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in erregte Schwingungen versetzt und mit Regel-
mäßigkeit jeden Schlummer von seinen Lidern fort-
gescheucht hatte.
So plätscherte er denn auch förmlich in Behagen,
als ihm Professor Altdorf kurz vor dem Essen den
„oberen Menschen" gründlich behorchte und be-
klopfte, und stimmte einen wahren Hymnus auf
Liebenstein an.
„Da ich hier nun noch auf die Jagd gehen
kann, ist das Nest für mich ein leibhaftiges Paradies,
aus dem ich mich am liebsten überhaupt nicht wieder-
vertreiben ließe."
„Hm —" machte der Professor, horchte noch
einmal in das an Rottenburgs Herzgrube gedrückte
Stethoskop hineiu und sagte dann: „Die nächsten
zwei, drei Tage aber wollen wir doch lieber hübsch
zu Hause bleiben, und uns mit den Promenaden-
wegen begnügen. Man darf nichts übertreiben —
besonders im Anfang nicht. Ihr Organismus muß
sich erst wieder gewöhnen. Wenn's so weit ist, daß
Sie zum zweiten Male mit der Büchse losziehen
können, sag' ich's Ihnen schon."
„Nanu? Hat der Blutsack da drinnen die an-
gebotene Kinderstrapaze etwa übelgenommen?"
brummte der Oberst.
„Nicht zu sehr. Aber Sie wissen ja: Vorsicht
ist die Mutter aller Weisheit."
Nach der Tafel nahm Altdorf Julia beiseite und,
indem er mit ihr unter den schattigen Bäumen des
Hotelparkes auf und nieder ging, legte er ihr noch
einmal ans Herz, nach feiner Abreise dem Oberst
auf keinen Fall irgendwelche Extravaganzen zu ge-
statten. Er bereue es fast, zu dem Jagdausflug
seine Zustimmung gegeben zu haben.
„Wollen Sie denn schon so bald wieder fort,
Herr Professor?" fragte Julia im Ton aufrichtigen
Bedauerns. „Waldemar sagte doch Vormittags,
Sie würden vielleicht längere Zeit bleiben, ein wenig
ausruhen, mindestens ein paar Wochen. Und ich
war so froh darüber! Wenn ich Sie in erreichbarer
Nähe weiß, hab' ich keine Furcht für Papa, fühl'
ich mich vor meiner Sorge und Angst um ihn wie
geborgen."
Altdorf spürte, wie es gleich einer warmen Welle
in seiner Brust aufwallte. „Könnt' ich dich er-
ringen," dachte er, „du liebes Mädchen, dich in
meinen Armen, an meinem Herzen schützen und
bergen vor aller Sorge und Angst des Lebens!"
Auf den ersten Blick hatte er gestern mit seinen
Hellen Augen erspäht, daß der „Afrikaner" — wie
man Borgstedt in Liebenstein allgemein nannte —
in Julia bis über beide Ohren verliebt war, und
ein Gefühl heftiger Eifersucht hatte ihm sogleich die
Freude des Wiedersehens getrübt, fast vergällt. Doch
so scharf er auch Julia den ganzen Abend über
beobachtet, darüber, ob sie des Leutnants Neigung
erwiderte, hatte er sich durchaus nicht klar zu wer-
den vermocht. Des Verliebten offensichtliche Ga-
lanterien hatte sie allerdings mit leiser Befangen-
heit entgegengenommen, war ihm aber anderseits
so oft wie irgend möglich ausgewichen; und daß
sie flüchtig errötet war, als er von den vier Damen
ihr allein eine purpursamtne Rose geschenkt, auch
das konnte als kein sicheres Zeichen, weder für noch
wider, gedeutet werden. Heute bei Tisch aber hatte
der Afrikaner seine Courmacherei nicht fortgesetzt,
nur dann und wann einmal, aus tiefem Grübeln,
wie es schien, einen beklommenen Blick oder eine
bedrückte Frage konventionellen Inhalts zu Julia
über die Tafel hinübergeschickt. Irgend etwas mußte
es zwischen den beiden gegeben haben, und da Borg-
stedt durchaus keine Siegermiene zeigte, hatte er
sich vielleicht auch einen Korb geholt! Gerade so,
wie Kommerzienrat Kirrdorf, der nicht Abzu-
schreckende, der sich — wie der Hotelwirt vorhin
verraten — für den Anfang der nächsten Woche
eine ganze Zimmerflucht im Kurhaus bestellt hatte.
