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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 6
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0144
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lzest 6

Vg5 Luch fül'LUe n

Ihr Gatte stand am Flügel neben der Tochter
des Hauses, die unter ihren Noten suchte. Jetzt
reichte sie ihm ein Blatt, das er aufs Pult stellte.
Da ward's still ringsum.
Mia stand noch unter dem Einfluß ihrer letzten
Empfindungen, fie sah in Mersbachs Gesicht, das
ihr so schön nie erschienen. Sie wollte zu ihm gehen,
ihn fragen. Da floß eine Stimme durch das er-
wartungsvolle Schweigen — tief und weich, wie
verschleiert von stillem Weh.
„Wär' ich geblieben doch auf meiner Heiden,
Da Hütt' ich nichts verspürt von all den Leiden.
Wär' ich daheim doch nur, mär' ich geblieben,
Da hält' ich nichts gewußt von all dem Lieben.
Bleiben, ach, darf ich nicht und kann nicht scheiden —
Wär' ich geblieben doch auf meiner Heiden!"
In Mia ging ein Strahl der Rückerinnerung auf.
Sie sah die Heide rot im Sommerkleid und das
dürre Kraut in Herbsttrauer vor sich liegen.
Eine Einöde war's, ein Nichts ohne ihn. Gut,
daß sie nicht dort blieb!
Ein dummes Lied war's! Das allertörichtstevon
allen törichten Liedern.
„Mir ist auf Erden nun kein Glück beschieden.
Und nur das Grab allein bringt mir den Frieden.
Hätt' ich doch, Liebster, dich niemals gesehen,
Um meine Ruhe, ach, wär's nicht geschehen.
Halten dich darf ich nicht, kann dich nicht meiden.
Wär' ich geblieben doch auf meiner Heiden."
Ihn nicht gesehen! Mia lächelte.
Mersbach, neben der Sängerin stehend, küßte
dankend deren Hand.
Da schnitt Mia eine dunkle Gewalt ins Herz.
Sie fühlte den Schmerz und zuckte darunter zu-
sammen.
Aber die Helle um sie leuchtete fort, und andere
heitere Weisen erklangen, Lachen und Scherzen.
Da verlor sich das ahnende Bangen ihrer Seele. —
Als sie neben ihm wieder in ihr eigenes Heim
trat, so traulich in seiner Stille und Gemütlichkeit,
zog sie ihren Gatten in einen Sessel nieder und setzte
sich auf ein Kissen zu seinen Füßen, die Arme auf
sein Knie gestützt.
„Egmont und Klärchen!" sagte er launig.
„Nur Mia und Richard," entgegnete sie innig.
„Ich brauche ja auch morgen erst um fünf Uhr
aufzustehen," scherzte er, ihr Haar streichelnd. „Weißt
du schon, daß wir in diesem Jahr des Kaisermanövers
wegen länger ausrücken als sonst?"
„Nein," sagte sie hastig. „Du sollst überhaupt
nicht von mir gehen."
„Das geht nicht an. Desto größer ist dann die
Freude des Wiedersehens."
Sie sah ihn unverwandt mit träumenden Augen
an. „Glaubst du, daß es möglich ist, jemand zu
lieben, wenn man schon einmal jemand anderen
geliebt hat? Ich meine, ob man zweimal dasselbe
aufrichtig sagen und fühlen kann? Sage mir das."
Er zögerte einen Moment, dann sagte er ruhig:
„Das glaube ich wohl."
„Du glaubst es," wiederholte sie leise. „Da
muß ich's auch glauben. Aber ich sehe die Möglich-
keit nicht ein."
„Es gibt unerfüllbare Wünsche, unstillbare Emp-
findungen, es gibt gescheiterte Hoffnungen. Ver-
hältnisse und Verhängnisse schlagen manchen Ge-
dankenbau in Scherben. Aber es gibt ein Etwas,
das aus diesen Scherben herauswächst: die Einsicht.
An ihrer Hand schreitet man darüber hinweg. Die
Wunden, die man sich dabei holt, heilt die Selbst-
achtung, und über die mehr und minder tiefen Narben
gleitet glättend die Zeit." Er beugte sich über sie
und liebkoste ihre Wange. „Du weißt doch: Und
neues Leben blüht aus den Ruinen."
„Ist das bei Männern so und bei Frauen?"
fragte sie nachdenklich.
„Bei Männern nnd bei Frauen," sagte er ruhig.
„Und sie fragen sich nicht, wenn fie einander
Treue schwören, ob sie schon einmal jemand anderes
lieb gehabt haben?"
„Das können sie tun, wenn sie wollen," sagte
er lächelnd. „Warum nicht? Aber das sind Dinge,
die kein Liebender gern hört und berüyrt."
„Nicht?" rief sie hastig. „Also ist es doch nicht
so ganz natürlich, wie du eben sagtest."
„Mein liebes Kind," sagte er, ihre gefalteten
Hände erfassend, „jeder zertretenen oder erloschenen
Neigung haftet etwas Übereiltes und Törichtes an.
Es ist kein Grund, sich dessen zu rühmen oder aber
den Selbstanklüger zu machen. Das wäre das Ge-
ringste, was eines Mannes Herz beschwert einer ge-
liebten Frau gegenüber."
Er hatte sehr warm gesprochen. Bei den letzten
Worten nahm er ihren Kopf in beide Hände und
beugte sich, ihre Augen zu küssen.
„Was ist Liebe? Der Kinderglaube sieht sie auf
Engelsflügeln durch die Welt schweben, dein Herz
träumt sich hinein wie in ein Märchen. Wie der

