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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 25.1890

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Heft 13
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https://doi.org/10.11588/diglit.51136#0313
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1890


sich jener Tage noch genau entsann. Aber erst auf die
damaligen Ereignisse gebracht, schilderte sie redselig, wie
man ängstlich darauf bedacht gewesen wäre, Alles in
tiefes Geheimnis; zu hüllen. Sie selbst dagegen, wenn
auch damals schon schwerhörig, habe ihre gesunden
Angen und ihren vollen Menschenverstand besessen. An
,das Märchen von den Zwillingen hatte sie nie ge-
glaubt. Ihr Argwohn aber fand seine volle Bestäti-
gung, als der eine Knabe Plötzlich wieder verschwand.
Nach diesen ersten Mitthcilungen sann Lizard ernst
nach. Plötzlich flackerte es wie Heller Triumph in
ihren Augen ans. Mit flüchtiger Hand zeichnete sie


und um die

Königin Amalie von Portugal mit ihrem siingstcn Söhnchen. (S. 311)


- (Nachdruck verboten.)
viernndzwanzigstrs Kapitel,
war an einem Festtage
Zu welcher das
Wachsfigurenkabinet ge-
schlossen gehalten werden
mußte. Erasmus Flieder
und seine Gattin benutz-
te ten diese Stunden zu
einem Geschäftsausfluge. Galt es doch,
baldigst einen Ort zu verlassen, an
welchem ihnen der Boden unter den
Füßen brannte. Die beiden Gehilfen
vergnügten sich unterdessen in ihrem
Verschlage mit Kartenspiel, während
Lizard auf dem gegenüberliegenden
Ende des Gebäudes zum Rechten sah.
Neben der tauben Greisin saß sie an
dem Arbeitstisch, in der rechten Hand
ein Stück Kreide, mit welchem sie die
wunderlichsten Figuren auf die Tisch-
platte zeichnete, in der linken einen
Lappen, um sie alsbald wieder aus-
zulöschen. Dieses wie ihre Geberden,
welche sie mit lebhaften Handbewe-
gungen begleitete, dienten ihr als
Mittel, sich mit der tauben Alten zu
verständigen. Die Letztere hieß solche
Stunden stets willkommen. Des Le-
sens und Schreibens ebenso unkundig
wie Lizard, beschränkte ihr geistiger
Verkehr sich fast ausschließlich auf den
Gedankenaustausch mit der erfinderi-
schen, scharfsinnigen jungen Genossin.
Aus solchen Ursachen hatte sic denn
auch eine große Vorliebe für Lizard
gewonnen, die ihrerseits alles Mög-
liche aufbot, dem unglücklichen alten
Geschöpf das einsame Dasein etwas
freundlicher zu gestalten.
An dem heutigen Tage zeigte Li-
zard sich besonders rührig im Fragen
und Erklären. Sie hatte es darauf
abgesehen, zu erforschen, wie weit die
Erinnerungen der Alten rücksichtlich
der Geburt des Sohnes der Flieder-
schen Gatten und das Erscheinen des
zweiten Säuglings noch lebendig seien.
Auf die ihr eigentümliche leicht ver-
ständliche Art drang sie in die alte
Frau, und so erfuhr sie, daß dieselbe

Die Söldlinge
Roman
Wakduin ZKössöausen.
(Fortsetzung.)

nach Kinderart zwei kleine menschliche Gestalten auf
den Tisch. Zwei ähnliche Figuren, weit größer, ent-
standen oberhalb derselben. Von diesen, die an ein-
zelnen äußeren Merkmalen als Flieder und seine Frau
unverkennbar, zog sie zwei Linien zu je einem der beiden
unteren Figuren. Dann eilte sie in die Kunsthalle
hinaus, kehrte aber schon nach einer Minute zurück, in
der Hand den Hut, welchen sie von Roland's Haupt
genommen hatte, und denselben dicht neben der einen
kleineren Figur aufstellend, bezeichnete sie diese als den
Sohn Flieder's. Mit flinkem Griff vernichtete sie die
Verbindungslinien zwischen der anderen kleineren Figur
und den beiden größeren, worauf sie
, die Alte fragend ansah. Diese nickte
zustimmend. Sie wies auf die Figur
neben dem Hut und nannte sie Roland.
Lizard's Augen vergrößerten sich
ein wenig. Ihren ganzen Scharfsinn
bot sie auf, eine doppelte Bestäti-
gung des Zeugnisses der Alten her-
beizuführen. Sie verwischte die Ver-
bindungslinien zwischen dem Hut und
den beiden Flieders, und stellte die
anderen wieder her. Die Alte schüt-
telte den Kopf unwillig, löschte die zu-
letzt gezogenen Linien aus, nahm die
Kreide aus Lizard's Hand und er-
neuerte die anderen ziemlich ungeschickt.
„So war's, und so ist's geblieben,"
erklärte sie zuversichtlich; „Du bist ein
kluges Mädchen. Hab' Dich immer
gern gehabt mit Deinen trotzigen Au-
gen; denn redetest Du nicht zu mir
auf Deine Art, möcht's mit mir sein,
wie mit 'nem abgenutzten Wachsge-
sicht, gerade gut genug, um in den
Kessel gethan und umgeschmolzen zu
werden. Ich verstand Dich genau. Du
willst wissen, ob der Roland zu den
Flieders gehört, oder der Andere, der
mit ihm an derselben Brust lag."
Lizard gab ein dringlich bejahen-
des Zeichen, und die Alte fuhr eifrig
fort: „Dieser ist Flieder's richtiger
Sohn," und sie berührte die Figur
neben dem Hut mit der Fingerspitze,
„und der da ist anderer Leute Kind.
Ich hätt's nicht herausgebracht, aber
da war die Frau, die den fremden
Neugeborenen herbeitrug, der be-
schwerte es das Gewissen, daß die
beiden Kinder vertauscht werden könn-
ten, wenn sie selber nicht mehr am
Leben und nicht Zeugniß ablcgen
könnte. Deshalb suchte sie mich eines
Tages auf, als ich allein war, und
ein Horn brachte sic mit, dys setzte
sie mir in s Ohr, und dadurch redete
- sie verständlich zu mir, ohne daß sie
viel zu schreien brauchte. Sie meinte,
 
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