„Gewiß — es kann wohl sein, daß ich noch ein
paar Tage bleibe," antwortete der Professor nach
kurzem Schweigen auf Julias Frage. „Eigentlich
wollt' ich ja allerdings meinen Urlaub zu einer Wande-
rung durch den Thüringerwald und die Hohe Rhön
benützen, aber da es mir hier ganz gut gefällt —"
Er brach ab und schloß dann: „Ich bin, wie gejagt,
selbst noch nicht mit mir einig. So ein wenig Stim-
mungsmensch ist ja wohl jeder einzelne von uns
modernen Großstadtgeschöpfen."
Er fühlte sich nicht gerade behaglich in seiner
Rolle als Liebhaber eines schönen jungen Mäd-
chens. Julia die Cour schneiden, ihr Schmeicheleien
sagen, wie ihm der Afrikaner das gestern abend so
meisterhaft vorgemacht, nein, das brachte er nicht
fertig, dazu war er doch zu alt mit feinen dreiund-
vierzig Jahren, obgleich er Leute, kannte, die sich
noch mit dreiundfünfzig brillant darauf verstanden.
Aber auch wenn er noch zehn Jahre jünger ge-
wesen wäre, hätte er diese schwere Kunst wohl kaum
bewältigt. Überhaupt — es lag ihm nicht, dieses
-- .77 7— Vas Luch fül- Mle .7" 7 ——I
vorsichtige Herumgehen um eine Sache. Gerade-
aus und festen Schrittes los auf das gesteckte Ziel
— so hatte er's im Leben immer gehalten; und
am liebsten hätte er auch jetzt zu Julia frei heraus-
gesprochen: „Ich bin hierhergekommen, Fräulein
v. Rottenburg, um Sie zu fragen, ob Sie meine
Frau werden wollen." Aber so rasch ging das wohl
doch nicht. Ein wenig mußte er noch beobachten,
prüfen, sondieren, wie er in unklaren Krankheits-
fällen als Arzt zu tun gewohnt war. Auch da durfte
er ja nicht immer gleich die entfcheidende Operation
wagen.
Um aber nicht stumm neben Julia dahiuzugehen,
begann er wieder von der Krankheit des Obersten
zu reden, ging dann auf Herzleiden im allgemeinen
über und war, ehe er sich's versah, mit seiner Be-
gleiterin in einem höchst angeregten Gespräch über
die Freuden und Leiden des Arztberufes; er spürte
Helles Sonnenleuchten in sich und um sich, als er
merkte, wie warm das Herz des geliebten Mädchens
für die Märtyrerwelt der Kranken und Elenden
fchlug, wie vernünftige und zugleich hohe Gedanken
über öffentliche Wohlfahrtspflege, über die Pflichten
des Menfchen gegen den Menschen hinter ihrer
reinen weißen Stirn geschlummert hatten. Meilen-
fern war ihr die Art moderner Gesellschaftsdämchen,
die „kein Blut sehen" können, und die sich mit
gruselnder Gänsehaut am liebsten die Ohren zu-
halten möchten, wenn von Not und Tod die Rede ist.
Nahezu zwei Stunden währte die Unterhaltung
der beiden, und sehr interessant und abwechslungs-
reich gestaltete sie sich; auch auf ihren Bruder kam
Julia zu sprechen, fragte mit fast mütterlicher Be-
sorgnis, die reizvoll zu ihrem ernsten Wesen stimmte,
ob Altdorf sich denn ein wenig auf den Flatterkopf
verlassen könne, erhielt eine zwar unklare, aber
immerhin befriedigende Antwort und rief, als es
plötzlich vier Uhr schlug, ganz erstaunt: „Mein Gott —
so spät schon! Da ist es ja höchste Zeit, daß ich
Mama bei der Toilette helfe." —
Borgstedt aber hatte nun gleich vom ersten Tage
an einen heißen Groll auf den Professor. Hatte
dieser ihm die Geliebte doch richtig während der
ganzen allgemeinen Nachmittagsschlummerstunde, in
der einzig und allein ein ungestörtes Zusammensein
möglich gewesen wäre, mit Beschlag belegt.
