heft 24- — - — —1)^5 8uch fül-fttte . — 523
„Genug — genug! Legen Sie den Zettel nur
hin."
Die Frau zögerte. „Wenn's nicht unbescheiden
wäre, mein Herr, ich habe selber viele Ausgaben!"
Georg sah ihr eine Sekunde erstaunt in ihr
blasses Gesicht. Die Frau sah elend, ihr Anzug
dürftig aus. Der Kopf dagegen war tadellos fri-
siert. Eine Pariserin muß schon nichts mehr zu
essen haben, ehe sie ihre Frisur vernachlässigt. Georg
lachte bitter auf. War es fchon fo weit mit ihm
gekommen, daß seine Wirtsleute ihn an die Zahlung
mahnten?
Ohne die Rechnung auch nur durchzusehen, schob
er der Frau den einen der schmutzigen Scheine zu.
„Da nehmen Sie — und lassen Sie mich in Frieden!"
„Sie bekommen aber noch Geld heraus." Die
Frau suchte in ihrer Tasche herum. „Oder soll ich
die Summe gleich für den nächsten Monat zurück-
behalten?"
„Meinetwegen — gehen Sie jetzt nur."
Als die Frau hinausgegangen war, warf er sich
wieder auf den Diwan und verschränkte die Arme
unter dem Kopf. Jetzt war der Würfel gefallen.
Er hatte das Geld, das ihm der alte Lebemann für
Nadines schönes Gesicht zahlte, angenommen, um
seine Miete begleichen zu können! Die Worte Mar-
quards waren förmlich in sein Gedächtnis einge-
brannt: „Der Kunstwert des Bildes ist gleich Null
— aber das Gesicht gefällt mir!" — Bravo! — Aus-
gezeichnet! Die Schönheit der armen Nadine allein
zog den Kerl an. Ihm, dem Maler, gehörte mithin
eigentlich der Kaufpreis gar nicht, sondern Nadine.
Georgs Stimmung wurde immer verzweifelter.
Er hielt die Einsamkeit in dem öden kalten Atelier
nicht mehr aus. Auf einmal begriff er Werners
traurige Lebenstheorie. Wenn man fror, innerlich
elend, zermürbt von Seelenqualen war, was gab
es da Besseres, als sich durch ein paar Gläser Wein
Vergessenheit zu schaffen? Das wärmte, erheiterte,
das Leben sah sich dann vielleicht wieder freund-
licher an.
Er stülpte den Hut auf, hing feinen Mantel um
und ging in das Stammlokal der Künstler. Ohne
mit seinen Bekannten zu reden, bestellte er sich Glüh-
wein und stürzte schnell mehrere Gläser des stark-
gewürzten Getränks hinunter. Der Wein erheiterte
ihn aber nicht — im Gegenteil, er geriet in eine
immer menschenfeindlichere Stimmung!
Das Essen, das der Kellner vor ihn hinstellte, er-
regte ihm Ekel. Er bemerkte, daß ihm sogar der
Geruch der Speisen unerträglich war, und schob
alles von sich. Die lauten Stimmen der übrigen
Gäste und der schwüle Zigarettengeruch folterten seine
reizbaren Nerven. Als der Kellner hustete und dann
ungeniert in eine Ecke spuckte, wäre er am liebsten
aufgesprungen und hätte den Menschen nieder-
geschlagen.
Er drehte den Kopf zur Wand, um nichts mehr
zu sehen.
Der Schriftsteller Werner, der gutmütig heran-
kam und ihm erzählte, daß er augenblicklich für eine
Zeitschrift kleine Aufsätze schreibe, erhielt keine Ant-
wort von ihm, ebensowenig Maurice Roland, der
ihm die Frage zurief, warum er denn jetzt so selten
Olhardts Atelier besuche?
„Stechow malt heimlich gewiß etwas, womit er
uns überraschen will," meinte Norbert. Er dachte
sich gar nichts bei diesen Worten, die Mutmaßung
fuhr ihm unwillkürlich heraus.
Ebenso wie die übrigen Anwesenden sah er er-
schrocken auf, als Georg plötzlich blaß, mit zittern-
den Lippen, fast unfähig vor Zorn, deutlich zu
sprechen, vor seinem Stuhl stand. „Ich verbiete
Ihnen, sich in meine Angelegenheiten zu mischen,"
herrschte Georg ihn wütend an, „was geht's Sie
an, was ich tue?"