Mensch, so ist seine Liebe. Sie ist Rose dem einen,
und Giftblume dem anderen. Man fragt nicht, wie
sie entstand, noch unter welchem Zeichen."
Der Hauch seines Kusses war das Überzeugende
für Mia.
„Ja, wie in ein Märchen," flüsterte sie mit
schwärmerischem Aufblick. „Als hätte ich im roten
Heidekraut geschlafen, und du hättest mich wach-
geküßt."
„Heideprinzeßchen!" sagte er, ihre Lippen küssend.
„Vielleicht bin ich's," flüsterte sie neckisch, und
ihr reizendes Gesicht färbte sich höher. „Wer bin
ich denn überhaupt? Ich hab' mal einen kleinen
Vogel gehabt, der war aus dem Nest gefallen. Ich
hab' ihn ausgenommen und großgezogen. Ich bin
auch solch kleiner Vogel, den Tante großgezogen
hat und großgefüttert — und das war keine Kleinig-
keit. Aus welchem Nest mag ich wohl gefallen sein?"
„Danach frage ich nicht," sagte Mersbach lächelnd.
„Jetzt habe ich dir ein Nest gebaut, aus dem wirst
du nicht wieder herausfallen."
Sie schrak auf. „Hörst du, es donnert —"
„Es war zu schwül. Wenn's jetzt nur losgösse,
damit wir morgen früh beim Exerzieren nicht solchen
Staub haben."
Er stand auf und zog sie mit sich empor.
„So wie ich dich jetzt an meine Brust ziehe und
an mein Herz drücke, müßtest du die Geheimschrift
in meiner Seele lesen können."
Sie schmiegte sich eng an ihn. „Brauchst mich
nur anzusehen, so weiß ich —"
„Kind, das Leben birgt so viele Rätsel," sagte
er gepreßt. „Daß du mich von Anfang an so
liebtest, sieh, war auch solch Rätsel. — Aber es ist
spät. Um fünf Uhr muß ich in den Dienst."
Da rann's ihr wunderlich heiß durch die Glieder.
Sie konnte nicht anders, als ihm nacheilen und
seinen Namen rufen, angstvoll und zitternd, als sähe
sie ihn in unbekannter Ferne verschwinden. „Richard!
O, Richard!"
Er fing sie mit dem Ausdruck vollster Liebe in
seinen Armen auf. „Was denn, meine süße kleine
Mia?"
„Geh nicht fort!" murmelte sie. „Nicht ins Ma-
növer. Bleib bei mir. Es ist mir so, als dürft's
nicht sein, als stände etwas dazwischen, was mich
ängstigt."
„Also Rebellion gegen die Bestimmungen des
Oberkommandos," sagte er heiter. „Jedenfalls etwas
Neues und nicht gerade Vielversprechendes."
„Was gehen dich die fremden Menschen an!"
flüsterte sie, zärtlich über seine Wange streichend.
„Was wissen die von unserem Glück!"
„Du gehst, während ich fort bin, nach Elbental.
Da weiß ich dich sicher aufgehoben."
„Laß mich hier!" bat sie rasch. „Das wäre so
schön, wenn ich dich hier erwarten könnte. — Weißt
du," fuhr sie mit kindlichem Eifer fort, „was ich
tue? Gerade wie damals, wenn ich das Weihnachts-
fest nicht erwarten konnte — alle Tage auf ein
Stück Papier geschrieben und jeden Abend einen
Tag ausgestrichen. Zuletzt nur noch drei — zwei
— einen — dann bist du wieder da."
Er küßte sie bewegt. „Das kannst du in Elben-
tal ebenso machen. Ich selbst schreibe dir die Tage
auf und gebe dir meinen Bleistift, sie Abends aus-
zustreichen und meiner dabei innig zu gedenken. —
Aber, Kind, allein zurücklassen hier kann ich dich
nicht, die Regimentsdamen gehen sämtlich fort.
Wohl keine hat ein Elbental wie du."
„Darf ich dir alles sagen?" flüsterte sie.
„Nur heraus damit!" neckte er, sie lächelnd an-
sehend. „Möchte wetten, daß ich's weiß."
„Deine Mutter —"
„Meine Mutter liebt die Frau, die ihren Sohn
glücklich macht, wie ihre Tochter."
Mia schrak zurück. „Wie ihre Tochter?"
Seine Züge verfinsterten sich.
„Verzeih — ich kann's nicht vergessen. Das
Bild steht immer vor meiner Seele." Eine reizende
Röte der Verlegenheit flog über ihr Antlitz. „Ich
bin immer so dumm gewesen, zu glauben, daß,
wenn ich jemand mein Herz hinhalte, er's gern
nimmt. Gewiß ist's meine Schuld. Aber deine
Mutter hat's nicht genommen. Sonst müßte ich's
ja gar nicht abwarten können, ihr um den Hals
zu fallen, ihr zu danken für alles Glück — und, o
was für glückselige Dinge ihr anzuvertrauen!"
„Versuche es nur," sagte er ruhig.