Als man ihn am nächsten Tage nach dem Essen
aber wieder unrettbar kalt stellte, steigerte sich der
Groll seines heißblütigen Temperaments rasch zum
eifersüchtigen Haß. Den Abend über entwickelte er
alle Kniffe und Schliche eines durchtriebenen De-
tektivs, um Julia von der übrigen Gesellschaft weg-
zulocken, sie ein Viertelstündchen oder wenigstens
ein paar Minuten für sich zu haben.
Vergeblich. Der Oberst sagte mit ganz merk-
würdiger Betonung: „Sie fetzen ja heut eine wahre
Hamletmiene auf, lieber Leutnant. Haben Sie
Weltschmerz oder bereuen Sie, daß Sie nun schon
zum dritten Male uns zuliebe Ihren Abendanstand
haben schießen lassen?" Dabei sandte der alte Herr
seiner Tochter einen halb forschenden, halb warnen-
den Blick zu; und Julia reagierte natürlich nun erst
recht mit keiner Miene auf des Verliebten ver-
zweifelte Bemühungen, bewahrte ihre gemessene
Haltung so glänzend, wie ihr's fo leicht keine andere
mit einem klopfenden, sehnsuchtsvollen Herzen nach-
gemacht hätte.
Erst am nächsten Morgen, als sie allein und
früher als gewöhnlich zum Brunnen ging, konnte
Borgstedt, der schon eine Stunde auf der Lauer
stand, sie stellen.-
„Was will dieser Professor eigentlich von Ihnen?"
stieß er erregt hervor, kaum daß er Julia begrüßt
hatte. „Er weicht den ganzen Tag nicht von Ihrer
Seite. Ich kann den Gedanken nicht los werden,
daß er sich um Sie bemüht, und ich bitte Sie —"
Vor dem erstaunten und verweisenden Blick, mit
dem Julia ihn groß ansah, verstummte er betreten.
„Wohin lassen Sie sich nur von Ihrer Leiden-
schaft treiben, Winfried?" fragte sie nach einem
kurzen Schweigen im Ton leisen Vorwurfs. „Was
Professor Altdorf mit feinem Kopf voller Berufs-
sorgen und seinem Herzen voller Nächstenliebe wohl
nach jungen Mädchen fragt. Ich gebe ihm doch
nichts, wenn wir uns eine Stunde unterhalten, er
gibt doch höchstens mir, weitet mir den Blick
für —"
„Oho," zischte der Leutnant durch die Zähne,
„das klingt ja schon äußerst bewundernd."
Julia blieb stehen und zog mit der Spitze ihres
Schirmes einen Strich in den Kies des Prome-
nadensteiges. „Ich habe Ihnen gestern gesagt, daß
ich Sie lieb habe, Winfried," sprach sie leise, kaum
hörbar, „und es wird mir schwer, Ihnen das in
diesem Augenblick zu wiederholen." Ihre Brust hob
sich in einem tiefen Atemzug, um ihren Mund prägte
sich ein Ausdruck der Entschlossenheit, fast der Herb-
heit aus. „Gesetzt selbst oen Fall, Professor Alt-
..liest 1Z
dorf interessierte sich für mich — was auszufprechen
oder nur zu denken barer Unsinn ist — wie kann
Sie das überhaup berühren, einen Tag, nach-
dem ich Ihnen gesagt habe, daß ich Sie liebe?"
Borgstedt runzelte die Stirn und streifte Julia
mit einem glühenden, fast drohenden Blick seiner
dunklen Augen. „Wer liebt, ist auch eifersüchtig,"
murmelte er. „Und je größer die Liebe, desto größer
die Eifersucht. Ich bin auf jeden eifersüchtig, der
sich ein Anrecht an Sie anmaßt. Ich bin eifer-
süchtig auf jedes Wort, jeden Blick, den Sie an
einen anderen verschwenden. Als Ihr Bruder-
gestern abend Ihre Hand nahm, sie eine Weile in
der seinen hielt, hätt' ich ihn am Arm packen, ihn
wegreißen mögen von Ihrer Seite."
Julia schüttelte wiederden Kopfund ging dann mit
einem Seufzer langsam weiter. „Das ist nicht Liebe,
das ist Leidenschaft, unvernünftige Leidenschaft,"
hauchte sie tonlos. Und ein wenig lauter setzte sie
hinzu: „Lieben heißt, dem Geliebten jedes Glück,
jede Freude gönnen, sich mit ihm freuen, mit ihm
glücklich fein. Und lieben heißt vor allem ver-
traue n!"
