Die am häufigsten verhängte Strafe ist die
Züchtigung mit der Knute, und auch diese "kommt im
Laufe des Jahres nur etwa fünfzigmal vor — gewiß
nicht oft bei 45,000 Gefangenen.
Auf Widerstand stoßen die Beamten meist nur
dann, wenn es sich darum handelt, einem Gefangenen
die Ketten an den Fuß zu schmieden oder sein Haupt-
haar nach Sträflingsart abzurasiren, was übrigens
bei den Meisten schon in dem Provinzgefäugniß ge-
schehen ist, aus dem sie herkamen. Der Gefangene
muß sich neben einem kleinen Amboß auf den Boden
setzen, eine eiserne Fußschelle wird oberhalb des Knöchels
um sein Bein gelegt und die Enden derselben werden
von dem Schmied festgeschmiedet. Die geringste Be-
wegung des Gefangenen kann zur Folge haben, daß
der Hammer sein Bein trifft und es zerschmettert, denn
die Eisen werden so eng als.möglich geschmiedet. Man
will jede Möglichkeit, daß der Gefangene sie abstreife,
beseitigen, und doch kommt dies zuweilen vor. So er-
zählt man von einem gewissen Lapunow, der wegen
Ermordung seines Feldwebels zu zwanzig Jahren
Zwangsarbeit vcrurtheilt worden war, er sei im Stande
gewesen, die Ferse so einzuziehen, daß er die engsten
Fußschellen abstreifen konnte wie man einen engen
Stiefel auszieht. Da er die Schellen nur vor dem
Schlafengehen herabzog und sic am Morgen wieder an-
legte, ließ man ihn ruhig gewähren, aber Lapunow
belohnte diese Nachsicht damit, daß er während des
Transportes entwich.
Dem Anlegen der Fußeisen folgt das den Sträf-
lingen noch viel unangenehmere Scheeren des Kopfes:
der Schmied zieht sich zurück, der Barbier tritt an
seine Stelle. Die Gefängnißbeamten erzählen, daß
selbst Verbrecher, welche kaltblütig mehrere Morde be-
gangen haben, schon der bloße Anblick des ihrer har-
renden Rasirmessers auf's Tiefste erschüttert. Der
Gefangene verlegt sich auf's Bitten, gelobt alles Mög-
liche, wenn man ihm nur das Rasiren erlassen wolle,
und sträubt sich so lange er vermag. Die Soldaten
drücken ihn endlich auf "den Stuhl nieder, einer hält
seinen Kopf, andere seine Hände und Füße, und alle
geben scharf Acht, daß er sich nicht losreiße und sich
des Rasirmessers bemächtige. Der Barbier geht in-
dessen ungesäumt an's Werk: Blitzschnell ist das Haar
eingeseift, und fünf Minuten später ist der halbe Kopf

Von Moskau nach Sibirien.
Ein Bild aus dem russischen Verbanntenlebcn
Von
Hermann Roskoschny.
(Nachdruck verboten.)
m nördlichen Theil Moskau's, fast am Ende
der langen Dolgorukowstraße, erhebt sich un-
weit des Brest-Smolensker Bahnhofes ein
7 großes mächtiges Gebäude, dessen mit Thürmen
versehene rothe Mauern sich grell von den
benachbarten Bürgerhäusern abheben. Es ist
das Centralgefängniß, in dem die zu Zwangs-
in den Bergwerken oder zur Ansiedelung in

arbeit „ „ . „
Sibirien Verurtheilten ihre Beförderung nach ihrem
Bestimmungsorte erwarten.
Tag für Tag treffen hier Gefangenentransporte ein,
da aus dem ganzen europäischen Rußland die zur Ver-
bannung nach Sibirien Bestimmten hierher gebracht
werden, um iin Frühjahr truppweise die wochenlange
Fahrt nach dein fernen Osten anzutreten. Das Gefüng-
niß ist meist überfüllt, denn im Laufe des Jahres muß
cs etwa 45,000 Menschen ein zeitweiliges Obdach ge-
währen, und nur durch die musterhafte Einrichtung
und eine umsichtige Verwaltung wird es möglich, einen
solchen Andrang zu bewältigen, ohne daß sich Störungen
bemerkbar machen. Dabei ist die Zahl der Gefängniß-
beamten im Vergleich zu der Menge der Gefangenen
eine erstaunlich geringe. Eine Handvoll Menschen
genügt, um tausend wilde, verwegene Gesellen im Zaume
zu halten, und dies Wunder wird nicht etwa durch
Gewaltmaßrcgeln erzielt, sondern hauptsächlich durch
einen freundlichen, humanen Verkehr. Der gemeine
Russe ist roh und ungebildet, aber gutmüthig, für güt-
liches Zureden sehr empfänglich, und bei einer Wan-
derung durch das Gefängniß kann man häufig wahr-
nehnien, wie auf ein gelegentliches Scherzwort des Auf-
sehers hin sich Alles mit einem gewissen Galgenhumor
seinen Anordnungen fügt.
