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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 6
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0147
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1Z0. . -
Er faßte sich gewaltsam. „Wir wollen schon hier
Abschied nehmen, denn es werden viele Menschen
heute auf dem Bahnhof sein."
Er nahm ihre Hände in die seinen und blickte
ihr tief in die gläubigen Augen.
„Wir fcheiden in der festen Hoffnung auf ein
frohes Wiedersehen, wir gehen als zwei Glückliche
voneinander, als solche finden wir uns wieder. Ich
werde im Andenken an dich meine Pflicht mit dop-
pelter Lust und Liebe tun, im Andenken an mich
wirst auch du deinen Tochterpflichten gegen meine
Mutter mit Lust und Liebe nachkommen. Darauf-
hin den letzten Kuß, meine Mia!"
Bei dem Worte „letzten" schlich wieder das
rieselnde Frösteln durch ihre Adern. „Du mußt
nicht sagen — den letzten. Es klingt so traurig!"
Sie lehnte sich an seine Schulter.
„Ich möchte dich gern einmal nennen zum Ab-
schied — so sehr gern —"
„Mich nennen?" fragte er erstaunt. „Wie denn?"
Sie errötete über und über. „Du — mein Ge-
liebter!" flüsterte sie kaum vernehmbar.
Er bedeckte ihren Mund mit Küssen. „Du, meine
Geliebte! Meine heißgeliebte Mia!" —
Der Diener trat ein und meldete das Vorfahren
des Wagens.
„Komm!" sagte Mersbach zurücktretend. „Setz
deinen Hut auf."
Sie drückte ihn hastig vor dem Spiegel in ihr
Blondhaar, noch ganz berauscht vom Glück dieser
Abschiedsstunde.
Dann ging sie neben ihm die Treppe hinab.
Auf dem Bahnsteig drängte sich an diesem Tage
eine eilfertige Menge, Bekannte und Fremde. Auch
nicht ein einziges vertrautes Wort konnte in diesem
Gewühl mehr gewechselt werden.
Als der Zug heranbrauste und mit donnerndem
Tosen in die Hall: einfubr, geleitete Mersbach Mia
zu einem reservierten Abteil, worin sie mit ihrer
Begleiterin die Fahrt sicher und wohlbewahrt zurück-
legen konnte.
Er stand zwischen seinen Kameraden und sah
zu ihrem Fenster auf, darin sie in all ihrer Lieblich-
keit lehnte und zu ihm hinablächelte.
Noch ein Gruß, ein Zuruf — dann schrillte die
Dampfpfeife — eine zuckende Bewegung erschütterte
die gekoppelte Wagenreihe.
„Auf Wiedersehen!"
„Fort rollten die Räder — aus der Halle ins
Freie — und weiter.
Mias Tuch flatterte noch in der Luft. Und ein
anderes Tuch wehte Antwort.
Jetzt kam die Kurve und alles war versunken. —
Zu Hause traf Mersbach den Wachtmeister der
Schwadron seiner harrend an. Dann versammelte
ein Befehl des Obersten die Offiziere noch einmal
im Kasino. Hieran schloß sich ein gemeinsames Mahl.
Endlich fand der Rittmeister bei seiner Rückkehr gegen
Abend noch dienstliche Zuschriften vor, die erledigt
werden mußten.
Darüber wurde es spät, und er vergaß den Brief
Alexandra Luises, den er vernichten wollte.
Am nächsten Morgen in aller Frühe rückte er
mit dem Regiments aus.

Der Abendhimmel flammte in voller Pracht,
als Mia den Wagen bestieg, welcher sie von der Re-
sidenz nach Elbental brachte, denselben Weg, welchen
Mersbach nach jener Stunde im erbprinzlichen
Palast wie ein Träumender zurückgelegt.
Uber die Stoppeln strich der Wind. In den
bunten Blättern der Bäume rauschte es. Von ferne
herüber schallte Unkenruf.
