Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

DOI Heft:
Heft 7
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0172
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
lS4 . ..Vas Luch für Mle

lM 7

Er reichte ihm ein Blatt, das vor ihm auf dem
Schreibtisch gelegen hatte. Es war ein Bogen ge-
wöhnlichen Briefpapiers ohne Monogramm oder
sonstiges Abzeichen. Die Handschrift der wenigen
Zeilen, mit denen er beschrieben war, ließ sich nur
mit Mühe entziffern. Sie machte den Eindruck,
als ob der Schreibende sich der linken Hand bedient
habe, um seine Schrift dadurch unkenntlich zu machen.
Der Inhalt der Mitteilung lautete: „Ich erstatte
hierdurch die Anzeige, daß der Einbruch in die Villa
des Konsuls Brüniug und die Ermordung der Frau
durch eine Bande verübt worden ist, von der Her-
mann Ollendorf der Rädelsführer war. Er will
sich nach Amerika flüchten. Aber er ist jetzt noch
bei seinem Vater Paul Ollendorf."
Der Kommissär stu-
dierte das Blatt mit nach-
denklicher Miene. „Ano-
nym natürlich!" sagte er.
„Darf ich fragen, wann
diese Anzeige eingelaufen
ist?"
„Sie wurde um zwei
Uhr Mittags im Straßen-
briefkasten des Präsidiums
gefunden. Der Bries
ist nicht durch die Post
befördert worden,sondern
man muß ihn direkt in
den Kasten gesteckt haben."
„Sind bereits Nach-
forschungen angestellt?"
„Ich brachte zunächst
durcb telephonische Nach-
frage in dem betreffen-
den Revier in Erfahrung,
daß ein Zivilingenieur
Paul Ollendorf feit vielen
Jahren Mariengafse l8
wohnt. Er ist verwitwet
und hat einen erwachsenen
Sohn, einen Techniker
namens Hermann Ollen-
dorf, der zuletzt narb Ber-
lin abgemeldet war. Nach-
teiliges über Vater oder
Sohn war dem Revier
nicht bekannt geworden "
„Weiteres ist in der
Sache noch nicht ge-
schehen?"
„Doch! Tie Angelegen-
heit schien mir zu wichtig,
und da Sie im Augen-
blick für mich nicht erreich-
bar waren, betraute ich
Ihren Kollegen Wenzel
mit den vorläufigen Re-
cherchen hinsichtlich der
Beziehungen und des Leu-
munds der beiden Leute.
Er hat mir vor einer
halben Stunde mündli-
chen Bericht erstattet. Es
will mir danach scheinen,
als ob die Anzeige recht
ernste Beachtung ver-
diente. Paul Ollendorf ist
nämlich ein Stiefbruder
des Konsuls, und es ist
höchst wahrscheinlich, daß
er über die Verhältnisse
in der Billa Brüning ge-
nau unterrichtet ist. Er
gilt für einen Sonderling,
einen Menschen von krank-
hafter Reizbarkeit und
Empfindlichkeit. Seine Vermögensverhältnisse sollen
sehr ungünstige sein. Es heißt, daß er sich seit
Jahren mit allerlei unfruchtbaren Erfindungsideen
befaßt, die ihm vermutlich noch nicht das geringste
eingebracht haben. Von dem Sohne wird auch
nicht viel Gutes erzählt. Daß feine Rückkehr aus
Berlin, wo er zuletzt in einer Fabrik elektrischer
Apparate beschäftigt gewesen fein soll, zeitlich mit
dem in der Villa Brüning verübten Verbrechen
zusammenfällt, ist ein Umstand, der dieser ano-
nymen Anzeige jedenfalls eine besondere Bedeutung
gibt. Ich bin der Meinung, daß wir die Fährte
unbedingt weiter verfolgen müssen."
„Das ist auch meine Ansicht, Herr Inspektor,"
erklärte der Kommissär mit Entschiedenheit. „Das
sonderbare Benehmen des Konsuls würde ja mit
einem Male verständlich werden, wenn man an-
nähme, daß er selbst einen Verdacht gegen diesen
Neffen hegt und ihn doch aus begreiflichen Gründen
einer Bestrafung entziehen möchte. Es will mir
scheinen, als ob da keine Zeit verloren werden dürfte."

„Der Hermann Ollendorf darf uns nicht durch
die Lappen gehen — das muß unter allen Um-
ständen verhindert werden! Aber ich empfehle
Ihnen trotzdem bei den weiteren Ermittlungen die
größte Vorsicht. Der Konsul Brüning ist ein so
geachteter und hochangesehcner Mann, daß wir ihn
nicht ohne die zwingendste Notwendigkeit in seiner
Verwandtschaft kompromittieren dürfen."
„Ich werde diesen Rat beherzigen, Herr In-
spektor! Aber die Rücksicht auf den Konsul Brü-
niug darf doch wohl nicht weiter gehen, als es
das höherstehende Interesse der Gerechtigkeit ge-
stattet."
„Selbstverständlich nicht. In dem Augenblick,
wo Sie triftige Verdachtsgründe gegen einen der

beiden Ollendorf zu haben glauben, werden Sie
natürlich unbedenklich zugreifen."

