Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 25.1890

DOI Heft:
Heft 1
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51136#0005
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

1890




größercnProvinzialstadt
im südlichen Deutsch-
land. Mit sich führte er
Schneeflocken, die nicht
recht wußten, ob sie ans dem schlam-
migen Pflaster vergehen oder, unter-
stützt durch den beginnenden Frost,
den ersten Anfang zu einer gehörigen
winterlichen Schicht bilden sollten.
In Ermangelung von Fußgängern,
deren nnr vereinzelte dicht an den
Häusern hinschlüpften, kühlte er seinen
Muth um so eifriger an tobten Ge-
genständen. Unbarmherzig spielte er
mit den an ihren verrosteten Stangen
schwingenden, seltsam verschnörkelten
Herbcrgsschildern, wie mit den auf
Erkerthürmchen und Giebclspitzen
sich krampfhaft drehenden Wetter-
fahnen/ Deren klägliches Kreischen
nnd Pfeifen schien ihm Ergötzen zu
bereiten. Nicht einmal die Flam-
men in den Laternen verschonte er mit
seinem hinterlistigen Treiben. Bor
seinem erstarrenden Hauch zerstoben
in Atome die den Dachrinnen und
blechernen Drachenköpfen entquellen-
den Tropfen, welche die größte Neigung
vcrriethen, Eiszapfen zu bauen.
Mit besonderer Wuth rüttelte er
an einem gälgenartigen Gerüst, welches
auf einem öffentlichen Platz vor einem
langen festgefügten Brcttergebäude in
die verfinsterte Atmosphäre hinauf-
ragte. Trotz aller Anstrengung ge-
lang ?s ihm nicht, eine umfangreiche
Rolle Wachsleinwaud, die von Pfahl
zu Pfahl hinüberreichte, ihrer Fesseln
zu entledigen, um sie dann, ähnlich
einen: aufgelösten Segel, sich nach
unten entfalten zu sehen. Wäre es
ihm aber geglückt, so hätte die Leucht-
kraft der beiden in guter Manneshöhe
an den Pfählen befestigten, verzwcif-
lungsvoll um ihr Leben kämpfenden
Laternen nicht so weit gereicht, um
die der Leinwand aufgetragene In-
schrift lesbar hervortreten zu lassen.

Auf derselben stand nämlich in schöner, großer
Frakturschrift: „Wachsfiguren-Kabinet von Erasmus
Flieder." Um diese Ankündigung zu verdeutlichen, war
derselben eine Anzahl vor Gesundheit strotzender Por-
träts berühmter und berüchtigter Größen aus allen
Schichten der menschlichen Gesellschaft beigefügt worden.
Besonders ragte die Abbildung einer Mädchengestalt
hervor, welche sich durch die braune Farbe ihres Ge-
sichtes, ungewöhnlich langes, schwarzes Haar und einen
Phantastisch geschnittenen, roth und schwarzen Anzug
auszeichnete. Dereu Bedeutsamkeit erhöhend, waren um

ihr Haupt in Form eines Heiligenscheins die Worte:
„Lebende Beduinenprinzessin" leserlich niedergeschrieben
worden.
Doch was an dem heutigen sturmdurchtobten Abend
dem etwa Vorübergehenden verborgen blieb, das tonnte
eingehend betrachtet und geprüft werden, wenn man
durch einen wetterdichten Vorbau nach Erlegung des
mäßigen Eintrittsgeldes unter einen: grünen Fries-
vorhange hindurchschlüpfte. Dort befand inan sich An-
gesichts einer, die ganze Länge des Gebäudes ausfüllcn-
den, mit rothem Kattun beschlagenen, etwa drei Fuß
hohen Tribüne, aus welcher minde-
stens siebenzig Figuren neben ein-
ander und hinter einander erträglich
geordnete Gruppen bildeten.
Der heutige Abend war des bösen
Wetters wegen derartigen Schau-
stellungen zwar nicht günstig, allein
Herr Erasmus Flieder war ein zu
gewiegter Geschäftsmann, um aus
Sparsamkcitsrücksichtcu durch etwas
Sturm und Schnee sich zum früheren
Schließen seines Kuusttcmpels be-
wegen zu lassen. Zehn Uhr, gewöhn-
lich das Zeichen des Feierabends,
hatte es indessen schon geschlagen. Die
Kassendame, eine in ihren: Schafspelz
fast verschwindende Gestalt, deren ver-
bittertes, ursprünglich gewiß nicht
unschönes Antlitz in: Ringen nach
Gewinn beinahe den Charakter eines
Geierkopfes angenommen hatte, war
daher mit ihrem wärmenden Kohlen-
topf aus dein Verschlage nach den
Wohnungsräumen übergesiedelt, und
noch immer säumte Herr Erasmus
Flieder, den beiden in phantastische,
tressenbesetzte Livreen gekleideten
Burschen den Befehl zum Auslöscheu
der Lampen zu ertheilen.
Zwei Besucher waren nämlich
noch anwesend, ein Herr und eine
Dame, anscheinend ältere Leute, deren
Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit
durch Schleier und emporgeschlagenen
Pelzkragen verhüllt wurden. Vor
einer halben Stunde erst waren sic
eingetroffen. Seitdem hatten sie bald
diese, bald jene Gruppe oberflächlich
betrachtet, gelegentlich auch einige
kurze Bemerkungen gewechselt, die in-
dessen wohl kaum die Sehenswürdig-
keiten betrafen. Erst nachdem die
letzten vereinzelten Besucher iu's Freie
hinausgetreten waren, wurden sie
lebhafter in ihren Bewegungen. Es
rief sogar den Eindruck hervor, als
hätten sie nur auf deren Entfernung
gewartet, um sich den bescheidenen
Kunstgenüssen ungestörter hingeben

Die Söldlinge.
Roman
Wal'duin Möllhansen.
- (Nachdruck verboten.)
Erstes Uapitel.
/ kalter Novembersturu: fegte durch die
abendlich beleuchteten Straßen und Gassen
einer alterthümlichen

Mädchen ans dem Sarnthale. Nach einem Gemälde von H. Ballheim. (S. 7)
Photographie-Verlag von V. Heck in Wien.
/lliuuX
lVMVLULl
V UIU8. /
 
Annotationen