In Deutschland hat man vielfach noch ganz falsche,
unzutreffende Vorstellungen von russischen Gefängnissen,
cs möge uns daher vergönnt sein, den Lesern ein
solches in allen seinen Einzelnheitcn zu zeigen.
Da rückt soeben ein neuer Zug Gefangener in den
Hof ein. Sie sind paarweise nut Handschellen an
einander gefesselt, und je sechs hinter einander auf-
gestellte Paare sind durch eine zwischen ihnen hindurch
lausende Kette mit einander verbunden. Den Zug er-
öffne» Männer, dann folgen die weiblichen Gefangenen
und hinter diesen Frauen und Kinder, die ihren ver-
urtheilten Gatten und Vätern freiwillig in die Ver-
bannung folgen. Zuletzt rollt ein Wagen in den Hof,
auf dem die ärmliche Habe der Verurtheilten liegt,
und dann schließt sich das Gcfängnißthor wieder.
Die Gefangenen werden nun zunächst von der Kette
gelöst und von den Handschellen befreit. Sie haben
einige Minuten Zeit, sich zu erholen und durch Reiben
der von den Fesseln befreiten Arme den stockenden
Blntumlauf wieder herznstellen. Dann erfolgt der
Namensaufruf. Jeder Aufgerufenc wird einer genauen
Besichtigung unterzogen, um fcstzustellen, ob von der
ihm zugewiesenen Gefangenenklcidnng nichts fehlt. Alle
tragen Beinkleider und Kittel von grober Leinwand,
und auf dem zur Hälfte glatt rasirten Kopfe eine
Mütze. Der Besichtigung des Aeußern folgt eine mit
Peinlicher Genauigkeit durchgeführte Leibesdurchsuchung,
uni zu verhindern, daß etwa ein Messer oder ein Strick,
mit dem der Gefangene seinem Leben ein Ende machen
könnte, eine Feile und dergleichen in daS Gefängniß
eingeschmuggelt werden. Solche Dinge werden ebenso
weggenommen, wie das etwa vorgefundene Geld, doch
erhält der Gefangene über letzteres eine Bescheinigung
und kann über Beträge bis zu einem Rubel frei ver-
fügen. Geld, das die Gefangenen unterwegs erbettelt
haben, oder das ihnen von ihren Angehörigen zugesteckt
wurde, suchen Alle vor den Augen der Beamten mög-
lichst zu verbergen, aber alle Schlauheit, die sie auf-
weuden, nützt nichts. Mit scharfem Blick entdeckt der
Gendarm den zwischen dein Sohlenleder verborgenen
Fünfrubelschein, ihm entgeht es nicht, daß hier ein
Stiefelabsatz im Innern ausgehöhlt ist und eine kleine
Pfeife und einige Tabaksblätter birgt; er betastet die
ausgebesserte Stelle des Kittels, uud das aufgenähte
Stück Leinwand kommt ihm verdächtig vor: ein.Schnitt
mit einem Messer, und siehe da, es fällt Tabak heraus.
Die Gefangenen sind unerschöpflich in der Auffindung
neuer Verstecke für einzuschmuggelnde Gegenstände,
suchen dieselben in den Ohren, im Mund, in der
Achselhöhle zu verbergen, aber die Beamten kennen all'
diese Kniffe, und ein Gefangener nach dem andern
wandert, seiner Schätze beraubt, in das Innere des
Gefängnißgebäudes.
Lange Korridore, durch Eisengitter von einander
getrennt, durchziehen das Gebäude, und in die Korri-
dore münden zu beiden Seiten die Thüren der Wohl
verschlossenen Zellen, in denen eine kleine Oeffnnng
ermöglicht, auch Lei Nacht Alles zu sehen, was in dem


glatt rasirt. Es kommt oft vor, daß sich ein er-
bitterter Kampf zwischen den Soldaten und den: Sträf-
ling entspannt, und erst wenn dieser mit Stricken an
Händen und Füßen gefesselt ist, kann der Barbier-
seine Arbeit verrichten. Ein so thörichtes Gebühren
muß offenbar mit einem im russischen Volk verbreiteten
Aberglauben Zusammenhängen.
Für die politischen Gefangenen ist im Central-
gefängniß ein besonderer Thurm angewiesen. In den
beiden unteren Stockwerken sind die Männer, im oberen
die Frauen untergebracht — das Weibliche Geschlecht
liefert bekanntlich keinen geringen Beitrag zu dem Heere
politischer Verbrecher. Eiserne Treppen verbinden die
einzelnen Stockwerke. Aus einem Korridor, in dein ein
Wachtposten steht, kann man durch Oeffnungen in den
Thüren Alles beobachten, was in den Zellen vorgeht.
Die Zellen sind vier Schritte lang, drei Schritte breit.