Immer rascher griffen die Pferde ans, je mäch-
tiger das Schloß feine Umrisse gegen den Nacht-
himmel abhob. Über die Brücke des Schloßgrabens,
welcher heute noch wie zu Kricgszeiten sein Wasser
malerisch um das Gebäude spannte, donnerten jetzt
ihre Hufe bis vor das Eingangsportal, wo der alte
Hausmeister und Frau Lüders die junge Fran in
Empfang nahmen.
Mia hatte den festen Entschluß gefaßt, sich mit
aller Geduld um die Zuneigung ihrer Schwieger-
mutter zu bewerben, damit sie Hellen Blickes ihrem
Gatten ins Auge sehen konnte.
Also lief sie eilends die Treppe hinauf und ins
Wohnzimmer der Baronin, bevor diese Zeit hatte,
über die Schwelle zu treten.
„Guten Abend, liebe Mutter! Du hättest nicht
auf mich warten sollen! — Ich bringe dir viele,
viele Grüße von Richard. Er wäre gern mitgekom-
men, allein der Dienst ließ ihm keine Zeit. Aber
nach dem Manöver, dann hast du ihn für ein paar
Wochen."
Sie sprach so viel und so schnell, um über ihre
Beklommenheit Hinwegzukommen, und küßte dabei
wiederholt die Hand der Baronin.
Frau v. Mersbach, deren Standpunkt unverrückt

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derselbe geblieben war wie in jener Nacht, als sie
nach ihres Sohnes Beichte diesem die Frage vor-
legte, ob er bei Sinnen sei, beugte ihre hohe Ge-
stalt zu einem kühlen Stirnkuß. „Ich hatte aller-
dings darauf gerechnet, euch beide willkommen zu
heißen. Für deine Unterhaltung wäre dann besser
gesorgt, als bei mir alten Frau allein."
„Liebe Mutter," sagte Mia eingeschüchtert, „ich
komme doch nicht zu dir, damit ich mich amüsiere.
Ich wollte dir so gern sagen, wie glücklich ich mit
deinem Sohne bin und wie dankbar dafür dir, seiner
Mutter."
„Desto besser! Dann werden wir die Zeit ent-
sprechend hinbringen. Der Hof kommt in drei
Wochen zurück. Die Erbprinzessin ist, wie ich höre,
nicht bei guter Gesundheit, will aber doch den Winter
hier verleben. Sie hat sich nach dem südlichen Auf-
enthalt im Frühjahr einem zu schroffen Luftwechsel
ausgesetzt und einen nicht ganz unbedenklichen Ka-
tarrh davongetragen."
„Die arme schöne Frau!" sagte Mia mitleidig.
„Sie war immer so gütig zu Richard."
Die Baronin schluckte schwer genug an diesen
Worten. „Allerdings," sagte sie hart.
Ja, wenn Mia sich jetzt neben die Mutter ins
Sofa hätte schmiegen können, den Kopf an ihre
Schulter lehnen und das übervolle Tochterherz in
das warmschlagende Mutterherz hätte ergießen
können, dann wäre des Plauderns wohl kein Ende
gewesen. So aber schützte sie Müdigkeit vor, als
die Baronin ihr anbot, noch eine Tasse Tee in ihrem
Zimmer einzunehmen, und zog sich zurück.
Sie bewohnte jetzt die prunkvollen Gastzimmer
des oberen Stockwerks, deren Einrichtung ihrer
Jungfer laute Bewunderung entlockte.
Mia aber dachte nur an das verborgene Bild in
Frau Lüders Kammer, und ein brennender Wunsch
stieg in ihr auf, dasselbe in ihren Besitz zu bringen.
Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Und wieder träumte sie, das tote schöne Mädchen
träte über ihre Schwelle.
„Bleiben, ach, darf ich nicht und kann nicht scheiden —"
Als sie erwachte, lugte die Sonne durch die
Spitzenvorhänge und die rotseidenen Gardinen bis
mitten ins Zimmer hinein.
Die Quelle des Lebens tat sich wieder auf.
An einem Nachmittage der nächsten Woche fuhr
ein Mietwagen in rasselndem Trabe die nämliche
Chaussee entlang und hielt vor dem Portal des
Schlosses in Elbental. Aus Befragen des Dieners,
wen er zu melden habe, überreichte ihm der In-
sasse des Wagens seine Karte.