Der Leutnant biß sich auf die Lippen. „Ver-
trauen!" stieß er dann hervor. „Gut: wir können
ja die Probe auf das Exempel machen. Mit Fräu-
lein v. Schlieben. Ich kann mich ja einmal wieder
eine Weile dem armen Ding widmen, das sich ohne-
hin kaum noch in unserer Gesellschaft sehen läßt,
seit es gemerkt hat —" Er stieß seinen Stock in
den Sand und brach ab.
„Bitte," antwortete Julia ruhig, „wenn es Ihnen
Freude macht, eiu unglückliches Mädchen mit Hofft
nungen zu verwirren, mit Enttäuschungen zu
quälen —"
„Nicht die Schlieben will ich quälen," fiel ihr
Borgstedt ins Wort. „Nur um Ihnen zu vergelten,
was ich leide, wenn Sie stunden- und stundenlang
mit dem Professor —"
Julia runzelte die Brauen. „Es wird besser
sein, wir brechen unsere Unterhaltung jetzt ab, Win-
fried. Nur das eine möcht' ich Ihnen noch sagen:
von dem Frohgefühl das ich mir von meinem
Brautstand erhofft habe, haben Sie mich bisher
wenig empfinden lassen. Ich kann mir nicht denken,
daß wir auf diese Weise zu unserem Glücke gelangen."
Mit einem forschenden Blick sah sie die Straße ent-
lang, auf der sich nur hier und da erst ein verein-
zelter Kurgast zeigte. „Dort komm eben mein
Bruder. Wir wollen ihm entgegengehen." —
Für Julia waren die wenigen Stunden, die sie
mit Altdorf verplaudert hatte, Quellen reinen, un-
getrübten Genusses gewesen. Welche Klugheit,
welche Seelengröße, welche Begeisterungsfähigkeit
lebte in diesem Manne! Und Julia, die nie eine
verehrungerweckende Lehrerin besessen, hatte be-
griffen, wie es möglich war, daß die Studenten
ihrer Heimatstadt mit fo großer Liebe und Be-
wunderung an dem Professor hingen, daß sie vor
Jahresfrist, als die Universität Berlin einen ehren-
vollen Ruf an ihn hatte ergehen lassen, alle wie
ein Mann in einem imposanten Fackelzug vor sein
Haus gezogen und nicht wieder davongegangen
waren, bis er ihnen sein Bleiben in einer kurzen,
humoristisch-feierlichen Rede versprochen hatte.
Julia war es als etwas ganz Selbstverständliches
erschienen, daß dieser Mann, der völlig aufging im
Dienst der leidenden Menschheit, zum Heiraten
weder Muße noch Neigung fand. Über diesen
Punkt, mit dem sich die Phantasie der Frauen
sonst so gern beschäftigt, hatte es gar kein Nachdenken
für sie gegeben.
Nun aber, da Borgstedt seine eifersüchtigen, ver-
fänglichen Worte zu ihr gesprochen, sagte sie sich
doch: „Weshalb soll nicht auch er seinen Anteil am
Liebesglück suchen wollen? Es ist doch Bestimmung
der Natur, daß der Mann sich zum Weibe gesellt!"
Und dann verflieg sich auch Waldemar, der an
einem der nächsten Vormittage einen fiüheren Re-
gimentskameraden traf, mit dem er sich bei einem
solennen Frühschoppen fesikneipte, zu allerhand an-
deutungsvollen Reden. „Schwesterchen, Schwester-
chen — ich glaube, es gibt einen, der fich sehr für
dich interefsiert. Einen Mann, der dich sicher glück-
lich machen würde, und der es, weiß Gott, ver-
diente, von dir glücklich gemacht zu werden. Ein
Mann — ich sage dir, Schwesterchen, wie du keinen
Besseren, Edleren, Hochherzigeren kriegen könntest."
Und in dem sanften Rausch, in dem seine Seele
schwamm, schwatzte er rührfelig aus, aus welcher
fatalen Klemme ihm der Professor noch vor wenigen
Tagen herausgeholfen.
Von da an war es natürlich mit Julias Un-
befangenheit gänzlich vorbei. Schon das allein, daß
sie sich für den leichtfertigen Bruder schämte und
doch nicht Mittel und Wege ergrübeln konnte, die
große Schuld abzutragen, machte sie beklommen,
legte sich wie ein Druck auf ihr ganzes Wesen. Und
in erregte Schwingungen versetzt und mit Regel-
mäßigkeit jeden Schlummer von seinen Lidern fort-
gescheucht hatte.
