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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 18
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0438
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ZY2-1 .. ... —
Schultern. Seinen Blich noch feucht von Tränen,
tief in den ihren tauchend, sagte er: „Nein, mein
Liebling, nein, du kannst das nicht getan haben!
Ich will nicht an dir zweifeln — ich will und will
es nicht!"
Er erhob die Arme, um Pia an sich zu ziehen,
aber jäh trat sie zurück und streckte die Hand ab-
wehrend gegen ihn aus.
Ihr Kopf war stolz erhoben, ihre Gestalt hoch
aufgerichtet, ihre Augen und ihr Lächeln eiskalt,
während sie mit Härte sagte: „Es ist ganz selbstver-
ständlich, daß ich es nicht getan habe, und wenn du
auch nur eine Minute lang darüber im unklaren
bleiben konntest, so beweist dies schon, daß du den
Kern meines Wesens nicht kennst, daß du also eine
dir eigentlich Fremde zu deiner Frau machen wolltest.
So hast du also diesem weisen Richterspruche dankbar
zu sein, denn er hat dich vor einer großen Übereilung
bewahrt."
Verwirrt und starr blickte er sie au. „Pia —
was soll das heißen?" fragte er hastig. „Ich glaube
ja, daß du trotz deiner Verurteilung unschuldig bist,
und ich hab' dich ja so lieb, so lieb! Ich werde dich
doch in deinem Elend nicht verlassen! Wenn du
wieder frei sein wirst-Mein Gott, wie mußt
du leiden! Diese Schmach —diese Schmach ertragen
zu müssen!"
Pia lachte bitter. „Siehst du ein, daß du die
dazu gehörige Kraft nicht hättest? Äug' in Äug',
da glaubst du mir. Aber man steht einander nicht
immer Äug' in Äug' gegenüber, und da käme der
Zweifel bald wieder. Da nähme das, was du jetzt
roch Liebe nennst, und was vielleicht jetzt schon nur
Mitleid ist, bald ein schmähliches Ende."
„Pia-" "
„O rede nichts dawider. Tu bist frei, du
brauchst nicht einmal den Schein einer Entschuldi-
gung dafür. In deiner Stellung darfst du nicht
einmal daran denken, mit einer, die solch eines Ver-
brechens halber verurteilt wurde, irgend eine Ge-
meinschaft zu haben."
„Pia, du marterst mich!"
„Nur ruhig bleiben! Du siehst, auch ich bin
völlig ruhig. Unser Verlöbnis habe ich schon vor
Wochen aufgelöst — in der Minute, in der wir
damals hier voneinander gingen. Da forschten deine
Augen in meinem wohl recht verstörten Gesicht nach
dem Stempel der Schuld, und da wußte ich schon,
daß ich niemals deine Frau sein werde. Diese mir
irrtümlicherweise aufgeladene Schmach kann ich noch
ertragen, deinen Zweifel aber, der immer wieder
auftauchen würde, den ertrüge ich nicht. — Und
nun geh! Ich glaube, meine Zeit ist ohnehin schon
um."
Er sah sie trostlos an, und plötzlich lag er vor
ihr auf den Knieen und preßte sein Gesicht in ihr
schwarzes Kleid.
Sie trat jäh zurück. „Emil," sagte sie sanft,
„wozu das? Du hast das Beste in mir nicht er-
kannt, nicht geliebt. Mein Gesicht hast du geliebt —
das ist alles. Und ich habe mir die Liebe eines
Mannes so ganz anders gedacht. Aber die tiefe
Herzlichkeit, das felsenfeste Vertrauen und die herr-
liche Treue, von der ich träumte, die gibt es viel-
leicht gar nicht."
Mit Tränen in den Augen schaute sie auf den
Mann vor ihr, der sich langsam erhoben hatte und
wie im Schwindel sich auf die Stuhllehne stützte.
„Du wenigstens," fuhr sie leidvoll fort, „bist
solcher Empfindungen nicht fähig."
