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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 8
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0190
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170 ' '—^.7.
Mer dem roten Dach stieg jetzt der Rauch empor,
auf dem Staketenzaun flatterte Wäsche im Morgen-
wind. Der alte treue Mann dort schleppte Holz
zum Herd. Da war auch ihr lustiger Spielgenosse
Fips, wie er seine Kunststücke zeigte —
Ihre überreizten Nerven sahen das alles so
greifbar vor sich, daß sie die Arme danach ausstreckte.
Wie war's dort so still! Wie sicher vor allem
Leide! Wie ließ sich's dort ausruhen — vielleicht
vergessen!
Schweren Schrittes ging sie noch einmal in
Richards Zimmer, wo die Sonne jetzt die abendliche
Verwüstung doppelt grell beleuchtete — auch das
weiße Blatt, welches noch immer auf dem dunklen
Teppich lag.
Sie hob es auf und meinte keinen Schmerz mehr
dabei zu empfinden, während doch eine tödliche
Kälte ihren ganzen Körper durchschlich.
Sie setzte sich vor ihrem Schreibtisch nieder, so
matt und gebrochen, als läge ein schweres Tagewerk
hinter ihr, und las den Brief noch einmal durch.
Bei dem Worte „Possenspiel" irrte ein bitteres
Lächeln — das erste in ihrem Leben — um Mias
Lippen. Sie nickte unbewußt — eine Posse war
ihr gepriesenes Glück ja gewesen.
Tann schrieb sie mit leidenschaftlicher Hast, olme
zu überdenken, ganz dem fiebernden Impulse hin-
gegeben, der sie mehr und mehr beherrschte:
„Hättest Du nur etwas Mitleid und Achtung
gehabt vor der Unerfahrenheit meiner Jugend, vor
der Unerfahrenheit meiner Liebe zu Dir, so brauchte
ich nicht durchzukämpfen, was mich seit gestern abend
an den Rand der Verzweiflung bringt. Aber Du
sandest es gleichgültig, Du und Deine Mutter und
jene andere, ob ihr mit meinem gläubigen Herzen
ein Possenspiel triebt oder nicht, ob ihr mich im
geheimen auslachtet und verspottetet. Wenn nur
ein Funken Rechtsgefühl in Dir gewesen wäre, so
hätte Dich mein blindes Vertrauen zurückhalten
müssen, statt zu ermutigen. Ich weiß ja nicht, zu
welchem Zweck ich geopfert worden bin, ich weiß
nur, daß ich mich voll Scham und Reue von dieser
Opferung lossage. Meine Mutter und ich haben
kein Glück in eurem Hause. Darum gehe ich, wie
sie auch gegangen ist, sage mich los, wie sie von
eurem Namen."
Sie zog, indes ihre Schläfen wie Feuer brann-
ten vor Erregung, den Trauring vom Finger, legte
ihn zwischen Alexandra Luises Brief und den ihren,
versiegelte das Schreiben und sandte es an Mels-
bachs Manöveradresse, die er ihr sorgfältig für alle
Tage ausgezeichnet.
Dann sprang sie auf, bebend an allen Gliedern.
Nur fort erst!
Und wie sie an ihrer tiefgewurzelten Liebe zerrte
und riß, schwebte ihr Pastor Selters Erscheinung
so greifbar deutlich vor Augen, daß sie mit einem
Erlösungsschrei die gerungenen Hände sinken ließ.
Nun wußte sie einen Freund in aller Not.
Drüben im Ankleidezimmer hing das Kleid,
welches sie am Morgen ihres Hochzeitstages ge-
tragen, bevor die Posse zu Ende gespielt ward.
Sie zog es hastig an, als sei damit zugleich das
letzte Band abgestreift.
In der Tasche knisterte etwas.
Was hatte sie doch damals so rasch hineingesteckt
und dann vergessen, ganz vergessen?