In der Nacht hatte sie einen wunderlichen Traum.
Ihr war, als säße die blonde Tochter des Obersten
an ihrem Bett und sänge mit lauter Stimme:
„Wär' ich geblieben doch — wär' ich geblieben —"
Als sie erwachte und lauschte, war's der Wind,
der nach dem Gewitterregen verdrossen um die
Scheiben strich.

127

vierrehntes Kapitel. .—
Das Regiment rüstete sich zum Ausmarsch. In
vielen Wohnungen waren schon die Fenster ver-
hangen — ein Zeichen, daß die Frauen für sich
und ihre Kinder Sommerfrischen und Elternhäuser
ausgesucht.
Auch in der Villa Mersbach herrschte der un-
ruhige Geist des Aufbruchs. Des Rittmeisters Ge-
päck stand zum Abholen fertig im Treppenhaus.
Am nächsten Morgen in der Frühe ging's ins Ma-
növergelände.
Es war Mersbachs innigster Wunsch gewesen,
Mia selbst nach Elbental zu geleiten, aber unvor-
hergesehene Zwischenfälle vereitelten dieses Vor-
haben. So mußte er sie dem Schutze ihrer er-
fahrenen und reisegewandten Jungfer anvertrauen.
Droben in ihrem Ankleidezimmer stand Mia im
Reisekleid. Sie brauchte nur noch den Hut auf-
zusetzen und die Treppe hinabzusteigen, so war das
geschehen, was ihr seit Tagen schwer auf der Brust
gelegen.
Die Baronin hatte ihr ihre Befriedigung aus-
gesprochen, sie in Elbental zu empfangen, und da-
neben die Hoffnung, eine angenehme Zeit mit ihr
zu durchleben. Das alles klang so korrekt, so höf-
lich, daß Mias warmes Herz sich mit einem ersten
Gefühl der Bitterkeit gegen diese korrekte Höflichkeit
auflehnte. Wenn sie mit ihrem jungen Glück zu
dem alten Fräulein ins Heidehaus geeilt wäre, welch
ein Freudensturm wäre durch das Häuschen ge-
braust! —
Mersbach trat ein. „Bist du fertig? Der Wagen
fährt gleich vor."
Als er sie, mit ihren Tränen kämpfend, stehen
sah, ging er hasüg auf sie zu und nahm sie in seine
Arme. „Heute in sechs Wochen bin ich ja wieder
bei dir. Und das wird eine so große Freude sein,
daß eine törichte kleine Frau jetzt nicht mehr böse
über die Trennung denken darf. Wir haben uns
doch, Kind," fuhr er ernst fort. „Und wenn wir so
innig aneinander denken und uns zueinander sehnen
und aufgehen in dem Wunsche des Wiedersehens —
ist das kein Glück? Wenn ich nun in den Krieg
müßte!"
„Das überlebte ich nicht," flüsterte sie mit zucken-