Da schaute er wie ein Verzweifelnder auf sie.
„Was soll ich denn nur tun, daß du mir glaubst?"
rief er. „Ich will dich nicht lassen, Pia — ich will
dich nicht lassen!"
Die äußere Tür war geöffnet worden.
Pias Gesicht wurde totenbleich. Unwillkürlich
trat sie ihrem Verlobten einen Schritt näher, faßte
sich jedoch rasch wieder und drückte die Klinke der
Jnnentür selbst nieder.
„Ich komme schon," sagte sie zu dem Manne,
der sie zu holen kam.
Dann ging sie auf ihren einstigen Verlobten zu
und reichte ihm die Hand.
„Ich danke dir für alles, das mir einst von dir
gekommen ist," sagte sie tiefbewegt. „Deiner Tante,
die nie an meiner Ehre gezweifelt hat, küsse in
meinem Namen die Hand, und mich — mich muht
du vergessen."
„Nie -— nie!" schrie er und riß sie an sich und
küßte ihren blossen Mund.
Sie riß sich los und trat durch die Tür.
Als sie durch den Nebenraum ging, drückte ihr
dort Doktor Perthal noch einmal kräftig die Hand.
Seinen sorgenvollen Blick erwiderte sie mit einem
ruhigen Lächeln.
Gleich darauf schloß sich die Tür hinter ihr.
Pertbal ging ein paar Minuten später mit Lanner
die Treppe hinunter.

Vaz Such sül-MIe


Sie redeten nicht miteinander. Es war ihnen
wohl beiden dazu das Herz zu schwer.
Vor dem Tor rief der Doktor einen Wagen
herbei.
Während dieser heranfuhr, trat der Staats-
anwalt Lautenbach aus dem Gerichtsgebäude. Ein
Lächeln auf den schmalen Lippen reichte er dem
Anwalt die Hand und sagte: „Nichts für ungut,
lieber Doktor! Sie haben wieder famos gesprochen.
Ich kenne keinen, der Ihnen das nachmachen könnte.
Aber freilich — Ihre Sache war von vornherein
verloren. So klare Indizien wirft keiner um, und
wäre es selbst ein Doktor Perthal. — Doch Ihr
Wagen wartet auf Sie. Guten Abend, lieber
Doktor, guten Abend!"
Eiligst ging er weiter.
Perthal schaute ihm noch einen Augenblick lang
nach. Seufzend stieg er alsdann in den Wagen,
in welchem Lanner bereits Platz genommen hatte.
Die Verhandlung gegen Pia Vittone hatte
etwa sechs Stunden in Anspruch genommen. Gegen
elf Uhr Vormittags hatte sie begonnen. Als der
Tapeziergehilfe Max Eder kurz nach fünf Uhr in
der Mariahilferstraße einen Wagen der Elektrischen
bestieg, dämmerte es schon. Man war ja noch in
der ersten Hälfte des Februars, und überdies war es
heute nebelig.
Noch immer in Gedanken versunken langte
Eder, der in Hietzing wohnte, daselbst an. Jetzt
war es schon völlig finster.
Er mußte auf seinem Heimweg eine mit Bäumen
bestandene Straße passieren, in der erst wenige
Gebäude errichtet waren.
Da die Laternen zwischen den Bäumen standen,
gab cs in dieser Straße, wiewohl die Bäume noch
kahl waren, recht viele Schatten.
In einem dieser Baumschatten regte sich jetzt
etwas noch Dunkleres. Es war eine Frau, welche
da drüben an der hohen Planke eines Gartens
stand und sich dort etwas zu tun machte.
Jetzt fiel ein metallener Gegenstand auf den
hartgefrorenen Boden.
Die Frau bückte sich nach dem gefallenen Gegen-
stand.
Es mochte ein Schlüssel sein.
