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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 10
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0246
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214

einund/coanrigster Kapitel. —
Als Mersbach im Vorzimmer stand, kam's auch
über ihn wie eine Bergeslast, die sich an seine Schul-
tern hängte, seine Schritte erschwerte und nicht ab-
zuschütteln war.
Tie Stunde im Arbeitsgemach des Erbprinzen,
der mit außergewöhnlichem Eifer sich in Manöver-
angelegenheiten vertiefte und es sich nicht nehmen
ließ, sein lebhaftes Interesse zu bekunden, da seine
Ernennung zum Chef eines Regiments nahe bevor-
stand, diese Stunde erzwungener Gesprächigkeit
bildete einen neuen Ring in der Marterkette, die
ihm nachschleppte.
Mersbach atmete auf, als er die Treppe hinab-
stieg. Ja, wenn nach dieser geistigen Abspannung,
die ihn mehr und mehr überwältigte, Mia ihn da-
heim erwartete und ihre Arme nach ihm ausstreckte,
ihr süßes Lachen ihm entgegenschallie und die quä-
lende Erinnerung verjagte!
Aber sie war nicht da — kam nie wieder.
Seine Sehnsucht nach dem verlorenen Glück trieb
ihn, jemand aufzusnchen, der Mia lieb gehabt.
So fuhr er zu einem Kondolenzbesuche nach dem
alten Schloß.
Melancholie lag mit schweren Flügeln darüber.
Im Schloßhof wucherte das Gras zwischen den
Steinen. Vor den Fenstern der von der alten
Hoheit bewohnten Zimmer hingen Vorhänge nie-
der, und ringsum flogen welke Blätter im Winde.
Mersbach sah sein holdseliges Weib wieder vor
sich, wie sie in strenger Winterkalte mit Tanzschuhen
und einem Ungetüm von Mantel aus Kleeschens
Garderobeschätzen bis zu diesem Gitter neben ihm
geschritten war — voll unbewußter Liebe.
Fiebernd eilte er die Stufen hinauf zu der,
welche Mias Kinderherz zu schätzen gewußt. Klees-
chen, deren Blut sich nach dem gehabten Schreck
und Verlust noch immer nicht wärmen konnte, spann
sich in eine Temperatur ein, die Palmen zum Auf-
enthalt dienen konnte. Ihrer nicht schmerzlos ver-
gossenen Tränen halber trug sie jetzt über der grauen
Brille noch einen grünen Augenschirm. Vor ihr,
wenn sie im Lehnsessel saß, lag auf einem Tischchen
der angefangene Strumpf der alten Hoheit unter
einer Glasglocke.
So empfing sie den Rittmeister und reichte ihm
hocherfreut die halbbehandschuhte Rechte.
„Nicht sehr drücken!" sagte sie mit ihrem singen-
den Stämmchen. „Ich bin nämlich rheumntisch. Es
ist so einsam jetzt hier. Meine Gesellschafterin spricht
so oft vom Tode — und wir leben doch gern, wir
leben doch sehr gern, solange es irgend geht. Glauben
Sie, daß jemand gern stirbt?"
„Allerdings glaube ich das," sagte er tiefernst.
„Ich könnte mir sogar den Fall denken, daß jemand
lieber stirbt als lebt."
Er dachte daran, was ihm ein vereinsamtes Leben
in Elbental, was eine einsame Wanderung durch
die Welt bieten konnte nach dem jungen Liebesglück,
das er in seinen Armen, an seiner Brust gehalten.
„Warum haben Sie Ihr Frauchen nicht mit-
gebracht?" fragte Kleeschen freundlich. „Wo Sie
jetzt sitzen, hat sie nach dem Hofballe damals, der
ihr leider die Stellung kostete, vor mir gestanden
und — geschwärmt. Ihr Name, Herr v. Mersbach,
war ganz besonders vertreten." Sie hob ihren grünen
Augenschirm in die Höhe und blickte den Rittmeister
lächelnd an. „Wir haben ja alle mal geschwärmt —
Gott, ja, es ist lange her! Aber wie die kleine Hel-
ling damals von Ihnen — Sie Rattenfänger von
Hameln, Sie Mädchenfänger! — Sollten Sie nicht
so 'n bißchen hinter den Kulissen mitgewirkt haben,
als die Helling von hier nach Elbental ging?"
