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heſt 1.

x

Das BudH füur ALle:

259



der Maire, „alz die Leiche in einen Sack zu binden
und über den Abhang hinunterzurollen.“ .
„Dann fäme fie aber in Stücke zerfetzt unten im
Thale an,“ gab Meunier zu bedenken, „unDd eine Re-
kognoszierung wäre gänzlich ausgeſchloſſen!“ .
Natuͤrlich ſchlage ich dieſe Art des Transports nur
für den Fall vor, daß wir über die Perſönlichkeit des
Verungluͤckten aus ſeinem Nachlaß uns genügend unter-
richten können!“
Die anderen erklärten ſich damit einverſtanden.
Geben Sie dem Führer Nachricht,“ ſagte der
Richter, „daß wir ſeine Ankunft hiex abwarten. Er
ſoll ſo ſchnell, als feine perſönliche Sicherheit es zu-


kürzeſten Weg hierher nehmen, um uns die der Leiche
abgenommenen Gegenſtände auszuliefern. Der Tote
ſoll einſtweilen noch liegen bleiben.“

Die Verſtändiguͤng war mittels Zeichen bald ge-
{Gehen, und man ſaͤh den tapferen Führer ſich über
den Rand der Kanzel ſchwingen und, behutſam der
Schurre folgend, den Rückmarſch antreten.

Eine beiſpielloſe Unruhe bemächtigte ſich des Pro-
feſſors und der Frau Lugenz.! Wäre man darüher
unterrichtet geweſen, welchen Weg Eyen hierhex Lin-
ſchlagen mochte, ſie hätten ſich's nicht nehmen laſſen.
ihm entgegenzueilen. Um ihn nicht zu verfehlen war's
aber beijer, ſein Kommen hier abzuwarten.

Der Richter verhandelte inzwiſchen mit dem Maire
über die weiteren Maßnahmen! Er hielt es für wün-
ſchenswert, daß Eyen, wenn er den Weg zum zweiten-


damit man eine doppelte Ausſage über die Auffindung
des Toten zu Protokoll nehmen fonnte. Dann maßen
ſie auf der Karte die Stelle ab, an dex die Leiche
landen würde, wenn man ſie in der beabſichtigten
Weiſe zu Thal ſchaffte Wahrſcheinlich rollte ſie gegen
den Nand des kleinen Wäldchens, das ſich genau ober-
halb von Almagel befand. Gefährlich war das Be-
ginnen immerhin, denn ein ſo ſchwerer Gegenſtand
war wohl im ſtande, eine Lawine ins Rollen zu bringen,
durch die das ganze Gemeindewäldchen verſchüttet wer-
den konnte-

Nach faſt dreiſtündigem Warten im glühenden
Sonnenbrand auf der ſchneebedeckten Kuppe ſah man
einen Trupp Leuͤte über die nächſte Gebirgzkuliſſe
herüberkommen. Eiligen Schrittes näherten ſich die
Männer und Burſchen ihrem Maire.

Eyen war ein ſſtattlicher, ſchwarzbärtiger Mann.


letzte Strecke Wegs entgegengeeilt! Eyen lieferte aber
dis Gegenſtände nur dem Maire aus. In ſeiner dra-
ſtiſchen Art — er ſprach den eigentümlichen Oberwalliſer
Dialelt — ſchilderte er dabei die Lage und das Aus-
ſehen des Toten genauer.

Es iſt nur ein Wunder, daß er hei ſeinem Ab-


hat,“ ließ er ſich hören. „Ueberhaupt iſt mir's ein
MNätfel, mwie der Mann von dem Plateau abſtürzen
fonnte. Er muß fich platt auf den Leib gelegt und in
den Abgrund hinabgefehen haben, dabei broͤckelte der
überhängende Rand unter ihm ab. Er fuchte haſtig
zurückzukriechen, aber da brach die ganze Scholle unter
ihm weg, und er ſtürzte durch das Geſtrüpp, das ihm
das Geficht aufriß, feine vierzig Meter weit hinab.
Waͤre er nicht mit ſeinem Rock an dem Felsriff hängen
geblieben, {o hätte er ſogleich eine Thalfahrt von ſieben-
bis achthundert Meter angetreten !“

Er gab noch weiter feine Anſicht über den Fall
kund führte aus, daß der Unglückliche ſicher jämmer-
lich geſchrieen haben müſſe, denn Kniee und Arme ſeien
halb zerſchmettert gewefen und er habe doch fürchten
müſſen, bei ſeinen erſchöpften Verſuchen, die Schurre
zu gewinnen, auf der er ſich leidlich zu halten ver-
mochte, von neuem abzuftürzen. Und unter welchen
Schmerzen, welcher Angſt, welcher Verzweiflungsqual
mußte der Verwuͤndete dann, dem Inſtinkt folgend, die
Wanderung auf der Schurre, mehr kriechend als gehend,
zurücdgelegt haben!