Eder war unwillkürlich hinübergelaufen. Eine
Wahrnehmung, welche seine Nase gemacht, hatte
ihn zum Abweichen von seinem Wege bewogen.
Eine Luftwelle hatte ihm denselben Duft zu-
getragen, den die im Gerichtssaal ohnmächtig Ge-
wordene um sich verbreitet hatte.
Er erkannte die Frau auch sofort wieder an
ihrer Gestalt und an ihrem Gewände. Aber ihr
Gesicht sah er auch jetzt nicht deutlich. Das alte
schwarze Spitzentuch war ganz dicht darum ge-
wunden.
Auch huschte die Frau soeben hinter die schon
offene Tür. Nur den Beutel sah Eder noch, der
ihr am Arme hing.
Er war dunkelblau, dieser Beutel, und er mußte
aus Seide sein. Der Stoff schillerte. Das matte
Licht der nächsten Laterne zeigte das, und es brach
sich in der Stahlperlenfranse, welche den unteren
Rand des Beutels zierte.
Max Eder schüttelte den Kops.
Leises, lustiges Singen lenkte den jungen
Menschen von seinen Gedanken ab. Wie ihn vor-
hin der Duft über die Straße gelockt hatte, so lockten
ihn jetzt diese Tonwellen wieder hinüber auf die
andere Seite.
„Guck, was für ein sauberes Mnderl!" sagte er,
vor der jungen Sängerin stehen bleibend.
Diese war — die zusammenklirrenden Kannen
in ihren Händen sagten es —eine Milchausträgcrin.
„Ich bitt' Sie, seien S' still, und machen S', daß Sie
weiterkommen!" rief sie ihm schnippisch zu, drängte
ihn zur Seite uud ging eilig davon.
„Jetzt gefallen Sie mir immer besser!" lachte er
und verfolgte alsdann weiter seinen Weg.
Die Person mit dem blauseidenen Beutel hatte
er gänzlich vergessen.
Drittes Kapitel.— -— ——.
An einem schönen Maimorgen hielt ein Fiaker
vor einem der Seitentore des düseren Gerichts-
gebäudes. Er wartete auf den Herrn, welchen er
soeben hierhergebracht hatte.
Dieser Herr kam jetzt aus dem Hause. Er führte
eine Dame am Arm; eine dunkelgekleidete, dicht
verschleierte Dame.
Die beiden bestiegen den Wagen, der sofort ge-
schlossen wurde.
„Ah — so!" murmelte der Kutscher vor sich hin.
Sein Ziel kannte er schon. Es war der Staats-
bahnhof.
Er schnalzte mit der Zunge, das Ende seiner
Peitschenschnur glitt leicht über den Hals der Pferde

hin, diese griffen aus und der Wagen fuhr in raschem
Tempo der Ringstraße zu.
Pia Vittone drückte sich, laut aufschluchzend, in
eine Ecke des Wagens.
Perthal hielt ihre linke Hand fest. Zuweilen
strich er mit seiner freien Hand darüber hin und
sagte beruhigend: „Nur Mut, Pia — fassen Sie nur
frischen Mut!"
Es fiel ihm nichts anderes ein.
Er war nämlich sehr erschrocken über ihr Aus-
sehen und deshalb einigermaßen fassungslos, da
er sie jetzt, nach llberstehung ihrer Haft, wiedersah.
Auf Pias Wunsch hatte er sie während der Zeit
ihrer Haft nicht besucht. Nur einige Briefe hatten
sie miteinander getauscht. Briefe hatte Pia über-
haupt von mehreren bekommen. Es waren ihr ja
außer Perthal auch noch andere Menschen treu
geblieben.
Emil v. Lanner und auch seine Tante hatten
ihr geschrieben, auch Perthals Tante, die Baronin
Harkony, welche sich schon seit langem sür Pia
interessierte, und bei welcher sie schon nach dem Tode
ihrer Mutter einst eine zweite Heimat gefunden
hatte.