„Gar nichts," entgegnete Norbert. „Das inter-
essiert mich auch wirklich nur insofern, als Sie Fräu-
lein Holzinger, die Ihnen vermutlich Modell steht,
durch die langen Sitzungen vom Arbeiten abhalten,
so daß sie in der Kunst rückwärts statt vorwärts
kommt."
„Auch Fräulein Holzingers Tun und Lassen
untersteht nicht Ihrer Kritik. Sie sind sehr an-
maßend mit Ihren Einmischungen!"
„Mich um Ihr Leben und Treiben, um Ihr
Malen oder Nichtmalen zu bekümmern, fällt mir
auch gar nicht ein." Norbert fing nun auch an, sich
zu ärgern. „Ob ich mich um Fräulein Holzinger
bekümmere oder nicht, ist aber meine Sache. Ich
kenne sie viel länger als Sie."
„Aber Nadine will nichts von Ihnen wissen. Sie
sind einfach eifersüchtig, daher die großen Worte!"
rief Georg gcr:izt. Er war nicht mehr nüchtern
genug, um seine Worte zu überlegen.
„Wenn Sie richt halb betrunken wären, würde
ich Ihnen antworten, wie Sie's verdienen," ent-
gegnete Norbert kalt. „Jetzt rate ich Ihnen, zu Bett
zu gehen und auszuschlafen. Das ist das beste, was
Sie tun können."
„Fällt mir nicht ein."
„Dann gehe ich." Norbert nahm seinen grauen
Filzhut vom Nagel. „Ich habe keine Lust, mich mit
einem Unzurechnungsfähigen herumzustreiten und
überhaupt —". Er biß die Lippen fest zusammen,
um die beleidigenden Worte, die darauf schwebten,
zurückzuhalten.
Georg sah der großen, kräftigen Gestalt, die mit
kurzem Gruß das Lokal verließ, mit starrem Blick
nach.
Eine Weile schwirrten die Stimmen der zurück-
gebliebenen Gäste noch durcheinander, dann trat
eine unbehagliche Stille ein.
Der Stammtisch der Maler leerte sich heute auf-
fallend schnell. Es dauerte nicht lange, und Georg
sah sich fast allein in dem räucherigen Lokal. Un-
zufrieden, mit sich selbst zerfallen, ging er endlich
auch hinaus.
Die herbe Nachtlust kühlte seine heiße Stirn.
Die Geister des Weins verflogen, nur Mutlosigkeit,
ein tiefer Überdruß an allem, was ihn jetzt umgab,
blieb zurück. Ihm graute vor seiner engen, schlecht
gelüfteten Schlafstube, vor dem Anblick der schmutzi-
gen Aufwärterin, vor dem Atelier, in dem Olhardt
ihn jetzt immer kurz und kalt behandelte, vor den
Mitschülern, bei denen er sich heute abend lächerlich
gemacht hatte mit seinem sinnlosen Wutausbruch.
Zu Hause angekommen, warf er sich angezogen,
den Hut noch auf dem Kopf, aufs Bett und fiel in
einen dumpfen Schlaf, aus dem er erst am anderen
Morgen unlustig und wenig ersrischt durch heftiges
Klopfen an seiner Zimmertür erwachte.
„Ich komme gleich!" rief er ungeduldig. Gewiß
kam der Dienstmann, um das Bild zu holen. Un-
willkürlich warf er einen Blick auf die Staffelei.
Sie war leer. Also war es fchon gestern während
seiner Abwesenheit geholt worden.
Der Geldbriefträger, der draußen ungeduldig
stand, war das Warten augenscheinlich nicht gewöhnt.
Aber sein verdrießliches Gebrumme verstummte
durch ein Fünffrankstück, das Georg ihm in die Hand
schob, sehr schnell. Trinkgelder wie ein großer Herr
zu geben, konnte er sich nun einmal trotz seiner be-
drängten Lage nicht abgewöhnen. Er riß den ver-
siegelten Geldbrief schnell aus.
Mehrere Scheine — er konnte fo schnell nicht
zählen, wie viele es waren — fielen ihm entgegen,
nebst einem Brief seiner Mutter.
Ein erleichterter Atemzug hob Georgs Brust.