So plätscherte er denn auch förmlich in Behagen,
als ihm Professor Altdorf kurz vor dem Essen den
„oberen Menschen" gründlich behorchte und be-
klopfte, und stimmte einen wahren Hymnus auf
Liebenstein an.
„Da ich hier nun noch auf die Jagd gehen
kann, ist das Nest für mich ein leibhaftiges Paradies,
aus dem ich mich am liebsten überhaupt nicht wieder-
vertreiben ließe."
„Hm —" machte der Professor, horchte noch
einmal in das an Rottenburgs Herzgrube gedrückte
Stethoskop hineiu und sagte dann: „Die nächsten
zwei, drei Tage aber wollen wir doch lieber hübsch
zu Hause bleiben, und uns mit den Promenaden-
wegen begnügen. Man darf nichts übertreiben —
besonders im Anfang nicht. Ihr Organismus muß
sich erst wieder gewöhnen. Wenn's so weit ist, daß
Sie zum zweiten Male mit der Büchse losziehen
können, sag' ich's Ihnen schon."
„Nanu? Hat der Blutsack da drinnen die an-
gebotene Kinderstrapaze etwa übelgenommen?"
brummte der Oberst.
„Nicht zu sehr. Aber Sie wissen ja: Vorsicht
ist die Mutter aller Weisheit."
Nach der Tafel nahm Altdorf Julia beiseite und,
indem er mit ihr unter den schattigen Bäumen des
Hotelparkes auf und nieder ging, legte er ihr noch
einmal ans Herz, nach feiner Abreise dem Oberst
auf keinen Fall irgendwelche Extravaganzen zu ge-
statten. Er bereue es fast, zu dem Jagdausflug
seine Zustimmung gegeben zu haben.
„Wollen Sie denn schon so bald wieder fort,
Herr Professor?" fragte Julia im Ton aufrichtigen
Bedauerns. „Waldemar sagte doch Vormittags,
Sie würden vielleicht längere Zeit bleiben, ein wenig
ausruhen, mindestens ein paar Wochen. Und ich
war so froh darüber! Wenn ich Sie in erreichbarer
Nähe weiß, hab' ich keine Furcht für Papa, fühl'
ich mich vor meiner Sorge und Angst um ihn wie
geborgen."
Altdorf spürte, wie es gleich einer warmen Welle
in seiner Brust aufwallte. „Könnt' ich dich er-
ringen," dachte er, „du liebes Mädchen, dich in
meinen Armen, an meinem Herzen schützen und
bergen vor aller Sorge und Angst des Lebens!"
Auf den ersten Blick hatte er gestern mit seinen
Hellen Augen erspäht, daß der „Afrikaner" — wie
man Borgstedt in Liebenstein allgemein nannte —
in Julia bis über beide Ohren verliebt war, und
ein Gefühl heftiger Eifersucht hatte ihm sogleich die
Freude des Wiedersehens getrübt, fast vergällt. Doch
so scharf er auch Julia den ganzen Abend über
beobachtet, darüber, ob sie des Leutnants Neigung
erwiderte, hatte er sich durchaus nicht klar zu wer-
den vermocht. Des Verliebten offensichtliche Ga-
lanterien hatte sie allerdings mit leiser Befangen-
heit entgegengenommen, war ihm aber anderseits
so oft wie irgend möglich ausgewichen; und daß
sie flüchtig errötet war, als er von den vier Damen
ihr allein eine purpursamtne Rose geschenkt, auch
das konnte als kein sicheres Zeichen, weder für noch
wider, gedeutet werden. Heute bei Tisch aber hatte
der Afrikaner seine Courmacherei nicht fortgesetzt,
nur dann und wann einmal, aus tiefem Grübeln,
wie es schien, einen beklommenen Blick oder eine
bedrückte Frage konventionellen Inhalts zu Julia
über die Tafel hinübergeschickt. Irgend etwas mußte
es zwischen den beiden gegeben haben, und da Borg-
stedt durchaus keine Siegermiene zeigte, hatte er
sich vielleicht auch einen Korb geholt! Gerade so,
wie Kommerzienrat Kirrdorf, der nicht Abzu-
schreckende, der sich — wie der Hotelwirt vorhin
verraten — für den Anfang der nächsten Woche
eine ganze Zimmerflucht im Kurhaus bestellt hatte.