Pia hatte diese Schreiben zwar nur kurz, aber
ruhig beantwortet. Bei Fräulein v. Lanner hatte
sie sich für alle ihr etwa noch zugedachten Zeichen
des Wohlwollens in inniger Weise bedankt und
hatte die Dame gebeten, ihr nicht mehr zu schreiben
und auch auf ihren Neffen in dieser Richtung ein-
zuwirken, da ja doch jeder Verkehr abgebrochen
werden müsse.
Am offensten hatte sie Perthal geschrieben, so
hatte sie es Wohl selber beabsichtigt, und das hatte
auch er aus dem Ton ihrer Briefe herausgelesen.
Nun aber wußte er, daß sie auch vor ihm noch
gar vieles verheimlicht hatte. Von der übergroßen
Qual, die sie ausges anden haben mußte, hatte sie
auch ihm nichts geschrieben.
Wie schmal war ihr Gesicht geworden, und wie
sehr hatten ihre jetzt so tief liegenden Augen den
früheren Glanz verloren! Fast gelb war ihr Gesicht,
und an den Schläfen und unter den Augen lagen
dunkle Schatten. Scklaflosc Nächte und ruhelose
Tage und dabei eine Seele voll Grimm und Gram
— die können selbst der blühenden Jugend allen
Schmelz nehmen, können selbst das mutigste Herz
schlaff machen.
Während seine Augen verstohlen das Gesicht
der jetzt in tiefes Nachdenken Versunkenen studierten,
ballten sich seine Hände und preßten sich seine Zähne
aufeinander. „Blind ist sie, ganz blind, die Frau
Justitia!" dachte er, „aber scharfe Krallen hat sie,
die ihre Opfer nicht leicht wieder loslassen!"
Er lachte laut und schneidend auf.
Da schaute Pia ihn an. „Ich meine fast, Sic
sind aufgeregter als ich," sagte sie bitter lächelnd.
„Sie wissen wohl nicht, was mich so gefaßt macht?"
„Nein, Pia, das weiß ich nicht. Aber die Ruhe
in Ihren Briefen und die Ruhe, die Sie jetzt wieder
zeigen, ängstigt mich."
„Dazu ist kein Grund vorhanden. Ich habe
mir eben schon das Programm für meine Zukunft
gemacht!"
„Hoffentlich stimmt es mit dem meiner Tante,
die annimmt, daß Sie fortan wieder bei ihr leben
werden."
„Für einige Zeit werde ich die so gütige Ein-
ladung der Baronin gern annehmen — für so lang
wenigstens, als ich brauche, um mich körperlich zu
erholen."
„Und dann?"
„Dann gehe ich ins Ausland."
„Was wollen Sie dort?"
„Unbekannt sein, von allem losgelöst sein uud
arbeiten."
„Auch auf dem Harkonyschen Gute können Sie,
arbeiten. Daß Sie dort sehr nützlich werden können,
haben Sie ja schon bewiesen, und dort kennt außer
meiner Tante und ihrem Sohne -—"
„Niemand meine Vergangenheit," fiel Pia rasch
ein. „Das allein drückt mich schon so, daß ich es
auf die Dauer nicht ertragen könnte, und Tolna
ist von Wien aus in ein paar Stunden zu erreichen.
Oberst v. Lanner aber soll nicht glauben, daß ich
in der Nähe seines Sohnes bleiben will."
„Emil wird Sie auch in der Ferne zu finden
wissen."
„Ich werde das verhindern. Man kann schon
verschwinden, wenn man nur ernstlich will."
Der Wagen hielt vor dem Bahnhofe, und es
war beiden angenehm, daß der Zug, den sie benützten,
bald darauf abging, und daß ihr Abteil sich fast
ganz füllte. So konnte Trübes und Erregendes
nicht mehr gesprochen werden.
Während der Schaffner die Fahrkarten durch-
lochte, die Perthal ihm gegeben, schaute er den
Rechtsanwalt aufmerksam an.
 
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