Weder Frau Lugenz noch Meunier oder der Pro-
feſſor ſchenkten ſeinen Ausführungen, die mehr an den
Ortsvorftand und die anderen für den alpinen Teil
der Sache beſonders intereſſierten Genoſſen gerichtet
waren, irgendwelche Beobachtung. Haſtig durchforſchten
fie vielnehr die Gegenftände, die ihnen der Maire hatte
einhändigen laſſen. Mit fliegendem Atem durchblätterte
Frau Lugenz das Notizbuch *

Es enthielt in der Ledelpreſſung des Einbands die
Initialen Leonards und deffen Familienwappen!

Die erſten Seiten waren nur mit Zahlen, Berech-
nungen und Adreſſen ausgefüllt. Das Buch ſchien ſich
noch nicht lange im Gebrauch befunden zu haben, denn
von der zwanzigſten Seite ab waren die Blätter leer.

Doch plötzlich ſtieß Frau Lugenz einen Schrei der
Ueberrafchung aus; fie hatte die letzten Blätter des
Büchleins aufgeſchlagen.

Seine leßten Worte! Aufzeichnungen in der Todes-
ſtundel! fagte fie, in größter Erregung die krauſen
Zeilen überfliegend.




Der Schluß des kleinen Buches wies vier anſchei-
nend mit einem ſogenannten Tintenſtift beſchriebene
Blaͤtter auf. Die Buchſtaben waren zum Teil durch
Näſſe ineinander gelaufen, zum Teil durch Blutſpuren
unkenntlich geworden.

Frau Lugenz ſuchte die franzöſiſch geſchriebenen


erregte ſie daͤs hier in der Qual der Sterbeſtunde wit
erſtarrender Hand niedergeſchriebene Geſtändnis. Sie
mußte ſich, aͤufs tiefſte erſchüttert, auf. einen Felſen
niederlaffen. Inzwiſchen ſtudierten Fränkel und der
Richter den tragiſchen Inhalt der wenigen Seiten.

Wie ein letzter verzweiflungsvoller Hilfeſchrei klangen
die Worte, die der Unglückliche niedergeſchrieben haben
mochte, um ſein Herz zu erleichtern, in der beſtimmten
Ausſicht ſeines nahen Endes.

„Allbarmherziger Gott und Vater,“ ſo ſtand auf
der letzten Seite mit zitternder Schrift, „Ddie Todes-
ſtunde iſt da, ich muß vor deinen Richterſtuhl treten!
O habe Erbaͤrmen mit mir armem Sünder, laß mich
nicht lange leiden, verkürze meine Qual, inbrünſtig
bete ich zu dir!“

Dann ſchien eine Pauſe eingetreten zu ſein. Die
Schrift auf der vorhergehenden Seite war feſter und
enger. Der Unglückliche haͤtte, von Schmerzen erſchöpft,
inzwiſchen reſigniert. Alle Energie nahm er nur noch
dazu zujammen, eine Beichte abzulegen, bevor er aus
dem Leben ſchied

