Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

DOI Heft:
Heft 18
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0436
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
390— .-. -> '
Ein leises Weinen der Angeklagten war die
deutliche Bejahung seiner unbarmherzigen Frage.
Perthal krampfte die Hände ineinander und
schaute voll Mitleid auf seine Klientin, die ihr
Gesicht in den Händen verbarg. Dann wandte er
sein blasses Gesicht Lautenbach zu, der, die Wirkung
seiner letzten Frage genießend, eine Weile schwieg.
In die eingetretene Stille hinein klang Perthals
Stimme. „Dieser unglückliche Bruder schrieb den
Zettel, den man unter den Sachen der Angeklagten
fand, schrieb ihn, wie schon angegeben worden ist,
vor mehr als zwei Jahren. Jetzt darf ich nicht nur,
nein, jetzt muß ich davon reden und beantrage,
daß der Betreffende als Zeuge zugelassen wird."
„Jetzt noch als Zeuge? Uud was ist ein solches
Zeugnis wert?"
Perthal mußte die Richtigkeit des staatsanwalt-
lichen Einwurfes erkennen, denn er schwieg.
„Könnte er es wirklich beweisen, daß jener Zettel
vor zwei Jahren geschrieben wurde?" fuhr Lauten-
bach rasch fort und antwortete sich dann selber:
„Nein, dieser Beweis ist einfach unmöglich! Und
wir würden nach wie vor sagen müssen: Alles
stimmt, laut des lückenlosen Indizienbeweises ist
die Schuld der Angeklagten zweifellos erwiesen.
Dieser Vater und dieser Bruder erklären ja, was
allenfalls noch zu erklären war. Die Angeklagte
ist auf schlechtem Boden gewachsen. Sie hat einfach
nicht die Kraft besessen, den Lockungen ihres viel-
leicht durch ungeeignete Behandlung aufgereizten
Rachegelüstes zu widerstehen uud treibt damit eine
junge, blühende Frau, die Mutter eines zarten
Kindes, des ihr zur Obhut anvertrauten Kindes,
in den Tod. — Nun, zur Mörderin ist Pia Vittone
ja nicht geworden, wollte es wohl auch nicht werden,
aber nur ein Zufall hat sie davor bewahrt, es jetzt
zu sein. Ein Seelenleben jedoch hat sie nahezu
vernichtet. Und das fordert gerechte Männer zur
unnachsichtlichen Strenge auf. Ist die Angeklagte
doch eine hochgebildete Person, die wissen mußte,
was sie tat, die auf das genaueste berechnen konnte,
wohin ihr Tun führen mußte, und welche Qualen
sie ihrem Opfer auferlegte."
Lautenbach hatte ein leichtes Reden gehabt,
denn wiewohl der Saal voll von Menschen war,
herrschte dennoch die tiefste Stille. Nicht einmal
die Stimme hätte der Redner zu erheben gebraucht,
um bis in den letzten Winkel gehört zu werden.
Hatte er sie dennoch erhoben, diese dünne, hohe,
spitze Stimme, die ganz und gar zu dem schmalen,
spitzen Gesichte und den scharfen Blicken ihres
Eigentümers paßte, so war es ihm unbewußt
geschehen, nur in der Leidenschaftlichkeit, mit der
er seine Fälle zu behandeln pflegte, mit der er
nicht nur die Schuld selbst, sondern auch die Schul-
digen verfolgte, zu Tode hetzte, wie einmal einer
der Richter sich ausdrückte, uud seine Kollegen
empfanden das gleiche, denn mancher von ihnen
hatte es schon bedauert, daß solch ein mit Haß ge-
sättigter Mann auf solch verantwortlichem Posten
stand.
Aber er stand sehr fest, der Herr Staatsanwalt
Ferdinand Lautenbach, und kümmerte sich um die
Zurückhaltung nicht, die man ihm außeramtlich fast
ausnahmslos zeigte. Er lebte schon seit vielen Jahren
mw seinem Amte und bildete sich ein, lediglich der
Pflicht zu dienen. Aber er diente dabei auch seinem
Menschenhaß, und dieser machte ihn beredt und tem-
peramentvoll, wie er sich soeben gezeigt.
