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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 18
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0440
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Z§4 - . "
„Was fällt Ihnen denn an mir auf?" fragte
ein wenig ärgerlich der Doktor. Er war in gereizter
Stimmung, vielleicht nur deshalb, weil er fich
körperlich nicht wohl befand.
Der Schaffner griff höflich an die Mütze und
sagte: „Sind Sie nicht der Herr, welcher mir vor-
gestern den ohnmächtigen Passagier aus dein Wagen
bringen half?"
Perthal nickte. „Was war's denn eigentlich
mit dem Herrn?" fragte er. „Hat er sich bald erholt?"
„Er ist ja wieder zu sich gekommen, aber wir
haben doch der Rcttungsgesellschaft telephonieren
müssen, denn der Arzt hat gesagt, daß der Herr
den Typhus hat."
„Und ich bin von Raab bis Wien mit ihm ge-
fahren'" sagte Perthal.
„Nun, da können Sie von Glück sagen, daß Sie
gesund davongekommen sind."
Der Mann ging höflich grüßend weiter, und
Perthal verfiel in Nachdenken.
Hatte sein Unwohlsein mit jener Reisegesell-
schaft zu tun? Doch wohl nicht, denn es fiel ihm
ein, daß sich eine Typhusansteckung meist immer
erst nach Wochen bemerkbar zu machen pflegt.
Auch fühlte er fich verpflichtet, Pia zu unterhalten,
und so vergaß er bald den unliebsamen Vorfall.
In Kiskwr standen die Baronin Harkony und
ihr Sohn auf dem Bahnsteig und schauten dem ein-
fahrenden Zuge mit Interesse entgegen.
Eugenie Harkony war über die Fünfzig und hatte
schon graues Haar, aber lebhafter und scharfäugiger
als sie konnte eine Zwanzigjährige auch nicht sein.
„Dort sind sie! Franz tritt gerade aus Fenster!"
rief sie, und dann setzte sie voll Mitleid hinzu: „Du
lieber Himmel, wie bleich Pia ist!"
Sie war rasch auf den Wagen zugegangen und
winkte und nickte den Ankommenden lebhaft zu.
Jenö, ihr Sohn, ein bildhübscher schlanker
Bursche, der sicherlich das zwanzigste Jahr noch nicht
lange überschritten hatte, war merkwürdigerweise
jetzt auch recht blaß. Er konnte kaum schlucken, so
eng ward es ihm, als er, dicht hinter seiner Mutter
stehend, Pia erblickte.
Ein paar Sekunden später lag diese in den
Armen der Baronin, und Perthal drückte seines
jungen Vetters Hand.
Dann führte die Baronin ihre Gäste zu dem
draußen harrenden Wagen.
Da erst kam Jenö dazu, Pia uun auch zu be-
grüßen. Er tat es schweigend. Rasch beugte er
sich, als er ihr in den Wagen half, über ihre Hand
und küßte sie, und dabei war sein Gesicht sehr rot.
Auch über Pias Wangeu huschte eine Röte,
aber auch sie redete nicht, sie lächelte den jungen
Mann nur an, und es waren Dank und Glück zu-
gleich in diesem Lächeln.
Eine halbe Stunde etwa fuhr man, ehe man
Tolna erreichte. Es war kein Schloß, sondern nur eiu
wegeu seiuer einsamen Lage wohlbewahrter, schöner,
alter Edelhof, den eine stattliche Anzahl von Wirt-
schaftsgebäuden umgab, und an dessen Park sich
der ungeheure Grundbesitz an Wald, Wiesen und
Äckern schloß, welcher den Harkonyschen Reichtum
ausmachte.
Pia Vittone war hier nicht fremd, das bewies
nicht nur der Baronin Verhalten, das zeigte auch
der freudige Empfang, den ihr die Dienstleute be-
reiteten. Schon der Kutscher hatte ihr vergnügt
entgegengeschaut und war über ihr Aussehen freilich
dann recht betreten gewesen; der alte Ferencz, der
schon seit vierzig Jahren auf dem Edelhof diente,
Liska, die Zofe, und Margit, dje rundliche Köchin —
sie alle hatten sich eingefunden, um ihren Liebling,
Fräulein Pia, zu begrüßen. Aber auch sie erschraken
bei ihrem Anblick, und nun glaubten sie es, daß die
Wiener Luft dem Fräulein gar nicht gut getan habe,
und daß es für Pia die höchste Zeit gewesen ,sei,
wieder die reine, kräftige Luft von Tolna aufzu-
suchen.