Er entfaltete den Brief und las:
„Mein geliebter Georg, mein einziges, teures
Kind!
Papa weiß weder, daß ich Dir schreibe, noch daß
ich Dir Geld schicke. Aber ich halte es nicht länger
ohne Nachricht von Dir aus. Ich denke, Tu bist
vielleicht krank, und weißt nicht, an wen Du Dich
in der fremden großen Stadt wenden sollst. Woher
ich das viele Geld aufgetrieben habe, kannst Du
später erfahren, jetzt nimm es nur ruhig, bezahle
alles, was du vielleicht schuldig bist, und komm nach
Haufe. Georg, lieber guter Georg, Du mußt
kommen, denn mir wachsen die Sorgen über den
Kops. Wenn wir Anne-Marie nicht hätten, wir
wären schon ganz verzweifelt. Seit sechs Wochen
hast Du uns keine Silbe geschrieben. Wir wissen
nicht mehr, was wir davon denken sollen. Meine
Briefe hast Du nie ordentlich beantwortet. Anne-
Marie und ich glauben, daß Dir ein Bild mißraten
ist, und das willst Du nicht eingestehen. Aber, Lieb-
ling, sei doch nicht so starrköpfig! Du brauchst doch
nicht für Geld zu malen! Hier wartet Deine schöne,
liebe Braut, das große Schloß Lehmin, Deine Mut-
ter voller Sehnsucht auf Dich.
Mit unseren Geldverhältnissen in Rettershos steht
es sehr schlecht. Ich habe keinen genauen Einblick,
aber Anne-Marie ist seit Papas Krankheit — vor
vier Wochen erkältete er sich heftig und kann sich
nicht wieder erholen — bei uns und führt alle Ge-
schäfte. Sie meint, Rettershof wäre nur mit großen
Opfern noch zu halten. Mißernten, Brandschaden,
Unterschlagungen gaben uns den Rest. Georg, was
soll aus uns werden, wenn Anne-Marie, erbittert
über Dein Benehmen, die Verlobung auflöst? Ver-
denken könnte ihr das wirklich niemand.
Papa ist in so schlechter Stimmung, daß ich gar
nicht wage, von Dir zu sprechen. Aber trotzdem
weiß ich, sowie Du zurüäkommst, ist alles gut —
alles vergessen.
Im Walde fangen die Osterblumen, die Weißen
Anemonen, die Du so liebst, schon zu blühen au,
aber ich freue mich nicht daran ohne Dich. Nachts
schlafe ich kaum noch vor Kummer. Papa geht es
nicht anders, wenngleich er sein Herzeleid nur durch
Brummen und Schelten äußert.
Anne-Marie wohnt ganz bei uns. Sie führt die
Wirtschaft, rechnet, Pflegt Papa wie die treueste
Tochter. Wir können es alle drei nicht glauben, daß
Du Deine alten Eltern, Deine liebe Braut aufgeben
willst, Georg. Meine Hände zittern so, daß ich
schlecht schreiben und gar nicht mehr klöppeln kann.
Die Augen tun auch zu weh vom vielen Weinen."
Den Schluß, der innige Liebesworte, die heiße
Bitte, so bald wie möglich zurückzukehren, aussprach,
las Georg nur noch sehr flüchtig.
Der Brief erschütterte ihn. Ohne sich einer
brutalen Lieblosigkeit und Undankbarkeit schuldig zu
machen, konnte er ihn nicht wie die anderenSchreiben
unberücksichtigt lassen. Er mußte so schnell wie mög-
lich nach Hause reisen. Daß seine eigenen geheimen
Wünsche diesen Entschluß hestärkten, machte er sich
selbst nicht klar. Was sollte er hier aufangen? Ohne
genügende Geldmittel war Paris ein schrecklicher
Aufenthaltsort.
An den bevorstehenden Bankerott in Rettershof
glaubte er übrigens nicht. Jedenfalls mußte er sich
genauen Einblick in die Vermögensverhältnisfe der
Eltern verschaffen. Die Krankheit des Vaters, der
sich sonst nie dazwischenreden ließ, erleichterte das.