„Nein," sagte er hastig. „Ich wollte, ich wäre
meiner Sache damals sicher gewesen."
Sie drohte ihm mit dem Finger, fragte aber
doch neugierig: „Wo ist denn das hübsche Frauchen?"
„Daheim —"
Er konnte es nicht mehr ertragen. Der Lavendel-
geruch, die Hitze, das dünne Stämmchen flössen zu
einem Gemisch zusammen, das ihn aus der Tür
drängte. Das Gespenst des Alters hockte überall
in diesen Ecken, der wesenlose Geist des Vergangenen.
„Grüßen Sie Ihr Frauchen. Soll mich nur auch
besuchen, wenn sie kommt."
Wenn sie kommt!
Da stand er wieder im Freien, bedrückter als zu-
vor. Was hatte das Gespenst des Alters mit der
sprudelnden Jugendkraft seines Weibes gemein, mit
der köstlichen Frische ihrer neunzehn Jahre?

Gewaltsam suchte er eine geistige Gemeinschaft
zwischen sich und Mia fortzuführen, indem er das
Bild seinersSchwester aus Frau Lüders' Gewahrsam
in sein Zimmer schaffen und über dem Diwan be-
festigen ließ.
Nun hing es wieder im Hellen Licht des Bogen-

—. ! 7 Ruch sül- We -77— —
fensters und zeigte die lieblichen Züge der so früh
und im Elend Verstorbenen.
Er stand davor und grübelte dem Rätsel nach,
das sich zum Herrn und Meister der Menschengeschicke
macht. Zu hoch greifend er, zu niedrig hinabsteigend
sie. Wo war der Unterschied? Beide elend — —
Am Abend faßte die Baronin seine Hand. „Du
siehst sehr ermüdet aus, Richard. Lege dich zeitig
nieder."
„Es dürste seine Schwierigkeit mit dem Schlafen
haben," sagte er finster, sprang auf und trat in
den Erker ans Fenster.
Die Nacht war dunkel. Von der Tageswärme
zusammengezogen, hingen schwere Wolken tief herab.
Ein scharfer Wind hatte sich aufgemacht und jagte
die düsteren Gebilde wie eine Herde vor sich her.
„Ich weiß ein besseres Mittel," fuhr er fort, die
elende Aussicht auf eine zweite durchwachte Nacht
von sich schiebend. Dann ging er zum Glockenzug
und läutete.
Sie stand betroffen aus und trat zu ihm. „Was
willst du?"
„Mir Ruhe verschaffen."
Ein Ritt durch die kühle Nacht dünkte ihm eine
Erlösung nach diesem Tage.
„Jetzt? Nutzlos und unnötig in der Nacht?"
„Du willst ja, daß ich schlafen soll," sagte er,
ihre Hand ergreifend. „Es gibt Dinge, die man
sich erjagen muß, nicht erträumen. — Franz soll
die braune Stute satteln!" rief er dem eintretenden
Diener zu.
„Zu Befehl, Herr Rittmeister!"
Frau v. Mersbach vertrat ihrem Sohn den Weg.
„Stundenlang auf dem Pferde — mitten in der
Nacht!"
„Ich bitte dich, Mutter," sagte er halb lächelnd,
halb ungeduldig, „seit wann zählt ein Kavallerist
die Stunden, die er auf dem Pferde zubringt? Du
mußt mir schon den Willen lassen. Wenn ich zurück-
komme, wird mir leichter zu Mut sein. Gute Nacht!
Und was mich betrifft, ohne Sorge."
Er wandte sich ab und ging hinaus. Er fühlte
die winderfüllte Luft mit unaussprechlichem Be-
hagen um seine heißen Schläfen wehen, als er ans
dem Schloßhof in schnellem Trabe hinausritt und
die freie Landstraße erreichte.
Auch sein edles Tier sog mit weitgeöffneten
Nüstern die brausende Frische der Mitternacht ein,
von selbst ausgreifend und wie ein Schatten zwischen
den Feldern hinhuschend.