Eine Woche lang blieb Perthal seiner Ver-
wandten Gast, dann trieb ihn die große Nervosität,
an welcher er schon seit langem litt, und die sich in
der letzten Zeit bedenklich gesteigert hatte, wieder
fort.
Als er Tolna verließ, wußten die dort Zurück-
bleibenden, daß er in der nächsten Zeit seinen Beruf
nicht ausüben, sondern sich zu Bekannten in das
Salzkammergut begeben werde, um sich endlich
einmal gründlich zu erholen. Harkonys verargten
es ihm nicht im mindesten, daß er diese Erholung
nicht bei ihnen suchte, denn sie wußten schon, daß
er in Gmunden, das sein eigentliches Ziel war,
nicht nur die Natur, sondern auch die finden würde,
welche schon seit dem vorigen Sommer ein gut Teil
seines Herzens besaß. Frida Manusius hieß das
Sehnsuchtsziel des wackeren Mannes und war die
Tochter eines bekannten Gelehrten, der, um eine

— Var Luch süp MIe .-
bedeutsame wissenschaftliche Arbeit in Ruhe zu
vollenden, nun schon im zweiten Jahre in der
wunderschönen Alpenstadt lebte.
In Wien hielt Perthal sich nur ganz kurz auf, hatte
rasch Ordnung in seinem Hauswesen und in seiner
Kanzlei gemacht und war dann mit Bruno, dem
Bruder Pias, abgereist.
Bruno Vittone, ein hübscher Mensch von etwa
zwanzig Jahren, der nun schon fast zwei Jahre
unter der strengen, aber auch wohlwollenden Auf-
sicht Perthals lebte und ihm Sekretärdienste leistete,
hatte schon als Kind ein etwas scheues, unangenehm
stilles Wesen, und war seit Pias Verurteilung noch
scheuer und gedrückter als vorher. Er war jeden-
falls kein angenehmer Begleiter, und Perthal hätte
ihn gern in Wien gelassen, wenn er nicht die Ver-
suchungen der Großstadt für den dann sich selbst
überlassenen, charakterschwachen jungen Menschen
gefürchtet hätte. So nahm er ihn also lieber mit,
und während Bruno in einem Abteil dritter Klasse
sich in seine Ecke drückte, lehnte sein Gebieter und
Wohltäter, freilich nur um weniges froher als er,
in den Samtpolstern seines Sitzes und gedachte
ferner Tage und dessen, was sie für ihn gezeitigt
hatten.
Er sieht sich, wie er, noch ein Student, in dem
Heim Salvatore Vittones, des ersten Geigers im
Opernorchester, verkehrt, weil darin eine Frau
waltet, so edel, so klug und so schön wie kein zweites
Weib mehr auf Erden. Maria Vittone! Wie hat
er sie verehrt, angebetet! Seine ganze schwär-
merische Jünglingsseele hat ihr gehört, der teuren,
edlen Frau, die an der Seite ihres charakterlosen
Mannes ein recht verdunkeltes, von tausend mühe-
voll verheimlichten Qualen erfülltes Lehen führte,
deren einziger Halt ihre Kinder waren. Trotz
seines Empfindens, das wohl heißer als bloße
Freundschaft war, hatte er deren Grenzen zu über-
schreiten eigentlich niemals eine ernste Versuchung
empfunden, denn Maria Vittone stand ihm so hoch,
wie keine andere. Es machte ihn schon selig, daß
er ihr helfen durfte, das Leid zu tragen, das ihr
allen Lastern ergebener Mann auf sie häufte.
Fast zwei Jahre lang genoß er das traurige
Glück, der liebeu Dulderin das Leben ein wenig
leichter machen zu können, dann wurde Vittone die
leitende Stellung in der Kapelle des Belgrader
Theaters angetragen, die er sofort annahm. Die
Stunde der Trennung brachte Perthal die bitter-
süße Gewißheit, daß anch Maria mit ihm un-
geheuer viel aufgeben mußte. Sie, die immer
Gefaßte, verlor, als sie von ihm Abschied nahm,
ihre Fassung so völlig, daß sie ihm an die Brust sank
und leidenschaftlich weinte. Er sah sie im Leben
nicht mehr.