Hoffentlich konnte er ohne Schroffheit seine Ver-
lobung mit Anne-Marie auflösen. Trat sie frei-
willig zurück — desto besser. Sonst mußte er ihr
seine Liebe für Nadine eingestehen. Ein derartiges
Eingeständnis vertrug ihr Stolz sicher nicht. Frei-
lich mit den Eltern gab es einen harten Kampf, und
der Gedanke, wenn die Verhältnisse wirklich schlecht
waren, mit Nadine zu ihnen nach Rettershof zu
ziehen, war kein sehr erfreulicher. Aber Landwirte
klagen bekanntlich immer. Eine gute Ernte riß viel-
leicht alles wieder heraus. Oder es fand sich ein
guter Käufer für Rettershof. Natürlich mußte er
sich mit Nadine einschränken, aber so verzweifelt,
wie die Mutter die Lage schilderte, war sie sicher
nicht. Das tat sie hauptsächlich, um ihn zur Rück-
kehr zu veranlassen.
In ganz veränderter, fast heiterer Stimmung —
die Unentschlossenheit der letzten Tage war so qual-
voll gewesen — machte er sich zur Reise fertig. Ein
vernachlässigter Anzug wird in Paris schnell in Ord-
nung gebracht. Die Wirtin besorgte einen Schneider
zum Aufbügeln der Röcke, elegante Lackschuhe, tadel-
lose Handschuhe, ja selbst eine weiße Gardenie fürs
Knopfloch waren bald zur Stelle.
In diesem einwandsfreien Aufzug, der ihm nach
den langen harten Arbeitswochen sein eigentliches
Selbst zurückzugeben schien, bummelte Georg noch
einmal die Boulevards hinunter.
In dem eleganten Restaurant, in dem er endlich
einmal wieder mit Appetit aß, schrieb er einen höf-
lichen Brief an den Professor Olhardt, in dem er
ihm mitteilte, daß seinen Studien in Paris vor-
läufig durch eine ernste Erkrankung seines Vaters
ein Ziel gesetzt sei. Für die Mitschüler genügten
Visitenkarten. Ein Dienflmann konnte alles zu-
gleich im Atelier abliefern.
Georg wartete, bis die Unterrichtsstunden vor-
über sein mußten, dann nahm er eine Droschke und
fuhr zu Nadine. Der letzte Nachmittag sollte ihr
gehören — ihr allein. Er konnte den Nachtzug nach
Deutschland bonützen. In Rettershof hatte er sich
durch ein Telegramm bereits angemeldet.
Die Droschke ließ er warten vor der Haustür
Nadines. Zum letzten Male erstieg Georg die
steilen, schlechtgefegten Treppen, die zu ihrer Woh-
nung führten. Er klopfte an der Tür, die ihre
Visitenkarte trug. Das Glück begünstigte ihn. Lucy
O'Reilly war ausgegangen, er konnte Nadine also
allein sprechen.
Sie saß in ihrem kleinen Wohnzimmer, in einem
von ihm geschenkten Korbstuhl. Das klare Früh-
lingslicht, das hell auf ihr Gesicht fiel, zeigte deutlich,
wie schmal und blaß sie geworden war.
Sie sah bei Georgs Eintreten überrascht auf.
Wieder, wie an jenem ersten Tage in Olhardts
Atelier, frappierte sie die Eleganz seiner Kleidung
und Haltung. Der siegesfrohe Ausdruck seines
jugendschönen Gesichts veränderte ihn vollkommen.
Die müde Hoffnungslosigkeit der letzten Zeit war
gänzlich verschwunden.
„Du hast dein Bild verkauft — gut verkauft!"
rief Nadine lebhaft, statt jeder Begrüßung ihm zu.
Georg zog die Tür hinter sich zu und faßte Na-
dines Hände. „Ja, ich habe die , Salome" ver-
kauft," bestätigte er. „Um einen elenden Preis gab
ich sie weg, ich bereue es fchon bitter!"
„Wieviel bekamst du denn dafür?"
„Ach, ein Lumpengeld — nicht der Rede wert.
Ein paar hundert Franken."
„Nun, für den Anfang ist das doch schon ganz
hübsch," meinte sie etwas unsicher. Wenn der Ver-
kauf ihn nicht beglückte, woher kam denn der plötz-
liche Umschwung in seinem Äußeren, seinem ganzen
Auftreten? „Hast du gute Nachrichten von daheim
bekommen?" forschte sie daher weiter. „Du siehst
aus, als ob dir irgend ein Glück begegnet wäre."