„Hier liege ich! dem qualvollſten Tod preisgegeben.
Ich will meine Seele erleichtern vor Gott und vor
den Menſchen, falls dieſe Zeilen je einem Lebenden
in die Hände fallen ſollten. Il war kein Mörder —
Herrgotk im Himmel, der du jeden meiner Schritte
kennft, weißt es! Ich mar an jenem gräßzlichen Tage,
an dem der Zufammenbruch der Hütte Fortuna mich
an den Bettelflab gebracht, mehr noch, mich zum ewigen
Schuldner meiner heimlich voͤn mir beraubten Nichte
gemacht hat, nur zu dem Zweck in das Haus meines
Schwaͤgers Lugenz in Siders eingedrungen, um die
Proben, die aus Chabrys Offizin ſtammten, zu ver-
tauſchen, weil die von mir verſchaffte Analyſe nicht
ſtimmte und meinen Betrug verraten mußte. Ich
ſchwöre bei meinem Seelenheil, daß ich nicht die Ab-
ſicht hatte, Frida umzubringen. Die Vertauſchung hatte
ohne meinen Willen, rein zufällig, ſtattgefunden.. Ich
entdeckte ſie erſt, als ich wieder auf dem Altan ſtand
und Marianne zurückkehrte, um dem Kind die Medizin
zu reichen. D, hätt! ich da den Mut gehabt, ihr zu-
zuſchreien: Thu's nicht! ... Welchen Segen hat mir
die Unterlaſſung der Warnung gebracht? Ich bin Fridas
Erbe geworden. Wenig genug war von dem Weſitz
Luciens übrig geblieben! Spielverluſte, verfehlte Spe-
kulationen hatten mich dahin gebracht, das Mundelgut
anzugreifen! Gott ſei mir ein gnädiger Richter! —
Ich wollte fliehen, zuvor aber den Anſchein erwecken,
als ſei ich hier oben in den Bergen verunglüct. Früh
am Morgen war’8. Mariannes Ruf verklang in der
Ferne, da führte ich mein Vorhaben aus. Die Hütte
ſchützte mich davor! geſehen zu werden. Ich legte
mich platt nieder, eine kleine Hautwunde brachte ich
mir bei, um den oberſten Felsvorſprung mit Blut zu
beſpritzen, meinen Hut, meine Uhr warf ich ins Ge-
ſtrüpp! Da plötzlich geſchah das Unglück. Der Ruck-
faͤck rutſchte mir auf den NMacden. Erſchrocken drehte
ich mich um ihn feſtzuhalten, denn er enthielt eine
beträchtliche Summe. Als ich nachher aus meiner
Ohnmacht erwachte, hing ich mit meinem Gürtel mitten
an der entſetzlichen fleilen Wand, an einem Felsvor-
ſprung. Tief unter mir blaute der See. Meine linke
Hand war zerſchmettert, auch meine Kniee und der
Unterarm waren verletzt aber ich verſpürte keinen
Schmerz. Ich ſann nur, wie ich mich vor dem weiteren
Abſturz relten fönnte, ich ſchrie, ich jammerte, ich
betete, doch keine Erlöſung naͤhte. Da endlich nahm
ich alle Kraft zuſammen und erreichte ſo die Schurre,
auf der ich ſpäter hierher gelangt bin, aber die Schmerzen
bei der Preſſung der Hand und des Kniees machten
mich ohnmächtig! Hier lieg ich nun ſeit einer Stunde.
Es wild finiter. Sturm fommt, ich werde die Nacht
nicht überleben. Gott erbarme ſich meiner. Gott er-
barme ſich meiner.“

Dieſer Bericht hatte der letzte ſein ſollen, das
ergab der Ynhalt, aber die davorſtehenden Seiten
enthielten noch weitere Niederſchriſten, die der ſteifen
verjerrten Buchſtaben wegen kaum leſerlich waren auch
hatie ſie der Schnee vielfach verwiſcht. ;

Es iſt Tag! Cin neuer Tag. Barmherziger Vater
im Himmel, warum erlöſeſt du mich nicht? Meine
Hand iſt erſtarrt, ich fühle den Stift nicht, mit dem
ich ſchreibe. Aber auch meine Wunden fühle ich nicht.
Ich liege eingebettet in Schnee. Ein weißes Leichen-
Das iſt mein Bahır-
tuch, dieſer ewige Schnee, der meine Leiche vielleicht
nie mehr zu Tage kommen laſſen wird. Kein Glied
vermag ich zu rühren. Mein Geſicht brennt, wie von
Feuer. Ich tauche es in den Schnee, um es zu kühlen.
In meinen Eingeweiden brennt und nagt der Hunger.
Ich eſſe Schnee. Herr, mein Gott, ſoll ich hier ver-






ſamer Tod. All meine Sünden bereue ih. O Goͤtt
im Himmel, mach ein Ende!“ ;

Die Buchſtaben wurden immer fchwerer zu ent-
ziffern. Es war deutlich wahrzunehmen, wie die Finger
des Schreibenden mehr und mehr abgeſtorben waͤren.
Schließlich wurde die Schrift ſo unbeholfen, daß an-
zunehmen war, der Sterbende habe den Schreibſtift.
mit der vollen Hand umklammert, um noch ein paar
Schriftzüge ausführen zu fönnen. In dieſer Haltung
hatte Ehen den erſtarrten Leichnam ja auch aufgefunden.