Uber eine Moschinenzeichnung gebeugt, faß Paul
Ollendorf mit tiesgefurchter Stirn und vom Eifer
der angestrengten Beschäftigung geröteten Wangen
vorseinem Arbeitstisch, alsdraußen die Glocke anschlug.
Er war genötigt, selbst zu offnen, denn die Auf-
wärterin, die seinen kleinen Haushalt in Ordnung
hielt, pflegte sich schon in früher Nachmittagsstunde
wieder zu entfernen. Die Gasflammen im Treppen-
haus waren noch nicht angezündet, und feine von
der Helligkeit der Arbeitslampe geblendeten Augen
vermochten in der draußen herrschenden Dunkelheit
den Einlaßbegehrenden, einen Mann von hoher,
stattlicher Gestalt, nicht sogleich zu erkennen.
„Sie wünschen?" fragte er kurz, denn er war
ärgerlich über die Störung.
In der nächsten Sekunde aber hob er überrascht
den Kopf, denn es war die wohlbekannte Stimme
des Konsuls, die ihm Antwort gab.

„Ich biu es, Paul! Hoffentlich bist du allein,
ich tzabe Dringendes mit dir zu reden."
„Ja, ich bin allein. Das heißt, Hermann ist
auch da. Aber er sitzt drüben in seiner Stube und
wird uns nicht stören." Er öffnete vor dem Besucher
die Tür des hellerleuchteten Arbeitszimmers und
rückte ihm einen Stuhl neben den Zeichentisch.
„Bitte — nimm Platz! Deswegen, das; ich in meiner
Dürftigkeit nicht viele Umstünde machen kann, brauche
ich mich wohl nicht erst zu entschuldigen."
Der Konsul hatte die Knöpfe seines Überrockes
aufgerissen und sich schweratmend niedergelassen.
Nun fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Stirn
und ließ seinen Blick in dem nüchternen Raum
umherschweifen wie einer, der die rechten Worte
für die Einleitung eines
peinlichen Gespräches nicht
zu finden weiß. „Nein,
du brauchst dich nicht zu
entschuldigen," sagte er
mechanisch. Und dann,
nach einem abermaligen
tiefen Atemzuge: „Er ist
also noch da?"
„Wer? Mein Sohn?
Natürlich! So schnell geht
es nicht mit der Amerika-
fahrt."
Die Hand des Konsuls
fuhr nach der Brusttasche,
und mit unsicherer, zau-
dernder Bewegung legte
er einen geschlossenen
Briefumschlag auf den
Tisch. „Da wir am Mor-
gen mit unserer Unterre-
dung nicht zu Ende kamen,
bringe ich dir hier das
Reisegeld für Hermann.
Es sind sechstausend Mark.
Das wird, wie ich hoffe,
für alle Fälle genügen."
Steif wie aus Holz ge-
schnitten saß Paul Ollen-
dorf da. „Nur deswegen
hast du dich zu so später
Stunde in eigener Person
bemüht? Das ist sehr
gütig, und ich danke dir
dafür. Das Geld aber
möchte ich doch lieber nicht
nehmen."
„Du willst es zurück-
weisen, nachdem du mich
erst vor wenig Stunden
ausdrücklich darum ersuch-
test?"
„Ja. Ich möchte es
lieber nicht nehmen."
„Weshalb nicht, Paul?"
„Ausmancherlei Grün-
den — hauptsächlich aber
deshalb, weil ich im Ver-
lauf der nächstenTage oder
Wochen selber so viel auf-
zutreiben hoffe, als unum-
gänglich notwendig ist."
„So magst du mir's in
Gottes Namen zu irgend
einer Zeit wiedererstatten,
Paul! Jetzt aber darfst
du's nicht zurückweisen.
Nm deines Sohnes willen
mußt du es annehmen."
„Ich verstehe nicht,
warum dir mit einem
Male so viel daran gele-
Daß du keine Belästigung
von ihm zu fürchten hast, habe ich dir doch schon
gesagt."
„Es geschieht auch nicht deshalb, daß ich seine
baldige, seine sofortige Abreise wünsche."
„Du hast also doch einen bestimmten Grund da-
für? Möchtest du nicht die Güte haben, ihn mir
zu nennen?"
„Sagtest du nicht am Morgen selbst, daß es am
besten für ihn wäre, wenn er Deutschland so bald
als möglich verlassen könnte?"
„Freilich! Aber auf den Tag kommt es dabei
doch nicbt an. Und überbauvt — nimm mir's
nicht übel, Gerhard! — ich möchte diese Sache lieber
allein mit meinem Sohne abmachen. Es war eine
Ungeschicklichkeit, daß ich dich um das Geld anging."
Da sprang der Konsul auf und stützte sich schwer
auf den Tisch. „Ruse deinen Sohn!" sagte er,
„und gestatte mir, ein paar Worte unter vier Augen
mit ihm zu sprechen."
„Wenn es deine Absicht ist, ihm ins Gewissen


Va5 veutschmeifterdenkmal in Wien. Nach einer ptzotograptzie von tz. Schutzmann in Wien.

lOlSZ)
gen ist, daß er sortgeht.
 
Annotationen