„Gewiß — es kann wohl sein, daß ich noch ein
paar Tage bleibe," antwortete der Professor nach
kurzem Schweigen auf Julias Frage. „Eigentlich
wollt' ich ja allerdings meinen Urlaub zu einer Wande-
rung durch den Thüringerwald und die Hohe Rhön
benützen, aber da es mir hier ganz gut gefällt —"
Er brach ab und schloß dann: „Ich bin, wie gejagt,
selbst noch nicht mit mir einig. So ein wenig Stim-
mungsmensch ist ja wohl jeder einzelne von uns
modernen Großstadtgeschöpfen."
Er fühlte sich nicht gerade behaglich in seiner
Rolle als Liebhaber eines schönen jungen Mäd-
chens. Julia die Cour schneiden, ihr Schmeicheleien
sagen, wie ihm der Afrikaner das gestern abend so
meisterhaft vorgemacht, nein, das brachte er nicht
fertig, dazu war er doch zu alt mit feinen dreiund-
vierzig Jahren, obgleich er Leute, kannte, die sich
noch mit dreiundfünfzig brillant darauf verstanden.
Aber auch wenn er noch zehn Jahre jünger ge-
wesen wäre, hätte er diese schwere Kunst wohl kaum
bewältigt. Überhaupt — es lag ihm nicht, dieses
-- .77 7— Vas Luch fül- Mle .7" 7 ——I
vorsichtige Herumgehen um eine Sache. Gerade-
aus und festen Schrittes los auf das gesteckte Ziel
— so hatte er's im Leben immer gehalten; und
am liebsten hätte er auch jetzt zu Julia frei heraus-
gesprochen: „Ich bin hierhergekommen, Fräulein
v. Rottenburg, um Sie zu fragen, ob Sie meine
Frau werden wollen." Aber so rasch ging das wohl
doch nicht. Ein wenig mußte er noch beobachten,
prüfen, sondieren, wie er in unklaren Krankheits-
fällen als Arzt zu tun gewohnt war. Auch da durfte
er ja nicht immer gleich die entfcheidende Operation
wagen.
Um aber nicht stumm neben Julia dahiuzugehen,
begann er wieder von der Krankheit des Obersten
zu reden, ging dann auf Herzleiden im allgemeinen
über und war, ehe er sich's versah, mit seiner Be-
gleiterin in einem höchst angeregten Gespräch über
die Freuden und Leiden des Arztberufes; er spürte
Helles Sonnenleuchten in sich und um sich, als er
merkte, wie warm das Herz des geliebten Mädchens
für die Märtyrerwelt der Kranken und Elenden
fchlug, wie vernünftige und zugleich hohe Gedanken
über öffentliche Wohlfahrtspflege, über die Pflichten
des Menfchen gegen den Menschen hinter ihrer
reinen weißen Stirn geschlummert hatten. Meilen-
fern war ihr die Art moderner Gesellschaftsdämchen,
die „kein Blut sehen" können, und die sich mit
gruselnder Gänsehaut am liebsten die Ohren zu-
halten möchten, wenn von Not und Tod die Rede ist.
Nahezu zwei Stunden währte die Unterhaltung
der beiden, und sehr interessant und abwechslungs-
reich gestaltete sie sich; auch auf ihren Bruder kam
Julia zu sprechen, fragte mit fast mütterlicher Be-
sorgnis, die reizvoll zu ihrem ernsten Wesen stimmte,
ob Altdorf sich denn ein wenig auf den Flatterkopf
verlassen könne, erhielt eine zwar unklare, aber
immerhin befriedigende Antwort und rief, als es
plötzlich vier Uhr schlug, ganz erstaunt: „Mein Gott —
so spät schon! Da ist es ja höchste Zeit, daß ich
Mama bei der Toilette helfe." —
Borgstedt aber hatte nun gleich vom ersten Tage
an einen heißen Groll auf den Professor. Hatte
dieser ihm die Geliebte doch richtig während der
ganzen allgemeinen Nachmittagsschlummerstunde, in
der einzig und allein ein ungestörtes Zusammensein
möglich gewesen wäre, mit Beschlag belegt.