„Es ſchneit, es ſchneit! Der Wind Heult.“ Ich
bin wie erblindet vom Schnee! Wie lang hab’ icdh ge-
legen? Es iſt Dämmerlicht. Schwindet der Tag oder
* ein neuer an? Allbarmherziger Vater, erlöfe
mich!“

Dann an einer anderen Stelle mit großen Buch-
ſtaben: „Ich ſehe Frida vor mir und Lucie. Barm-
herzige Muͤtter Goltes, bitt für mich! Sie, werden
Maͤrianne anflagen. Ich bin im ewigen Schnee be-
graben und kann ſie nicht erlöſen. Mutter Gottes,
bitt für mich! Ich fühle keine Kälte, keine Hitze mehr.
Gott - Vater , ı
Läſſeſt du midh noch immer nicht ſterben?
Gottes, bitt für mich !“

Damit brachen die Aufzeichnungen ab.

Erſchüttert hHatten Frau Lugenz, Fränkel und der
Richter einander im Voͤrleſen abgelöjt. Was der eine
nicht zu entziffern vermochte, wußte Der andere zU
Ddeuten.

Die Leute aus Almagel erfuhren erft hernach durch
den Maire, um was es ſſich hHandelte. Ehen war tief
ergriffen, als er vernahm, daß der Unglückliche, deſſen
trägiſches Schickſal er ſo von Herzen bedauert hatte,
mit einem Verbrechen beladen aus der Welt geſchieden
mwar. Er nahm ſeinen Hut ab und ſprach eine Für-
bitte. Die anderen folgten ſeinem Beiſpiel.

Der Profeſſor und Frau Lugenz, die ſich zuerſt
nur in der bitterſten Anklage gegen den Elenden der
die Schuld an Fridas Tod irug, und der in feiger,
heimtückiſcher Weiſe die Verdächtigung Mariannes zu-
gelaſſen, ergangen hatten, fühlten bei der Vorſtellung
der ungeheuͤerlichen Aualen, die jener erlitten, ſchließ-
lich doch ein menſchliches Erbarnien.

„Da Gott den Sünder ſchon auf Erden ſo furcht-
bar ſtrafte, ſo ſei e& genug der Anklagen!! ſagte der
Profeſſor.

Auch Meunier war tief bewegt. „Cin Todeskampf,
der faſt drei Tage und drei Nächte währt,“ fagte er
erſchauernd, „mwie gräßlich! Die Strafe des irdiſchen
9 wäre milder geweſen! Friede ſeiner

che!“

Frau Lugenz hatte, nachdem ſie in Gemeinſchaft.
mit Meunier von Alniagel aus mehrere Telegramme
aufgegeben, natürlich zunächſt das Bedürfnis gehaht,
an daͤs Krankenlager ihres Sohnes zu eilen, um ſich
mit ihm auszuſprechen.
lieber ſofort nach Sitten zum Gericht zu begleiten.
Wie die Sachen jetzt lagen, war als ſicher anzunehmen,

Mutter


entlaſſen werden würde.
gequäiten jungen Frau ihres Sohnes viel wieder gut
zu machen, darum ſollte ihr'z überlaſſen bleiben, der


bringen.
So geſchah es denn auch.
Stephan erfuhr die kaum mehr gehoffte Wendung,
die alle Rätſel löſte, alle Geheimniſſe aufdeckte aus
dem Munde ſeines Schwiegervaters, der um Mitter-
nacht noch bei ihm eintrat
In der Frühe des nächſten Tages er hatte in
den wenigen Stunden vor Aufregung kein Auge zu-


Cr hörte Stimmengewirr. Nachbarsleute ſchienen her-
beizueilen, um Ddie Ankömmlinge zu ſehen. Wie ein
Lauffeuer hatte ſich noch geſtern abend die Kunde von


breitet. Erleichtert atmeten alle auf. Doltor Lugenz
hatte ſich allenkhalben der größten Sympathie erfreut,
und ſeiner jungen Frau haͤtte man das Verbrechen ja
auch nur widerſtrebend und erſt dann zugetraut, als
ein Verdachtsmoment das andere in ſo erſchreckendem
Maße verftävfte. Wie im Triumph ward die hart-
geprüfte, abgehärmte junge Frau empfangen. Die zu-
dringlichen, wenn auch guͤtgemeinten Grüße der Frem-
den krieben ihr aber das Blut in die Schläfen.

Im Hausflur harrten Mariannes Eltern des An-
kömmlings, hinter dem die alte Frau Lugenz bleich
und vor innerer Bewegung zitternd am Krückſtock ein-
herſchritt. Man ſprach kein Wort; man preßte einander
nur zum Willkomm die Hände.

Dann eilte Marianne die Treppe empor, und ein


des Paares loslöſte, verkündete den tiefbewegt unten
Harrenden, daß die beiden ſchwergeprüften Menſchen
4 endlich gefunden hHatten, gefunden zu einem neuen
Leben!
 
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