Da sich in jeder ein eisernes Bett, ein Tisch, ein Stuhl
und ein Kloset befindet, ist der Raum sehr beengt,
doch kann der Gefangene das Bett aufklappen und an
einer an der Wand hängenden Kette befestigen und
sich dadurch mehr Raum zu freier Bewegung ver-
schaffen. Geistige Beschäftigung ist den Gefangenen im
Moskauer Centralgefängniß nicht verwehrt: sie erhalten
auf Verlangen Papier, Tinte und Feder, und dürfen
auch von der Anstaltslcitnng gutgeheißene Bücher lesen.
So ist auch in dieser Abtheilung der allgemeine
Eindruck, den der Besucher empfängt, ein ziemlich
freundlicher — wenn man überhaupt dieses Wort mit
dem Wort Gefängniß in Verbindung bringen kann,
llebcrall machen sich die humaneren Anschauungen be-
merkbar, die sich in den letzten Jahrzehnten im russischen
Gefängnißwesen Bahn gebrochen haben.
Freilich ist zu bemerken, daß dieses Gefängniß eine
Art von Musteranstalt ist, mit der sich die übrigen
russischen Gefängnisse nicht alle vergleichen lassen, und
daß es nicht zur eigentlichen Strafverbüßung, sondern
gleichsam nur zur Wartestation für die -Verbannten
bestimmt ist. Der Abschied von dem Centralgefängniß
fällt daher, wenn der Tag des Abmarsches gekommen
ist, auch allen Gefangenen schwer, uud das Bekannt-
werden des zum Aufbruch bestimmten Tages bewirkt
sofort eine bedeutende Verschlechterung ihrer Stimmung.
Und allerdings haben die Unglücklichen in der That
Grund zu trauern, denn jetzt beginnen die Leiden dcr
weiten Reise, nach deren Beendigung das Leben in einem
kalten, wüsten Lande bei harter Arbeit in Aussicht steht;
diesem Zukunftsbilde gegenüber erscheinen den Ge-
fangenen natürlich die im Centralgefängniß verbrachten
Tage in um so angenehmerem Lichte.
Man führt die nach Sibirien Bestimmten in früher
Morgenstunde und auf Umwegen durch weniger belebte
Gassen zum Bahnhof, aber trotzdem schaart sich als-
bald um den Zug eine dichte Menschenmenge: Weiber
und Kinder, Verwandte und Freunde haben sich ein-
gefunden, um von den Verbannten Abschied zu nehmen,
und zu den Neugierigen gesellen sich die mildherzigen
Leute, die durch ein den Gefangenen gereichtes Almosen
ein Gott wohlgefälliges Werk zu verrichten glauben.
Auf dem Bahnhof kommt es mitunter zu herz-
zerreißenden Auftritten. Innerhalb einer von Soldaten
gezogenen Kette können die Verbannten, deren An-
gehörige sich eingefunden haben, von denselben Abschied
nehmen, aber die ihnen vergönnte Frist ist kurz, und
bald erschallt der Befehl zuni Besteigen der Wagen.
Die Gefangenen betreten das erste der beweglichen Ge-
fängnisse, die sie in Wochen langer Fahrt nach dem
fernen Osten bringen sollen. Es sind gewöhnliche
Wagen dritter Klasse mit Holzbänken, aber die Fenster
sind vergittert und ohne Glasscheiben, letzteres theils
der bessern Lüftung des Raumes wegen, theils aus
Vorsicht, um verzweifelten Gefangenen jede Möglichkeit
zu entziehen, durch Zertrümmerung der Scheiben ein
Werkzeug zu gewinnen, mit dem sie sich lebensgefähr-
liche Verwundungen beibringen könnten.
Die Verbanntenzügc werden zunächst von Moskau
mit der über Wladimir führenden Eisenbahn — im
Volksmundc „die Wladimirowka" genannt — nach
Nischnij-Nowgorod gebracht, wo sie ausschließlich für
ihre Beförderung bestimmte Barken besteigen. Diese
hell rothbraun angestrichcnen Barken sind ebenso groß
wie der Dampfer, der sie in's Schlepptau nimmt, und
von ferne gesehen von einem solchen nicht zu unter-
scheiden. Erst wenn man näher herankommt, bemerkt
man, daß die Barken weder eine Maschine noch
Räder besitzen. Auf dem Verdeck steht ein etwa acht
Fuß hoher Oberbau, auf dessen flachem Dache der
Steuermann und die übrige Schiffsmannschaft sich auf-
halten. An beiden Enden des Oberbaues befinden sich
Kajüten für die begleitenden Soldaten und ihre Offi-
ziere, zwischen denen ein schmaler, dunkler Gang zu
einem vergitterten Raume führt, in dem die Sträflinge
dicht znsammengedrängt auf dem blanken Boden liegen.
In diesen Barken fahren die Gefangenen die Wolga
abwärts und dann die Kama aufwärts bis Perm,
welche Strecke, etwa 1400 Werst*), die Schleppdampfer
*) 1 Werst ist gleich 1,087 Kilometer.
 
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