„Genug — genug! Legen Sie den Zettel nur
hin."
Die Frau zögerte. „Wenn's nicht unbescheiden
wäre, mein Herr, ich habe selber viele Ausgaben!"
Georg sah ihr eine Sekunde erstaunt in ihr
blasses Gesicht. Die Frau sah elend, ihr Anzug
dürftig aus. Der Kopf dagegen war tadellos fri-
siert. Eine Pariserin muß schon nichts mehr zu
essen haben, ehe sie ihre Frisur vernachlässigt. Georg
lachte bitter auf. War es fchon fo weit mit ihm
gekommen, daß seine Wirtsleute ihn an die Zahlung
mahnten?
Ohne die Rechnung auch nur durchzusehen, schob
er der Frau den einen der schmutzigen Scheine zu.
„Da nehmen Sie — und lassen Sie mich in Frieden!"
„Sie bekommen aber noch Geld heraus." Die
Frau suchte in ihrer Tasche herum. „Oder soll ich
die Summe gleich für den nächsten Monat zurück-
behalten?"
„Meinetwegen — gehen Sie jetzt nur."
Als die Frau hinausgegangen war, warf er sich
wieder auf den Diwan und verschränkte die Arme
unter dem Kopf. Jetzt war der Würfel gefallen.
Er hatte das Geld, das ihm der alte Lebemann für
Nadines schönes Gesicht zahlte, angenommen, um
seine Miete begleichen zu können! Die Worte Mar-
quards waren förmlich in sein Gedächtnis einge-
brannt: „Der Kunstwert des Bildes ist gleich Null
— aber das Gesicht gefällt mir!" — Bravo! — Aus-
gezeichnet! Die Schönheit der armen Nadine allein
zog den Kerl an. Ihm, dem Maler, gehörte mithin
eigentlich der Kaufpreis gar nicht, sondern Nadine.
Georgs Stimmung wurde immer verzweifelter.
Er hielt die Einsamkeit in dem öden kalten Atelier
nicht mehr aus. Auf einmal begriff er Werners
traurige Lebenstheorie. Wenn man fror, innerlich
elend, zermürbt von Seelenqualen war, was gab
es da Besseres, als sich durch ein paar Gläser Wein
Vergessenheit zu schaffen? Das wärmte, erheiterte,
das Leben sah sich dann vielleicht wieder freund-
licher an.
Er stülpte den Hut auf, hing feinen Mantel um
und ging in das Stammlokal der Künstler. Ohne
mit seinen Bekannten zu reden, bestellte er sich Glüh-
wein und stürzte schnell mehrere Gläser des stark-
gewürzten Getränks hinunter. Der Wein erheiterte
ihn aber nicht — im Gegenteil, er geriet in eine
immer menschenfeindlichere Stimmung!
Das Essen, das der Kellner vor ihn hinstellte, er-
regte ihm Ekel. Er bemerkte, daß ihm sogar der
Geruch der Speisen unerträglich war, und schob
alles von sich. Die lauten Stimmen der übrigen
Gäste und der schwüle Zigarettengeruch folterten seine
reizbaren Nerven. Als der Kellner hustete und dann
ungeniert in eine Ecke spuckte, wäre er am liebsten
aufgesprungen und hätte den Menschen nieder-
geschlagen.
Er drehte den Kopf zur Wand, um nichts mehr
zu sehen.
Der Schriftsteller Werner, der gutmütig heran-
kam und ihm erzählte, daß er augenblicklich für eine
Zeitschrift kleine Aufsätze schreibe, erhielt keine Ant-
wort von ihm, ebensowenig Maurice Roland, der
ihm die Frage zurief, warum er denn jetzt so selten
Olhardts Atelier besuche?
„Stechow malt heimlich gewiß etwas, womit er
uns überraschen will," meinte Norbert. Er dachte
sich gar nichts bei diesen Worten, die Mutmaßung
fuhr ihm unwillkürlich heraus.
Ebenso wie die übrigen Anwesenden sah er er-
schrocken auf, als Georg plötzlich blaß, mit zittern-
den Lippen, fast unfähig vor Zorn, deutlich zu
sprechen, vor seinem Stuhl stand. „Ich verbiete
Ihnen, sich in meine Angelegenheiten zu mischen,"
herrschte Georg ihn wütend an, „was geht's Sie
an, was ich tue?"