Nun schwieg er ein paar Augenblicke lang. Er
hatte Atem holen müssen, und in diese Pause hinein
war ein leises Geräusch gefallen.
Vom Platze des Verteidigers war es hergekom-
men. Dort war in der feinen blassen Hand, die
auf einem Aktenbündel lag, ein Bleistift in seiner
Mitte durchgebrochen.
Lautenbach schaute auf. Seine kalten, wasser-
hellen Augen begegneten den dunklen, zornsprühen-
den des berühmten Verteidigers, der sich erbötig
gemacht hatte, Pia Vittones Sache zu führen, dieser
schönen Pia Vittone, welche — Lautenbach hatte
dies in Erfahrung gebracht — schon seit fast zwei
Jahren mit Perthal bekannt war.
Über Lautenbachs gelbliches, hageres Gesicht
huschte ein Lächeln.
Es war ein unangenehmes Lächeln.
Natürlich! Denn der Gedanke, die Vittone ist
hübsch, sehr hübsch und jung, und der sie so hart-
näckig Verteidigende ist auch noch nicht alt, hatte
dieses Lächeln ausgelöst.
Es war zugleich Zynismus und kalte Sicherheit
darin.
Lautenbach nahm es bereits mit Bestimmtheit an,
daß die Vittone verurteilt werden würde. Die glän-
zende Rede ihres Verteidigers konnte ja doch die
vielen Indizien, die ihre Schuld erwiesen, nicht ent-
kräften. Es fehlte nicht viel, so hätte er sich be-
friedigt die Hände gerieben.

— V35 buch sül- Mle --
Jedenfalls senkte er seinen Blick nur sehr lang-
sam vor demjenigeu Perthals und — lächelte noch,
als der Präsident sein Schlußwort schon beendet
hatte.
Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück.
Nach einer Viertelstunde schon saßen die Herren,
die über Schuldig oder Unschuldig zu entscheiden
hatten, wieder auf ihren Plätzen.
Die Angeklagte wurde wieder hereingeführt.
Totenblaß und unnatürlich ruhig hörte sie das
Urteil an.
Als das Wort „schuldig" ausgesprochen wurde,
wankte sie wie eine, der ein wuchtiger Schlag das
Gleichgewicht genommen hat.
Aber sofort hatte sie sich wieder in der Gewalt.
Noch höher richtete sie sich auf, und ein herbes,
verächtliches Lächeln legte sich auf ihr schönes, weißes
Gesicht.
Doktor Perthal trat rasch an ihre Seite. Er war
gerade so bleich wie sie, und er wollte reden, wahr-
scheinlich die Berufung anmelden gegen das Urteil,
das der Vorsitzende des Gerichtshofs soeben ver-
kündigt hatte.
Es lautete auf drei Monate Gefängnis. Das
war das höchste Ausmaß an Strafe, das man über
die Verurteilte verhängen konnte. Selbst den Mil-
deruugsgrund ihrer bisherigen Unbescholtenheit ließ
man nicht gelten. Die besondere Bosheit und Über-
legtheit ihres Verbrechens erdrücke diesen Mildc-
rungsgrund, führte der Vorsitzende aus.
Perthal also wollte reden. Da aber legte Pia
Vittone rasch die Hand auf seinen Arm und sagte
laut uud fest: „Ich nehme die Strafe an." Dabei
lächelte sie uud lächelte noch, als sie hinausgesührt
wurde.
Dicht hinter ihr verließ Perthal den Saal. Er
Hörte nicht mehr, daß in dessen Hintergrund einige
Unruhe entstand, weil eine Frauensperson, die ganz
hinten bei der Tür gestanden, plötzlich ohnmächtig
geworden war.
Aber sie kam, kaum zusammengesunken, wieder
zu sich, wehrte die Hilfe der ihr Nächststehenden —
es waren ein paar noch junge Männer — ab, zog
das schwarze Spitzentuch, das sie um den Kopf trug,
wieder eng um das Gesicht und verließ hastig den
Saal.
„Merkwürdiges Frauenzimmer!" sagte der eine
der Männer. „Schaut ganz armselig aus, muß sich
aber parfümieren."