Aber je schneller er vorwärts jagte, desto un-
abweisbarer stellten sich die Bilder, denen er ent-
fliehen wollte, mitten im Wege vor ihm auf, wichen
nicht, wankten nicht. ä
Er sah, daß jetzt zu dieser Stunde, wo Lauscher
und Lauscherinnen ihr nichtiges Höflingstagewerk
verträumten, Alexandra Luise den schwersten Kampf
ausfocht und ihrer Gesundheit und Lebenskraft die
Kosten desselben auferlegte. Er sah, daß, wo die
Nacht über die Heide schritt, im Heidehaus ein er-
schrecktes und verschrecktes junges Weib seine Seele
wund rang nach Freiheit. Und wieder durchgärte
die Eifersucht sein schon entzündetes Blut.
Sie freigeben für einen anderen, der sich mit
seiner Liebe an ihr Leid heranschlich, unter dem
Mantel der Jugendfreundschaft seine Leidenschaft
verbarg, der sie mitten in,ihrem Schmerz gefangen
nahm durch die Lockspeise Trost, nach der sie un-
wissend und verlangend die Hand ausstreckte!
Mersbach gab seinem Pferde die Sporen, daß es
sich aufbäumte und in langen Sätzen davonflog. Alt-
mählich, wie seine Gedanken sich verfinsterten, be-
gann sein Körper vor Anstrengung zu glühen. Der
Schweiß rann ihm von Stirn und Nacken, und
immer noch stürmte er am finsteren Waldesrand hin.
Der Wind strich nicht mehr flach und breit über
die Felder, sondern kam stoßweise und wirbelnd von
Westen her. Die Wolkenherde war zusammen-
getrieben. Jetzt sank fte lastschwer ineinander. Die
ersten Tropfen, kalt wie Hagel, fielen auf Morsbachs
Stirn und entrissen ihn seinen finsteren Träumen.
Er wandte um, sich und das schweißbedeckte Tier auf
kürzestem Wege ins trockene zu bringen. So spornte
er das Pferd, das von selbst weit ausgriff und nach
dem Stall drängte. Plötzlich, mitten im Lauf,
machte das Pferd eine zuckende Bewegung, als
wenn es zusammenbrechen wollte, und stand.
Der Rittmeister sprang herab und versuchte zu
erforschen, was geschehen sei. Er führte das Tier
einige Schritte vorwärts. Es lahmte stark. Bei
der Dunkelheit ließ sich nichts erkennen. Irgend
einen scharfen Gegenstand, einen Nagel oder Glas-
scherben hatte es sich eingetreten. Von weiterem
Reiten war keine Rede. So führte er das Pferd
am Zügel langsam vorwärts.
Nun aber pfiff der Wind über die Ebene daher,
ihm gerade auf den erhitzten Rücken, daß er den
kalten Luftzug bisweilen bis in die Brusthöhle zu

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spüreü gläubig Dazu entluden sich die angestauten
Wassermassen aus der Höhe in dichten und eisigen
Schauern und durchnäßten ihn bis auf die Haut. Ob-
wohl in seinem Beruf an die Unbilden der Witte-
rung gewöhnt, fröstelte ihn bis ins Mark hinein.
Endlich war Elbental erreicht.
Als er die Treppe hinaufschritt in sein Zimmer,
fühlte er sich todmüde, wie gelähmt.
Ein Schauer nach dem anderen rieselte ihm durch
die Glieder, vom Haupt herunter bis in die Kniee —
Er schlief. Aber der Schlaf kam mehr wie eine
Last über ihn denn als Erholung.
Wie Feuer lohte es rings um sein Bett, die
Luft im Zimmer glühte, Funken sprangen vor seinen
Augen.
Als er erwachte, lag er in heftigem Fieber. Nicht
die glühende Luft erschwerte ihm den Atem, son-
dern ein stechender Schinerz, der seine Brust wie
ein Messer durchschuitt.
Die Freifrau, angsterfüllt, berief Arzt um Arzt
an das Krankenlager ihres Sohnes, die herzogliche
Familie entsandte ihren Leibarzt, welcher den
Hoheiten freilich auch nichts anderes berichten konnte,
als daß der Rittmeister v. Mersbach infolge starker
Erkältung an einer Lungenentzündung schwer er-
krankt sei.