„Gar nichts," entgegnete Norbert. „Das inter-
essiert mich auch wirklich nur insofern, als Sie Fräu-
lein Holzinger, die Ihnen vermutlich Modell steht,
durch die langen Sitzungen vom Arbeiten abhalten,
so daß sie in der Kunst rückwärts statt vorwärts
kommt."
„Auch Fräulein Holzingers Tun und Lassen
untersteht nicht Ihrer Kritik. Sie sind sehr an-
maßend mit Ihren Einmischungen!"
„Mich um Ihr Leben und Treiben, um Ihr
Malen oder Nichtmalen zu bekümmern, fällt mir
auch gar nicht ein." Norbert fing nun auch an, sich
zu ärgern. „Ob ich mich um Fräulein Holzinger
bekümmere oder nicht, ist aber meine Sache. Ich
kenne sie viel länger als Sie."
„Aber Nadine will nichts von Ihnen wissen. Sie
sind einfach eifersüchtig, daher die großen Worte!"
rief Georg gcr:izt. Er war nicht mehr nüchtern
genug, um seine Worte zu überlegen.
„Wenn Sie richt halb betrunken wären, würde
ich Ihnen antworten, wie Sie's verdienen," ent-
gegnete Norbert kalt. „Jetzt rate ich Ihnen, zu Bett
zu gehen und auszuschlafen. Das ist das beste, was
Sie tun können."
„Fällt mir nicht ein."
„Dann gehe ich." Norbert nahm seinen grauen
Filzhut vom Nagel. „Ich habe keine Lust, mich mit
einem Unzurechnungsfähigen herumzustreiten und
überhaupt —". Er biß die Lippen fest zusammen,
um die beleidigenden Worte, die darauf schwebten,
zurückzuhalten.
Georg sah der großen, kräftigen Gestalt, die mit
kurzem Gruß das Lokal verließ, mit starrem Blick
nach.
Eine Weile schwirrten die Stimmen der zurück-
gebliebenen Gäste noch durcheinander, dann trat
eine unbehagliche Stille ein.
Der Stammtisch der Maler leerte sich heute auf-
fallend schnell. Es dauerte nicht lange, und Georg
sah sich fast allein in dem räucherigen Lokal. Un-
zufrieden, mit sich selbst zerfallen, ging er endlich
auch hinaus.
Die herbe Nachtlust kühlte seine heiße Stirn.
Die Geister des Weins verflogen, nur Mutlosigkeit,
ein tiefer Überdruß an allem, was ihn jetzt umgab,
blieb zurück. Ihm graute vor seiner engen, schlecht
gelüfteten Schlafstube, vor dem Anblick der schmutzi-
gen Aufwärterin, vor dem Atelier, in dem Olhardt
ihn jetzt immer kurz und kalt behandelte, vor den
Mitschülern, bei denen er sich heute abend lächerlich
gemacht hatte mit seinem sinnlosen Wutausbruch.
Zu Hause angekommen, warf er sich angezogen,
den Hut noch auf dem Kopf, aufs Bett und fiel in
einen dumpfen Schlaf, aus dem er erst am anderen
Morgen unlustig und wenig ersrischt durch heftiges
Klopfen an seiner Zimmertür erwachte.
„Ich komme gleich!" rief er ungeduldig. Gewiß
kam der Dienstmann, um das Bild zu holen. Un-
willkürlich warf er einen Blick auf die Staffelei.
Sie war leer. Also war es fchon gestern während
seiner Abwesenheit geholt worden.
Der Geldbriefträger, der draußen ungeduldig
stand, war das Warten augenscheinlich nicht gewöhnt.
Aber sein verdrießliches Gebrumme verstummte
durch ein Fünffrankstück, das Georg ihm in die Hand
schob, sehr schnell. Trinkgelder wie ein großer Herr
zu geben, konnte er sich nun einmal trotz seiner be-
drängten Lage nicht abgewöhnen. Er riß den ver-
siegelten Geldbrief schnell aus.
Mehrere Scheine — er konnte fo schnell nicht
zählen, wie viele es waren — fielen ihm entgegen,
nebst einem Brief seiner Mutter.
Ein erleichterter Atemzug hob Georgs Brust.