„Ja, das hab' ich auch bemerkt," erwiderte der
andere. „Kein Wunder, daß ihr bei dieser Luft
rind dem laugen Stehen übel geworden ist."
Dabei verließen auch sie den Saal, der sich über-
haupt rasch entleerte.
Der Mann, welcher zuletzt geredet hatte, war
der Tapezicrgelülfe Max Eder, der vor etwa einem
Jahre in der Wohnung der Frau Schranek, welche
die anonymen Briefe bekommen, gearbeitet hatte.
Er hatte sich einzig deshalb für diese Gerichtsver-
handlung interessiert, weil ihm, während er im
Hause Schranek arbeitete, die nun Angeklagte auf-
gefallen war.
Auch Frau Schranek hatte er damals zu Gesicht
bekommen, aber sie hatte ihn kaum eines Grußes
gewürdigt.
Eines war sicher. Wenn diese Pin Vittone so
schwer gefehlt hatte, dann war sie vorher sicherlich
schwer dazu gereizt worden.
So dachte Max Eder, während er, die Hände in
den Taschen seines Winterrocks, langsam dahinging,
und dabei tauchte ganz deutlich das hübsche, hoch-
mütige Gesicht der Frau Luise Schranek vor sei-
nem inneren Auge auf.
Uud noch etwas anderes war sicher. Des Tape-
ziergehilfen Sympathie war durchaus nicht auf
feiten der hochmütigen Frau, sondern ganz uud gar
aufseiten Pia Vittones, der einstimmig Verurteilten.
Zweites Kapitel. —
Pia Vittone stand ihrem Verteidiger in einem
kahlen Zimmer gegenüber, in dem Vorraum zu
jenem Amtszimmer, in welchem die Vorunter-
suchung in ihrer Sache und die Verhöre mit ihr
stattgefunden hatten.
.Ihre hohe, kräftige Gestalt zitterte vor Erregung,
aber sie schüttelte den Kopf, als Perthal sie zu dem
Stuhle führen wollte, der vor dem Schreibtisch
neben dem Fenster stand. „Ich danke Ihnen, Herr
Doktor," sagte sie, und ihre Zähne schlugen dabei
hörbar aufeinander.
„Wofür danken Sie mir denn, Pia?" sagte er
voll Grimm. „Für meine nutzlose Verteidigung?"
Er ballte die Hände, wie das so viele tun in ihrer
Ohnmacht. „Sie müssen ins Spital kommen," fuhr
er voll leidenschaftlichen Mitempfindens fort, „Sie
sind krank."
Wieder schüttelte sie den Kopf. „O nein, lieber
Doktor, da bin ich schon lieber allein in meiner

heft 18
Zelle. Ach, das wenigstens werden Sie doch er-
reichen, nicht wahr, dafür werden Sie sich ver-
wenden?"
„Natürlich. Und es wird auch gelingen. Leider-
ist es nur wenig, was ich da noch für Sie tun kann."
„Viel ist es, Doktor, sehr viel, und ich danke
Ihnen innig dafür. Aber noch inniger, noch tausend-
mal inniger —"
„Wofür denn noch?" fragte er bitter lachend und
sich und seine Machtlosigkeit verhöhnend.
Da schaute sie ihn voll Dankbarkeit an. „Am
tiefsten danke ich Ihnen dafür, daß Sie an meine
Schuldlosigkeit glauben."
Das klang so froh wie ein Glücksbekenntnis,
aber es rollten dabei große Tränen über ihre Wangen.
Da zog Perthal voll tiefer Bewegung ihre Hand
an seine Lippen und murmelte: „O Pia! Ob ich
an Ihre Schuldlosigkeit glaube! Ja — felsenfest
glaube ich daran, denn wie könnte Marias Tochter
einer Gemeinheit fähig sein!"
„An meine Mutter denken Sie?" erwiderte Pia
leise. „Hat man es aber nicht zu meinem Schaden
heute den Herren dort drüben zur Kenntnis ge-
bracht, welcher Art mein Vater, mein Bruder ist?"