„Ich komme, sagen Sie dies der Frau Baronin,
sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen,
und lasse bitten, mich empfangen zu wollen."
Im Gartensaal, dessen Fenster weit geöffnet
waren, saß Frau v. Mersbach und nähte Wäsche
für das unter dem Protektorat der Herzogin stehende
Waisenhaus, eine Beschäftigung, der auch Mia sich
mit löblichem Eifer unterzog.
„Was ist?" fragte sie den eintretenden Diener,
nahm die Karte vom Teller und warf einen Blick
daraus.
„Seller? Bedaure!"
Wie elektrisiert sprang Mia auf, daß Schere und
Garn zur Erde flogen. „Doch nicht der Herr Pastor
selber?"
„Allerdings," sagte die Baronin kühl. Und znm
Diener gewendet fuhr sie fort: „Sie wissen Be-
scheid!"
„Und den soll ich nicht sprechen?" rief Mia, den
Mann am Arme festhaltend. „Meiner Tante besten
Freund, meinen Vormund und Wohltäter? Bitte,
sagen Sie dem Herrn Pastor, daß nicht die Frau
Baronin, aber ich ihn — Oder nein, warten Sie!
Ich kann ihm das besser selber sagen. — Verzeih,
liebe Mutter —"
Sie rannte in stürmischer Eile die Stufen hin-
unter ins Treppenhaus, wo Pastor Seller harrend
stand.
„Schönen, schönen guten Tag!" rief sie schon
von weitem und Freude strahlte aus ihreu Augen,
als sie seine Hand nahm und innig an die Lippen
drückte. „Gott sei Dank, daß ich Sie wiedersehe,
mein guter, lieber Herr Pastor! Wie geht's Ihnen
nur? Erst mal ansehen! Ganz gut — ganz schön!
Noch ein bißchen mehr ergraut, aber sonst — Ach,
wie ich mich freue, wie ich mich freue!"
Er heftete einen langen Blick auf sie. „Darf ich
noch Mieze sagen?"
„Aber gewiß! Wie heimatlich mir das klingt!
Ordentlich im Herzen fühle icb's. Ja, Mieze müssen
Sie sagen! Mia paßt gar nicht für Sie, mein lieber
guter Herr Pastor." Sie hatte seinen Arm gefaßt
und führte ihn die Treppe hinauf. „Solche böse
Krankheit! Und gerade zu meiner Hochzeit!"

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„Der Herr hat viel an mir getan, daß er mich
noch einmal gesunden ließ. Ich war reisefertig und
auch reisefroh. Aber so lange man noch nützen kann
auf Erden —"
„Nein, nein, Sie sind noch lange nicht abkömm-
lich," rief Mia herzlich. „Mein armes Tantchen
war's zwar auch noch nicht — und ging doch fort.
Habe mich so oft gefragt, warum?"
„Liebes Kind," sagte Seller ernst, „wir sehen
nur das Weberschifslein, das mit uns flink hin und
her schießt, aber den Einschlag, den sehen wir nicht
— das ist die göttliche Ordnung, die den Faden
fest gespannt hält."
Sie nickte lebhaft. „Gewiß — so wird's schon
sein!"
Nun, da sie ihn im Hellen Licht sah, erkannte
sie die Spuren des Leidens in seinem Gesicht und
in seiner gebeugten Gestalt. Aber noch einen Zug
las sie von diesem Antlitz ab, der ihr unverständlich
war.
„Kummer gehabt?" fragte sie leise und streichelte
seine Hand.
„Du hast keinen schlechten Blick, Kind. — Ich
hätte gern deinen Mann wiedergesehen."
„Wiedergesehen?" rief Mia erstaunt. „Haben
Sie ihn denn schon einmal gesehen? — Ach ja,
weiß schon — damals auf der Heide, als er mich
nach dem Weg fragte, da ging er zu Ihnen. Was
wollte er denn von Ihnen, lieber Herr Pastor?"