Als man ihn am nächsten Tage nach dem Essen
aber wieder unrettbar kalt stellte, steigerte sich der
Groll seines heißblütigen Temperaments rasch zum
eifersüchtigen Haß. Den Abend über entwickelte er
alle Kniffe und Schliche eines durchtriebenen De-
tektivs, um Julia von der übrigen Gesellschaft weg-
zulocken, sie ein Viertelstündchen oder wenigstens
ein paar Minuten für sich zu haben.
Vergeblich. Der Oberst sagte mit ganz merk-
würdiger Betonung: „Sie fetzen ja heut eine wahre
Hamletmiene auf, lieber Leutnant. Haben Sie
Weltschmerz oder bereuen Sie, daß Sie nun schon
zum dritten Male uns zuliebe Ihren Abendanstand
haben schießen lassen?" Dabei sandte der alte Herr
seiner Tochter einen halb forschenden, halb warnen-
den Blick zu; und Julia reagierte natürlich nun erst
recht mit keiner Miene auf des Verliebten ver-
zweifelte Bemühungen, bewahrte ihre gemessene
Haltung so glänzend, wie ihr's fo leicht keine andere
mit einem klopfenden, sehnsuchtsvollen Herzen nach-
gemacht hätte.
Erst am nächsten Morgen, als sie allein und
früher als gewöhnlich zum Brunnen ging, konnte
Borgstedt, der schon eine Stunde auf der Lauer
stand, sie stellen.-
„Was will dieser Professor eigentlich von Ihnen?"
stieß er erregt hervor, kaum daß er Julia begrüßt
hatte. „Er weicht den ganzen Tag nicht von Ihrer
Seite. Ich kann den Gedanken nicht los werden,
daß er sich um Sie bemüht, und ich bitte Sie —"
Vor dem erstaunten und verweisenden Blick, mit
dem Julia ihn groß ansah, verstummte er betreten.
„Wohin lassen Sie sich nur von Ihrer Leiden-
schaft treiben, Winfried?" fragte sie nach einem
kurzen Schweigen im Ton leisen Vorwurfs. „Was
Professor Altdorf mit feinem Kopf voller Berufs-
sorgen und seinem Herzen voller Nächstenliebe wohl
nach jungen Mädchen fragt. Ich gebe ihm doch
nichts, wenn wir uns eine Stunde unterhalten, er
gibt doch höchstens mir, weitet mir den Blick
für —"
„Oho," zischte der Leutnant durch die Zähne,
„das klingt ja schon äußerst bewundernd."
Julia blieb stehen und zog mit der Spitze ihres
Schirmes einen Strich in den Kies des Prome-
nadensteiges. „Ich habe Ihnen gestern gesagt, daß
ich Sie lieb habe, Winfried," sprach sie leise, kaum
hörbar, „und es wird mir schwer, Ihnen das in
diesem Augenblick zu wiederholen." Ihre Brust hob
sich in einem tiefen Atemzug, um ihren Mund prägte
sich ein Ausdruck der Entschlossenheit, fast der Herb-
heit aus. „Gesetzt selbst oen Fall, Professor Alt-
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dorf interessierte sich für mich — was auszufprechen
oder nur zu denken barer Unsinn ist — wie kann
Sie das überhaup berühren, einen Tag, nach-
dem ich Ihnen gesagt habe, daß ich Sie liebe?"
Borgstedt runzelte die Stirn und streifte Julia
mit einem glühenden, fast drohenden Blick seiner
dunklen Augen. „Wer liebt, ist auch eifersüchtig,"
murmelte er. „Und je größer die Liebe, desto größer
die Eifersucht. Ich bin auf jeden eifersüchtig, der
sich ein Anrecht an Sie anmaßt. Ich bin eifer-
süchtig auf jedes Wort, jeden Blick, den Sie an
einen anderen verschwenden. Als Ihr Bruder-
gestern abend Ihre Hand nahm, sie eine Weile in
der seinen hielt, hätt' ich ihn am Arm packen, ihn
wegreißen mögen von Ihrer Seite."
Julia schüttelte wiederden Kopfund ging dann mit
einem Seufzer langsam weiter. „Das ist nicht Liebe,
das ist Leidenschaft, unvernünftige Leidenschaft,"
hauchte sie tonlos. Und ein wenig lauter setzte sie
hinzu: „Lieben heißt, dem Geliebten jedes Glück,
jede Freude gönnen, sich mit ihm freuen, mit ihm
glücklich fein. Und lieben heißt vor allem ver-
traue n!"