den Lippen.
„Alles überlebt man, Kind. Und die traurigsten
Witwen haben oft sehr glückliche zweite Ehen ge-
schlossen. Das ist das Leben. — Aber," sagte er
lächelnd, „wenn du morgen ins Abendrot siehst,
dann weißt du, daß ich an dich denke nach über-
standener Hitze und Mühe. Und wenn dir der alte
brave Mond ins Gesicht scheint, dann kreuzen sich
unsere Grüße unterwegs."
Sie nickte.
„Die Briefe, die ich schreiben werde, nicht zu
vergessen."
„Ich habe deine Bräutigamsbriefe alle so gut
aufbewahrt —"
„Das solltest du nicht tun," fiel er hastig ein.
„Nicht?" fragte sie erstaunt. „Hast du die meinen
denn nicht mehr?"
Er konnte unmöglich in diesem Augenblick sagen,
daß er die paar harmlos-glücklichen Schreiben aus
der Feder einer ihm damals völlig Gleichgültigen
ebenso gleichgültig in den Papierkorb geworfen
hatte, wie vor kurzem die Karte aus Monaco voll
Leidenschaftlichkeit. Dabei fiel ihm ein, daß er in
jener verzweifelten Morgenstunde, als er das Billett
der Prinzessin erhielt, dasselbe in seiner geheimen
Schreibtischschublade verschlossen, unfähig, sich da-
von zu trennen.
Diese Erinnerung gehörte jetzt nicht mehr dort-
hin, sie mußte verschwinden.
„Du hast sie also nicht mehr?" fragte Mia leise —
„meine Briefe?"
„Doch, Kind!" sagte er rasch. „Was auf dem
Papier steht, steht auch im Herzen. Dort ist es
am sichersten bewahrt."
Er stellte die erzwungenen Worte jener Bräu-
tigamsbriefe mit freimütiger Scham in Vergleich
mit der freudigen Hoffnung, die jetzt sein Herz
erfüllte und mit überwältigender Kraft in ihm
emporquoll.
Er riß Mia an seine Brust und preßte sie leiden-
schaftlich an sich. „Kind, Kind — wie liebe ich dich!"
In diesem Geständnis ging alles unter, was einst
gewesen, befreite sich seine Seele von Haft und
Zwang. Er hätte sich zu Mias Füßen stürzen und
bitten mögen: vergib, was ich Unwürdiges heimlich
an. dir getan, vergiß es, wie ich's vergesse! Sieh
jetzt in mein Herz bis auf den Grund — und wenn
du darin etwas anderes findest als dich allein, dn
süßes, verkanntes Lieb, dann hasse mich so, wie ich
dich liebe!
„Und du schickst mich doch fort?" flüsterte sie,
mit glücklichen Tränen seine Wange netzend.
 
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