Sechzehn Jahre waren vergangen, da kam ein
Brief aus Triest au Perthal, der ihm Erschütterndes
meldete. Marias schon sterbensmüde Hand schrieb
ihm, daß er kommen solle, denn noch einmal möchte
sie ihn sehen und ihm ihre bald ganz verwaisten
Kinder ans Herz legen, Pia, die edel geartet, aber
auch Bruno, der ganz feinem Vater nachzuschlagen
scheine.
Perthal reiste sofort ab. Er fand Maria schon
tot, in Pia ihr Ebenbild und in Bruno den echten
Abkömmling seines Vaters. Er trat wenige Tage
später mit seinen beiden Schützlingen die Rückreise
nach Wien an. Für Bruno Ivar, trotz seiner schon
bemakelten Vergangenheit, leicht gesorgt, denn den
nahm er selbst in seine Obhut. Pia aber, damals
schon zwanzigjährig, paßte nicht mehr in das Haus
eines Junggesellen, aber auch da fand Perthal bald
einen Ausweg. Er stellte sie seiner stets hilfs-
bereiten Tante Harkony vor, und diese ließ Pia
nicht eher von sich gehen, als bis sich eine gute
Stellung für sie gefunden hatte.
Im Schranekschen Hause hatte Pia dann den
vielfach dort verkehrenden Emil v. Lanner kennen
gelernt und sich mit ihm verlobt. Zum Traualtar
hatte sie gehofft einmal aus dem Schranekschen
Hause zu gehen, statt dessen war sie von dort —
ins Gefängnis gegangen! —
An all dies dachte Perthal, während der Zug
dahin eilte, um ihn zu der zu bringen, die sein Herz
wieder zu einem nicht weniger lebhaften und
innigen Empfinden geweckt hatte, als jenes gewesen,
das er einst Maria geweiht, das sich aber insofern
von seiner nichts begehrenden Jugendliebe unter-
schied, als es noch weit zaghafter als jene war.
Zaghafter deshalb, weil Perthal durchaus nicht
sicher war, daß die hübsche, heitere Frida Manusius,
mit der sich nicht nur er, sondern noch viele andere
jüngere Herren beschäftigt hatten, sich ihm angeloben
werde. Das hübsche und auch vermögende Mädchen
wurde gar eifrig umworben. Würde sie da gerade
ihm, dem schon Vierzigjährigen, dem ernst und
still Gewordenen, vor allen Verehrern den Vorzug
geben?

heft 18
Mit ihrem Vater, dem hochgeschätzten Gelehrten,
hatte er inzwischen lebhaft korrespondiert. Manusius
war Historiker, und schon seit geraumer Zeit arbeitete
er an einem Werk, welches die Öberösterreichischen
Bauernkriege behandelte, deswegen er schon vor
mehr denn zwei Jahren nach Gmunden übersiedelt
war, um im Mittelpunkte des Schauplatzes der
Vorkommnisse zu sein, denen er nachforschte.
Es war durchaus kein künstliches Interesse für
die Bauernkriege, welches Perthal zur Führung der
Korrespondenz veranlaßt hatte, denn schon seit
jeher hatte er für alle großen Phasen der Geschichte
und ganz besonders für die oft so kräftigen Äuße-
rungen der Volksseele ein lebhaftes Interesse gehabt;
allein diesen Briefwechsel führte er doch nur deshalb
gar so gern, weil er wußte, daß Friedl, wie im
Familienkreise das liebe Mädchen genannt wurde,
ihrem Vater sehr häufig Sekretärsdienste leistete.
Tatsache war es denn auch, daß er fast lauter von
ihr geschriebene Antworten bekam, und daß Friedl
dem gelehrten Teil dieser Antworten stets einige
freundliche Worte folgen ließ, die angenehmerweise
wieder eine Entgegnung nötig machten. Lieb hatte
sie ihn wohl, daran brauchte er nicht zu zweifeln,
aber würde sie ihn jemals lieben?