„Du wirst es erfahren." Er strich sich über die
grauen Haare. „Die Baronin ist zu Hause?"
„Ja — aber sie wollte Sie nicht empfangen."
„Die Gründe weißt du nicht?"
„Wie sollte ich? Ich sprang ja gleich auf und
lief weg."
Pastor Seller blickte sinnend vor sich nieder.
Dann sagte er kurz und bestimmt: „Führe mich in
ihr Zimmer, ich muß sie auf jeden Fall sprechen."
Als Mia zaudernd und verlegen stehen blieb,
wiederholte er seine Bitte nachdrücklich.
Da ging sie langsam ihm voran nach dem Garten-
saal, öffnete die Tür und ließ ihn eintreten. Dann
ging sie hinauf in ihr Zimmer.
Der Baronin entsank die Arbeit vor Unwillen.
„Gegen meinen Wunsch!" sagte sie herbe, ohne sich
von ihrem Platze zu rühren. „Sie können doch un-
möglich erwarten, daß ich den Mann, den mein
sterbender Gatte vergebens zu sich rief, bei mir zu
sehen wünsche."
Pastor Seller neigte schweigend sein Haupt.
Die Freifrau, schroffer denn je, erhob das ihre
um so höher. „Mein Sohn hat mir von einem
Grunde gesprochen, der zu romantisch klingt, als
daß er glaubhaft wäre. Es scheint, daß sich in jener
Zeit die Köpfe krankhaft verwirrten —"
„Und die Herzen versteinerten," sagte Seller un-
bewegt. „Wenn Ihr Sohn nur von meiner Liebe
zu Ihrer Tochter sprach, vergaß er den tieferen
Grund meines Scheidens aus einem Hause und
einem Amte anzugeben, die mir einst fest ans Herz
gewachsen waren."
Er trat an den Tisch und schob mit sprechender
Gebärde die Wäsche beiseite.
„Frau Baronin, ich ging, weil ich einem Eltern-
paar nicht mehr näher stehen wollte, welches sein
Kind, sein unerfahrenes, sich selbst nicht kennendes
Kind in Nacht und Sturm hinausgejagt, damit es
verderbe und sterbe im Elend, im Lebensjammer!"
„Herr Pastor, ich verbiete Ihnen," rief die Ba-
ronin, gegen ihren Willen erschüttert, „dieses Er-
eignis weiter zu erörtern. Sie stehen in meinem
Hause, nicht wie mein Sohn damals in dem Ihrigen."
„Daß ich hier stehe gegen Ihren Willen," sagte
Seller, ohne Kränkung zu verraten, „müßte Ihnen
ein Beweis sein, daß ich Befugnis habe, so zu Ihnen
zu sprechen, daß die Riegel, die sich hinter jenem
Ereignis schlossen, aufspringen. Es gibt Dinge, Frau
Baronin, die nicht sterben können, weil sie noch zu
sühnen sind, Dinge, die nicht wir ausgleichen, son-
dern die Vorsehung, Dinge, die wie das vergrabene
Samenkorn ans Licht drängen — so die unmütter-
liche und unchristliche Tat an Ihrer hilflosen Tochter."
„Ich glaubte nicht," sagte Frau v. Mersbach mit
zwischen Zorn und Erregung schwankender Stimme,
„daß ein irriger Eifer jemand so unverzeihlich hin-
reißen könnte."
Pastor Tellers gebeugte Gestalt richtete sich höher
auf. Sein dunkles Auge fesselte den finsteren Blick
der Baronin unwiderstehlich an sich. „Jetzt spreche
ich im Namen einer Verstorbenen, deren letzten
Willen ich wie eine Beichte in Empfang nahm und
mit dem Versprechen besiegelte, danach zu handeln.
Und deshalb stehe ich vor Ihnen. Frau Baronin,
Ihre Tochter Marianne ist tot!"
Die Zornröte wich aus ihren Wangen.
„Ja, tot — im tiefsten Jammer und Elend ge-
storben. Ihr Gatte, Joseph Frank, ging vor ihr
hinüber, mit dem Bewußtsein, ihr sein Leben und
 
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