„Erinnern Sie mich nicht an Ihren Bruder! Ich
glaube, ich kann Brunos Gegenwart nicht mehr er-
tragen."
„O ja, Herr Doktor, Sie werden ihn bei sich
behalten, meinen unglücklichen Bruder!" flehte Pia.
„Was würde wohl aus ihm, wenn Sie Ihre Hand
von ihm zögen? Er hat ja gar keinen Halt. Von
Stufe zu Stufe würde er sinken. Diese Angst laden
Sie nicht auf mich — nicht wahr? Bruno darf bei
Ihnen bleiben?"
„Natürlich darf er bei mir bleiben, wenn Sie
es wünschen," beeilte Perthal sich die jetzt ganz
Fassungslose zu beruhigen und setzte rasch hinzu:
„Aber wir müssen jetzt scheiden, denn Ihnen steht
ja noch ein Abschiednehmen bevor."
Er wies mit der Hand nach der Tür, welche in
das Verhandlungszimmer führte.
Pia lachte rauh auf. „Ja —noch ein Abschied!"
sagte sie bitter. „Nun, vielleicht ist Emil gar nicht
hier. Wissen Sie denn, ob er gekommen ist?"
„Er war vorhin da. Im Nebenzimmer möchte
er mit Ihnen zusammentreffen. Er hat die Er-
laubnis dazu in meiner Gegenwart erhalten."
„Da war ich noch nicht verurteilt!"
„Pia! Dieser Hohn ist —"
„Finden Sie ihn schlecht angebracht? Emil ist
von meiner Schuldlosigkeit sicherlich nicht so fest
überzeugt wie Sie, und er ist — nein, er war dabei
mein Verlobter!"
Mit Mühe nur brachte sie die letzten Worte her-
vor und war so bleich geworden, daß Perthal meinte,
sie müsse niedersinken.
„Pia, fassen Sic sich!" bat er. „Bestimmen Sie,
ob Sie Herrn v. Lanner sehen wollen oder nicht.
Die Zeit, über welche Sie zu diesem Zweck ver-
fügen dürfen, ist bald vorüber."
Sie preßte die Hände- vors Gesicht. Dann ließ
sie sie plötzlich sinken uud sagte gepreßt: „Gut —
ich will ihn sehen!"
Da ergriff Perthal ihre Hand rind führte sie zu
der Tür des Nebenzimmers. Sie war mit grüner
Polsterung bekleidet, und eine breite Schwelle trennte
sie von einer ebenso schallsicher gemachten zweiten
Tür.
Diese stand offen, und die beiden traten über die
Schwelle.
Einen Moment lang glaubten sie, das Zimmer
sei leer, da drang ein leises Stöhnen an ihr Ohr.
„Herr v. Lanner!" sagte Doktor Perthal laut,
drückte noch einmal krampfhaft Pias Hand und
kehrte, beide Türen leise hinter sich zuziehend, in
den Nebenraum zurück.
Pia Vittone aber starrt^ auf den blassen Mann,
der sich langsam aus einem Lehnsessel erhob und
so elend und verfallen aussah, daß er kaum noch
dem eleganten Kavalier glich, als den sie ihn noch
vor ein paar Wochen vor sich gesehen.
Unwillkürlich verschlangen sich ihre Finger in
schmerzhaftem Druck und, ihr eigenes Leid vergessend,
schluchzte sie vor Mitleid laut auf.
„Emil — Emil!" flüsterte sie. „Wie mußt du
gelitten haben!"
Und es war ihr, als müsse sie zu ihm hinstürzen
oder — als müsse er selbst herüberkommen, um sie
in seine Arme zu nehmen.
Aber ihre Füße waren wie erstarrt, und auch er-
stand noch immer neben dem Sessel und stützte sich
schwer darauf. Uber sein hübsches Gesicht war eine
entsetzliche Starrheit gebreitet, und in seinen großen,
weitgeöffneten Augen war ein angstvolles Forschen.
Endlich ließ die peinvolle Spannung in ihm nach,
es kam Farbe in seine Wangen, und sein Blick er-
hellte sich. Er trat dicht an Pia heran, und seine
weißen, wohlgepflegten Hände legten sich auf ihre
 
Annotationen