Er entfaltete den Brief und las:
„Mein geliebter Georg, mein einziges, teures
Kind!
Papa weiß weder, daß ich Dir schreibe, noch daß
ich Dir Geld schicke. Aber ich halte es nicht länger
ohne Nachricht von Dir aus. Ich denke, Tu bist
vielleicht krank, und weißt nicht, an wen Du Dich
in der fremden großen Stadt wenden sollst. Woher
ich das viele Geld aufgetrieben habe, kannst Du
später erfahren, jetzt nimm es nur ruhig, bezahle
alles, was du vielleicht schuldig bist, und komm nach
Haufe. Georg, lieber guter Georg, Du mußt
kommen, denn mir wachsen die Sorgen über den
Kops. Wenn wir Anne-Marie nicht hätten, wir
wären schon ganz verzweifelt. Seit sechs Wochen
hast Du uns keine Silbe geschrieben. Wir wissen
nicht mehr, was wir davon denken sollen. Meine
Briefe hast Du nie ordentlich beantwortet. Anne-
Marie und ich glauben, daß Dir ein Bild mißraten
ist, und das willst Du nicht eingestehen. Aber, Lieb-
ling, sei doch nicht so starrköpfig! Du brauchst doch
nicht für Geld zu malen! Hier wartet Deine schöne,
liebe Braut, das große Schloß Lehmin, Deine Mut-
ter voller Sehnsucht auf Dich.
Mit unseren Geldverhältnissen in Rettershos steht
es sehr schlecht. Ich habe keinen genauen Einblick,
aber Anne-Marie ist seit Papas Krankheit — vor
vier Wochen erkältete er sich heftig und kann sich
nicht wieder erholen — bei uns und führt alle Ge-
schäfte. Sie meint, Rettershof wäre nur mit großen
Opfern noch zu halten. Mißernten, Brandschaden,
Unterschlagungen gaben uns den Rest. Georg, was
soll aus uns werden, wenn Anne-Marie, erbittert
über Dein Benehmen, die Verlobung auflöst? Ver-
denken könnte ihr das wirklich niemand.
Papa ist in so schlechter Stimmung, daß ich gar
nicht wage, von Dir zu sprechen. Aber trotzdem
weiß ich, sowie Du zurüäkommst, ist alles gut —
alles vergessen.
Im Walde fangen die Osterblumen, die Weißen
Anemonen, die Du so liebst, schon zu blühen au,
aber ich freue mich nicht daran ohne Dich. Nachts
schlafe ich kaum noch vor Kummer. Papa geht es
nicht anders, wenngleich er sein Herzeleid nur durch
Brummen und Schelten äußert.
Anne-Marie wohnt ganz bei uns. Sie führt die
Wirtschaft, rechnet, Pflegt Papa wie die treueste
Tochter. Wir können es alle drei nicht glauben, daß
Du Deine alten Eltern, Deine liebe Braut aufgeben
willst, Georg. Meine Hände zittern so, daß ich
schlecht schreiben und gar nicht mehr klöppeln kann.
Die Augen tun auch zu weh vom vielen Weinen."
Den Schluß, der innige Liebesworte, die heiße
Bitte, so bald wie möglich zurückzukehren, aussprach,
las Georg nur noch sehr flüchtig.
Der Brief erschütterte ihn. Ohne sich einer
brutalen Lieblosigkeit und Undankbarkeit schuldig zu
machen, konnte er ihn nicht wie die anderenSchreiben
unberücksichtigt lassen. Er mußte so schnell wie mög-
lich nach Hause reisen. Daß seine eigenen geheimen
Wünsche diesen Entschluß hestärkten, machte er sich
selbst nicht klar. Was sollte er hier aufangen? Ohne
genügende Geldmittel war Paris ein schrecklicher
Aufenthaltsort.
An den bevorstehenden Bankerott in Rettershof
glaubte er übrigens nicht. Jedenfalls mußte er sich
genauen Einblick in die Vermögensverhältnisfe der
Eltern verschaffen. Die Krankheit des Vaters, der
sich sonst nie dazwischenreden ließ, erleichterte das.