Sie zog es hervor: ein Kuvert — darin eine
Photographie. Vor dem Heidehaus der alte Sod-
mann — und Fips, eine Karte um den Hals: „Wir
gratulieren."
Da war's wieder, als ob alles in ihr aufschrie vor
Leid und Schmerz. Sie dachte gar nicht daran, wie
es werden sollte, woher die Mittel zu ihrem Unter-
halt nehmen, daß das Geld, welches sie bei sich
gehabt hatte, durch die Abgabe an die Gärtnerfrau
bis auf ein weniges zusammengeschmolzen war.
Sie wußte nur, daß der Weg nach ihrer Heimat
weit war, und daß sie eine Nacht durchfahren mußte,
wollte sie am kommenden Morgen die Tür des
Heidehauses öffnen.
Mit 'überstürzender Hast packte sie zusammen,
was zuvor ihr Eigentum gewesen. Auch nicht ein
Stück von allem, was an ihre Ehe erinnerte, sollte
sie in den Frieden der Heide begleiten.
Und dann sprach sie beschämt eine Unwahrheit,
daß sie eine unaufschiebbare Reise allein antreten
müsse zu der Dame, für welche sie den Ring er-
standen, übergab ihr Schreiben an Richard v. Mers-
bach der Jungfer zur sofortigen Besorgung und
befahl, daß nichts geschehe, den Feuerschaden zu
verbergen, sondern daß im Gegenteil alles so bleiben
sollte bis zur Rückkehr des Herrn Rittmeisters.
Dann kamen Stunden, von denen sie niemals
-ein klares Bild gewann und nie begriff, wie sie
dieselben überstanden: ihr Fortgang aus dem Hause,
in welchem sie den Himmel auf Erden zu finden
gemeint, die einsame Bahnfahrt, auf welcher sie

_- Va8 Luch fül- Me n
alles, daran ihre Seele gehangen, stetig und für
immer hinter sich ließ.
3ied?elfnte5 Kapitel.—
Noch lag der Frühnebel über dem Nadelholz-
wald, durch welchen der Zug langsam der einsamen
Station Zernow zustrebte, welche, eingebettet im
Forstausschnitt, wie verschlafen dalag, aber bei dem
Pfeifen der Lokomotive einiges Leben zu zeigen
begann.
Der Ruf des Schaffners veranlaßte keine sonder-
liche Bewegung. Ein paar Landfrauen und Bauern-
burschen mit Körben lind Ballen, Viehhändler und
Handwerker schoben sich gemächlich durch die Aus-
gangstür und zerstreuten sich auf dem Wege zum
Dorf hiuunter.
Hinter ihnen, den Schleier dicht um das Gesicht
gelegt, verließ Mia den Balmsteig.
„Könnte ich wohl einen Wagen haben nach dem
Hcidehaus?" fragte sie den Portier.
Der Beamte sah sie gleichgültig neugierig an.
Er war erst seit kurzem hier angestellt und kannte
sie nicht.
Sie drückte ihm ein Geldstück in die Hand.
„Wollen sehen!"
Wie lange war's denn her, daß sie im Trauer-
kleide auf derselben Stelle gestanden?
Eine Ewigkeit schien dazwischen zu liegen. Ein
Strom von Ereignissen war über sie hingerauscht
und hatte sie zu Boden gerissen. Ganz versunken
in ihre Gedanken wartete sie.
„Der Wagen ist da!" meldete der Zurückkehrende.
Sie zeigte auf ihren Koffer und stieg die Stein-
stufen hinunter.
Ein Korbwagen mit einem Ackergaul bespannt,
den ein halbwüchsiger Bursche am Zügel hielt, stand
bereit, sie und ihr Gepäck aufzunehmen.
„Nach dem Heidehaus soll ich fahren?"
Sie nickte.
Fort ging's in hartem Trabe, die Dorfstraße
hinab.