Das hat er sich schon tausendmal gefragt, das
fragt er sich auch jetzt wieder, da seine Gedanken
aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüber-
gleiten.
Was hat er ihr denn auch gar so viel zu bieten?
Einen bekannten, geachteten Namen, eine behag-
liche Existenz, viel geistiges Leben! — Aber das
alles besitzt sie schon, und etwas, darauf sie, die eben
frisch Erblühte, vollen Anspruch hat, die Jugend —
die liegt schon eine gute Weile hinter ihm. Daß er
im Gemüte jung geblieben, daß er noch heute der
Feuerkopf ist, der er in seinen Studienjahren ge-
wesen, das stört sogar das Gleichgewicht zwischen
Mann und Frau, das doch vorhanden sein soll.
So denkt der gute Doktor Franz Perthal v. Lauen,
während seine schönen dunklen Augen, die das
Anziehendste in seinem anziehenden Gesichte sind,
sinnend auf dem rasch wechselnden Landschafts-
bilde ruhen, das da draußen vorübergleitet.
Dann greift er seufzend nach den Zeitungen,
welche zn lesen er bis jetzt noch keine Lust gehabt hat.
Fachschriften sind es, in welche er sich schließlich
so vertieft, daß alles andere einstweilen in den
Hintergrund tritt. Einmal lacht er laut auf, und
dabei knistert die Zeitung zwischen seinen sie fester
umschließenden Fingern, während seine Augen mit
hartem Ausdruck weiterlesen. Es ist da wieder ein
Fall geschildert, in welchem die Indizien den An-
geklagten einfach erdrückt haben. Der Indizien-
beweis, dieser schreckliche Indizienbeweis, verfolgt
ihn geradezu! Er imponiert ihm auch in dem soeben
gelesenen Falle nicht, ist er doch auch hier lückenhaft
und erweist sich, wenn man genauer hinzuschauen
versteht, als immerhin recht künstlich, und zwar von
einem ganz bestimmten Gesichtspunkte aus auf-
gebaut.
„Diesen Artikel will ich doch beantworten," denkt
Perthal tief aufatmend und steckt das Blatt zu sich,
um sofort eine Menge Gedanken, die längst schon
fertig in ihm sind, in sein Notizbuch einzutragen,
wobei abwechselnd Lautenbachs triumphierende
Augen und Pias liebes, bleiches Gesicht vor ihm
nuftauchen.
„Könnte ich dir doch Genugtuung verschaffen,
du Reine, du durch und durch Edle!" seufzt er,
endlich sein Notizbuch einsteckeud. Da eben rollt
der Zug in den Bahnhof von Gmunden ein, und
gleich danach gewahrt der Doktor die Familie Manu-
sius, die sich zu seiner Begrüßung eingefunden hat.
Ist es der Widerschein der Abendröte, die
Fridas Gesicht so hübsch färbt? Perthal hat keine
Zeit, darüber ins klare zu kommen, denn schon
steht Georg Manusius, ein kecker Quartaner, vor
dem Wagen und schwenkt seine Mütze und ruft ihm
zu: „Höchste Zeit ist's, daß Sie kommen, Herr
Doktor! Heute ist die große Gondelfahrt! Friedl
und ich haben unser Schiff schon mit Seerosen
geputzt. Sehen Sie, meine Finger sind vom
Schilf ganz zerschnitten."
Perthal kann nicht anders, als dem lieben
Burfchen in die lustigen Augen schauen und ihm
die tatsächlich arg zerschundene Hand schütteln, und
als er dann auf dem Bahnsteig stand, wurde er
sehr herzlich begrüßt von Frida sowohl, als auch
von ihren Eltern, und mußte versprechen, den
heutigen Abend mit seinen Freunden zu verleben.
Perthal wohnte auch diesmal wieder, wie schon
im vorigen Jahre, nicht in Gmunden selbst, sondern
in dem benachbarten Altmünder, in einem überaus
sauberen, kleinen Bauernhause, das nahe dem See
gelegen war und einem wackeren ältlichen Witwer,
Sebastian Schröckenfuchs, gehörte, der sich zumeist
mit dem Viehhandel abgab und die Bewirtschaftung
 
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