Hoffentlich konnte er ohne Schroffheit seine Ver-
lobung mit Anne-Marie auflösen. Trat sie frei-
willig zurück — desto besser. Sonst mußte er ihr
seine Liebe für Nadine eingestehen. Ein derartiges
Eingeständnis vertrug ihr Stolz sicher nicht. Frei-
lich mit den Eltern gab es einen harten Kampf, und
der Gedanke, wenn die Verhältnisse wirklich schlecht
waren, mit Nadine zu ihnen nach Rettershof zu
ziehen, war kein sehr erfreulicher. Aber Landwirte
klagen bekanntlich immer. Eine gute Ernte riß viel-
leicht alles wieder heraus. Oder es fand sich ein
guter Käufer für Rettershof. Natürlich mußte er
sich mit Nadine einschränken, aber so verzweifelt,
wie die Mutter die Lage schilderte, war sie sicher
nicht. Das tat sie hauptsächlich, um ihn zur Rück-
kehr zu veranlassen.
In ganz veränderter, fast heiterer Stimmung —
die Unentschlossenheit der letzten Tage war so qual-
voll gewesen — machte er sich zur Reise fertig. Ein
vernachlässigter Anzug wird in Paris schnell in Ord-
nung gebracht. Die Wirtin besorgte einen Schneider
zum Aufbügeln der Röcke, elegante Lackschuhe, tadel-
lose Handschuhe, ja selbst eine weiße Gardenie fürs
Knopfloch waren bald zur Stelle.
In diesem einwandsfreien Aufzug, der ihm nach
den langen harten Arbeitswochen sein eigentliches
Selbst zurückzugeben schien, bummelte Georg noch
einmal die Boulevards hinunter.
In dem eleganten Restaurant, in dem er endlich
einmal wieder mit Appetit aß, schrieb er einen höf-
lichen Brief an den Professor Olhardt, in dem er
ihm mitteilte, daß seinen Studien in Paris vor-
läufig durch eine ernste Erkrankung seines Vaters
ein Ziel gesetzt sei. Für die Mitschüler genügten
Visitenkarten. Ein Dienflmann konnte alles zu-
gleich im Atelier abliefern.
Georg wartete, bis die Unterrichtsstunden vor-
über sein mußten, dann nahm er eine Droschke und
fuhr zu Nadine. Der letzte Nachmittag sollte ihr
gehören — ihr allein. Er konnte den Nachtzug nach
Deutschland bonützen. In Rettershof hatte er sich
durch ein Telegramm bereits angemeldet.
Die Droschke ließ er warten vor der Haustür
Nadines. Zum letzten Male erstieg Georg die
steilen, schlechtgefegten Treppen, die zu ihrer Woh-
nung führten. Er klopfte an der Tür, die ihre
Visitenkarte trug. Das Glück begünstigte ihn. Lucy
O'Reilly war ausgegangen, er konnte Nadine also
allein sprechen.
Sie saß in ihrem kleinen Wohnzimmer, in einem
von ihm geschenkten Korbstuhl. Das klare Früh-
lingslicht, das hell auf ihr Gesicht fiel, zeigte deutlich,
wie schmal und blaß sie geworden war.
Sie sah bei Georgs Eintreten überrascht auf.
Wieder, wie an jenem ersten Tage in Olhardts
Atelier, frappierte sie die Eleganz seiner Kleidung
und Haltung. Der siegesfrohe Ausdruck seines
jugendschönen Gesichts veränderte ihn vollkommen.
Die müde Hoffnungslosigkeit der letzten Zeit war
gänzlich verschwunden.
„Du hast dein Bild verkauft — gut verkauft!"
rief Nadine lebhaft, statt jeder Begrüßung ihm zu.
Georg zog die Tür hinter sich zu und faßte Na-
dines Hände. „Ja, ich habe die , Salome" ver-
kauft," bestätigte er. „Um einen elenden Preis gab
ich sie weg, ich bereue es fchon bitter!"
„Wieviel bekamst du denn dafür?"
„Ach, ein Lumpengeld — nicht der Rede wert.
Ein paar hundert Franken."
„Nun, für den Anfang ist das doch schon ganz
hübsch," meinte sie etwas unsicher. Wenn der Ver-
kauf ihn nicht beglückte, woher kam denn der plötz-
liche Umschwung in seinem Äußeren, seinem ganzen
Auftreten? „Hast du gute Nachrichten von daheim
bekommen?" forschte sie daher weiter. „Du siehst
aus, als ob dir irgend ein Glück begegnet wäre."