Da war Leben! Durch die offenen Fenster des
Schulhauses schallte Gesang. Hühner und Gänse
stoben gackernd und schreiend zur Seite, eine Schar
bissiger Köter stürzte dem Gefährt nach und machte
einen wüsten Lärm. Aus Türen und Fenstern
streckten sich neugierige Köpfe, die Fremde zu sehen,
welche dem einsamen Hause einen Besuch abzu-
statten kam.
Niemand erkannte Mieze Helling in dieser ernsten
und vornehmen jungen Frau.
Endlich war das Dors vorbei, die letzte Scheuer,
die letzte weidende Herde vorbei.
Die Heide tat sich auf.
Da lag sie braunrot im Nebeldunst. Aber durch
die wogende Masse schossen schon einzelne Sonnen-
pfeile.
Jetzt, mit einem blendenden Ruck, schleuderte
die Sonne den Nebelrest beiseite und füllte das öde
Land mit königlichem Glanze.
Mias Blicke strebten nur dem roten Dach zn,
aus dessen Schornstein ein spärliches Rauchwölkchen
gen Himmel stieg.
Und dort — da winkte auch der Holunderbusch
aus seiner Gartenecke — und über dem Staketen-
zaun flatterten bunte Tücher.
Sie preßte die Hände gegen das zuckende Herz.
Der Wagen hielt vor der Gartentür — Mia
fprang zur Erde.
Der Bursche setzte den Koffer ab, nahm sein
Geld und fuhr davon.
Im Hausflur winden Schritte laut. Die Tür
ging auf. Vor Sodmann her lief knurrend der
Pudel.
Da, mit einem Male, als Mia Sodmann wort-
los die Hand entgegenstreckte, verwandelte sich des
Hundes Knurren in ein Freudengeheul. Mit mäch-
tigen Sätzen sprang er ihr an die Brust, an die
Schulter — wedelnd und vor Freude wie ein Irr-
wisch um sie herumtanzend.
„Fräulein Mieze — Frau Baronin-"
Sie hielt Sodmanns harte Hand fest in der ihren.
„Ich bleibe hier," sagte sie dann leise. „Bei euch
beiden."
Die Schwelle, welche sie so oft lustig über-
sprungen, über welche der Sarg des alten Fräuleins
hinausgetragen ward, lag frisch gescheuert imSonnen-
licht, wie damals.
Drinnen — alles unverändert. Der runde Tisch
mit der gewürfelten Decke — die Geranienstöcke
am Fenster — der Nähtisch mit dem Fingerhut
darauf und der Lesebrille.
Nur die Schlafstubentür mußte aufgehen und
das alte Fräulein, die schwarze Mütze auf dem
Haupt, erscheinen — dann war alles, wie es vor
Jahren gewesen war.
Nur sie selbst, das glückliche Kind, war einen Weg
gegangen, auf dem sie sich selbst nicht wiederfand. —

Wt 8
Am Nachmittag rief sie Fips und ging mit ihm
auf die Heide hinaus.
Es war sommerlich warm, und der Himmel voll
leichter Federwölkchen.
Der Steig, den ihre Kindcrfüße querfeldein nach
der alten Kiefer getreten, war längst verwachsen.
Sie mußte durchs raschelnde Kraut schreiten, das
seine harten Stengel nicht beugen wollte.
Da stand der alte verwitterte Gesell, noch
knorriger und zerzauster wie einst, in seinem ver-
worrenen Gezweig zwitscherten Wandervögel Ab-
schiedslieder.
Mia setzte sich zu seinen Füßen nieder, den Pudel
zur Seite. Sie hatte des Lebens Glanz gesehen,
war auf seinen Höhen gewandelt. Nun erkannte
sie die Leere unter dem verführerischen Schein, der
nur fordert und so wenig dafür gibt.
Und wie sie's dachte, war's ihr, als habe sie
diesen Platz nie verlassen, als schwärmten dieselben
Bienen, dieselben Falter um sie her, als kämen
Schritte wieder näher —
Fips richtete sich in die Höhe.