Der Leutnant biß sich auf die Lippen. „Ver-
trauen!" stieß er dann hervor. „Gut: wir können
ja die Probe auf das Exempel machen. Mit Fräu-
lein v. Schlieben. Ich kann mich ja einmal wieder
eine Weile dem armen Ding widmen, das sich ohne-
hin kaum noch in unserer Gesellschaft sehen läßt,
seit es gemerkt hat —" Er stieß seinen Stock in
den Sand und brach ab.
„Bitte," antwortete Julia ruhig, „wenn es Ihnen
Freude macht, eiu unglückliches Mädchen mit Hofft
nungen zu verwirren, mit Enttäuschungen zu
quälen —"
„Nicht die Schlieben will ich quälen," fiel ihr
Borgstedt ins Wort. „Nur um Ihnen zu vergelten,
was ich leide, wenn Sie stunden- und stundenlang
mit dem Professor —"
Julia runzelte die Brauen. „Es wird besser
sein, wir brechen unsere Unterhaltung jetzt ab, Win-
fried. Nur das eine möcht' ich Ihnen noch sagen:
von dem Frohgefühl das ich mir von meinem
Brautstand erhofft habe, haben Sie mich bisher
wenig empfinden lassen. Ich kann mir nicht denken,
daß wir auf diese Weise zu unserem Glücke gelangen."
Mit einem forschenden Blick sah sie die Straße ent-
lang, auf der sich nur hier und da erst ein verein-
zelter Kurgast zeigte. „Dort komm eben mein
Bruder. Wir wollen ihm entgegengehen." —
Für Julia waren die wenigen Stunden, die sie
mit Altdorf verplaudert hatte, Quellen reinen, un-
getrübten Genusses gewesen. Welche Klugheit,
welche Seelengröße, welche Begeisterungsfähigkeit
lebte in diesem Manne! Und Julia, die nie eine
verehrungerweckende Lehrerin besessen, hatte be-
griffen, wie es möglich war, daß die Studenten
ihrer Heimatstadt mit fo großer Liebe und Be-
wunderung an dem Professor hingen, daß sie vor
Jahresfrist, als die Universität Berlin einen ehren-
vollen Ruf an ihn hatte ergehen lassen, alle wie
ein Mann in einem imposanten Fackelzug vor sein
Haus gezogen und nicht wieder davongegangen
waren, bis er ihnen sein Bleiben in einer kurzen,
humoristisch-feierlichen Rede versprochen hatte.
Julia war es als etwas ganz Selbstverständliches
erschienen, daß dieser Mann, der völlig aufging im
Dienst der leidenden Menschheit, zum Heiraten
weder Muße noch Neigung fand. Über diesen
Punkt, mit dem sich die Phantasie der Frauen
sonst so gern beschäftigt, hatte es gar kein Nachdenken
für sie gegeben.
Nun aber, da Borgstedt seine eifersüchtigen, ver-
fänglichen Worte zu ihr gesprochen, sagte sie sich
doch: „Weshalb soll nicht auch er seinen Anteil am
Liebesglück suchen wollen? Es ist doch Bestimmung
der Natur, daß der Mann sich zum Weibe gesellt!"
Und dann verflieg sich auch Waldemar, der an
einem der nächsten Vormittage einen fiüheren Re-
gimentskameraden traf, mit dem er sich bei einem
solennen Frühschoppen fesikneipte, zu allerhand an-
deutungsvollen Reden. „Schwesterchen, Schwester-
chen — ich glaube, es gibt einen, der fich sehr für
dich interefsiert. Einen Mann, der dich sicher glück-
lich machen würde, und der es, weiß Gott, ver-
diente, von dir glücklich gemacht zu werden. Ein
Mann — ich sage dir, Schwesterchen, wie du keinen
Besseren, Edleren, Hochherzigeren kriegen könntest."
Und in dem sanften Rausch, in dem seine Seele
schwamm, schwatzte er rührfelig aus, aus welcher
fatalen Klemme ihm der Professor noch vor wenigen
Tagen herausgeholfen.
Von da an war es natürlich mit Julias Un-
befangenheit gänzlich vorbei. Schon das allein, daß
sie sich für den leichtfertigen Bruder schämte und
doch nicht Mittel und Wege ergrübeln konnte, die
große Schuld abzutragen, machte sie beklommen,
legte sich wie ein Druck auf ihr ganzes Wesen. Und