In dieser Heimsuchung raffte sich die Energie
der Baronin wieder in alter Weise auf. Sie bäumte
und stemmte sich gegen die wachsende Gefahr, wie
sie sich gestemmt und gebäumt hatte gegen das
flehende Bitten ihrer armen Tochter. Ihre eigene
robuste Gesundheit erlaubte ihr die persönliche Pflege
bei Tag und bei Nacht. Und wenn ihr Herzschlag
einmal aufhämmerte in Angst, so legte sich ein
dankbarer Blick ihres Sohnes sänftigend darüber.
Aber es kam ein Tag und eine Stunde, wo diese
dankenden Blicke in Bewußtlosigkeit erloschen, wo
die unerschütterliche Frau beim Morgengrauen vom
Sessel aufsprang, weil die Möglichkeit, diesen Sohn
zu verlieren, ihr Plötzlich so nahe trat, so über-
wältigend nahe, daß sie mit ihrem Entsetzen allein
sein mußte.
Sie öffnete die Tür zu Richards Wohnzimmer
und trat ein.
Da blickte ihr aus dem Tagesdämmern das Bild
ihrer Tochter entgegen — wie hingezaubert, wie
herausgeholt aus der Gruft, die sie für immer dar-
über geschlossen wähnte.
Lächelnd, fragend schaute es sie an, eine grüßende
Erinnerung, wie ein Hauch der Vergangenheit.
Und die stolze Frau, erschüttert von Angst und
Schmerz, schlug vor diesem Lächeln die Augen nie-
der. Ein unbekanntes Etwas packte sie. Das Elend
und die Todesnot Mariannes bohrten sich wie
Stacheln in ihr Herz.
Wenn sie zu hart geweseu war, zu unversöhnlich,
wollte jetzt die ewige Gerechtigkeit das Gleichgewicht
durch den Tod ihres Sohnes wiederherstellen? Wozu
hatte sie dann gelebt? Wozu ihre Kinder besessen?
Wie klein, wie nichtig ist der Mensch, wenn der
Wahn seiner Größe von ihm abfällt!
Das fühlte sie nun, und ihr war, als sei der
Boden, den sie hoch überragt, im Sinken, als ginge
es hinunter in die Tiefe. Und wie Schattenspiele
flogen Macht und Selbstbewusstsein, flog die trüge-
rische Schar selbstgerechter und selbstgefälliger Taten
auf und davon. Nichts blieb zurück als der bittere
Bodensatz menschlicher Erkenntnis: die Reue.
In derselben Nacht war's, als der höhere Fieber-
grad sie zur Mitwisserin dessen machte, was in jener
Vormittagsstunde sich im erbprinzlichen Palaste zwi-
schen Alexandra Luise und ihrem Sohne abgespielt.
Fürsorglich schickte sie unberufene Hörer hinaus.
Sie aber lauschte. In wilder Hast die ganze
Situation durchlaufend, sprach Mersbach aus, was
er der Erbprinzessin nur angedeutet. Der vorüber-
gerauschten Wonne, die neben seinem Herzen hin-
geflossen war ins Vergessen, deren Spuren er nicht
wiederfand, nicht wiederfinden wollte, stellte er einen
Quell gegenüber lautersten Ursprungs, reinster Fülle,
aus dem er Glück in vollen Zügen getrunken. Kein
widerrechtliches Glück, wie er's einstmals in Alexandra
Luises Armen empfunden, das ihn zum Lügner
gemacht hatte an Mariannes Tochter.
Und in dieses Durcheinander wirrer Phantasie-
gebilde rief er laut und flehend Mias Namen.
Als löse dieser Name das Siegel seines Herzens,
hielt er Zwiesprache mit der Mieze unter der alten
Heidekiefer, mit dem süßen Geschöpf am Gittertor
des alten Schlaffes, mit ihr, die seinen Namen trug
und die er nicht lassen wollte, die er flehend bat,
bei ihm zu bleiben.
Seine reuige und unüberwindliche Liebe flüsterte
er vor sich hin, damit der Wind der Heide seine Worte
weithin trüge an Mias Ohr.
Und mit jedem dieser hingeflüsterten Worte preß-
ten sich Angst und Not fester in das Herz der Mutter.
Sie, die nie heiß geliebt, sie verstand ihre Kinder
 
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