Mia war's, als müsse sie in den Schoß der Erde
versinken — Willi Selter stand vor ihr, sprachlos
vor Überraschung und von allerschmerzlichstem Stau
neu ergriffen.
„Sie — hier?"
Die junge Frau sprang auf.
Er trat ihr hastig näher. „Was tun Sie hier?"
Das war der Mann, dem sie von der Überfülle
ihres Glückes gesprochen, dem sie mit diesem Be-
kenntnis unwissentlich das Herz unsagbar schwer
gemacht.
„Ich bin wieder in meinem Eigentum." Sie
fühlte, daß der Reif um ihr Herz die Stimme schärfte.
„Aber der Grund, der Grund —?" Er stockte.
„Ich gehe zu weit — verzeihen Sie! Die alte
Freundschaft ist ja zu Ende."
Ihr leidender Anblick berauschte ihn.
„Wenn es eine Möglichkeit gäbe, sie wieder an-
zuknüpfen! — Gibt es eine solche? Ich bin selbst-
süchtig, nicht wahr? Denke nur an mich —"
Er glaubte, daß sie vor der unüberwindlichen
Abneigung der Freifrau gegen Joseph Frank und
aus Scheu vor ihres Gatten gleichwertiger An-
schauung hierhergeflohen sei, und entbrannte in Haß
gegen die Herzenshärte beider.
„Mein Vater ist gestern abend zurückgekehrt
und —"
Sie unterbrach ihn hastig. „Sobald ich kann,
komme ich zu ihm. Ich werde den richtigen Zeit-
punkt finden. Aber drängt mich nicht, drängt mich
nicht!"
Sein trauriger Blick glitt langsam über ihr süßes
Antlitz. „Wann immer Sie kommen — Sie wer-
den willkommen sein."
Er wandte sich ab und ging.
Als die Sonne versank, schritt auch sie langsam
heim.
Wie lange noch, und Richard v. Mersbach hielt
ihr Schreiben in der Hand?
Und dann?
Dann war Freiheit für ihn geschaffen und für
die Frau, die er liebte.
lind er würde vor ihr stehen, vor dem herrlichen
Weibe, das nach seiner Liebe verlangte, ihre wun-
dervollen Augen mit seinen Lippen schließen, ihr
zitterndes Lächeln mit seinen Küssen stillen. Er
würde das lang entbehrte Glück mit vollen Zügen
schlürfen und die törichte Tochter seiner Schwester
Marianne in Alexandra Luises Armen verspotten.
Da schrie sie auf vor Scham und Schmerz.
flcht/elMes Kapitel. - —- —
Heiß brannte die Sonne aufs Manöverfeld, wo
noch heißer der Kampf um Sieg und Niederlage
hin und her wogte.
Von der ersten Morgenfrühe an schlichen sich
die Schützenlinien der blauen Partei an die feind-
lichen Vorposten heran, welche schließlich auf die
Hauptstellung zurückgeworfen wurden.
Das Gelände war flach. Stoppel- und Kar-
toffelfelder zogen sich in einförmigem Wechsel wie
die Felder eines riesigen Schachbretts die Ebene
entlang. Nur jenseits, hinter dem Rücken des An-
greifers, wellte sich eine langgestreckte Anhöhe mir
beträchtlicher Steigung, deren maisbestandener
Kamm wie eine grüne Mauer aufragte.
Der Frühnebel lag noch über dem Boden und
klebte sich an Stiefelschäften und Tuchhosen fest,
daß es ihren Trägern frostig durch den Leib fuhr.
Aber der Wind faßte ihn schließlich und ballte ihn
zu grauen Klumpen, die schwankend nach dem
Wäldchen zu verschwebten, das in der Ferne als
letztes Merkmal ausgedehnter Forsten sich aufbaute.
Jetzt Pferdegetrappel. Der Oberst mit seinem
Stabe reitet heran.
Der Wind bläst lustiger. Da ist noch ein großer
 
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