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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 26
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0622
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566- . .
und blieben daran hängen. Greifbar lebendig in
jeder furchtbaren Einzelheit, jeder seltsamen Licht-
wirkung stand es vor seinen geistigen Augen. Aber
noch getraute er sich nicht, an das Werk heranzugehen,
erst mußte es in ihm ausreifen, er selber noch viel
studieren, denn solcher schwierigen Aufgabe war nur
eine Meisterhand gewachsen, um sie künstlerisch er-
haben zu lösen.
„Aber ich erreiche es doch!"
Er sagte das so laut herausfordernd vor sich hin,
daß einige Vorübergehende sich mit spöttischen
Blicken nach ihm umwandten.
Neunte Kapitel.^ —
„Wirklich wundervoll ist es bei Ihnen geworden,
gnädige Gräfin!"
Herr v. Jagow ging von einem Zimmer ins
andere und blieb schließlich wieder in der erweiterten,
ausgebauten Vorhalle stehen, welche die Salons der
Hausherrin von denen des Gatten schied.
Wer den bunten Mosaikfußboden der Halle
waren weiße Bärenfelle gebreitet, an den rot-
gestrichenen Wänden hingen alte nachgedunkelte
Ahnenbilder. Von der Kassettendecke schwebte ein
Lüsterweibchen herab. Eingelegte, kunstvoll ge-
schnitzte Schränke und Truhen standen rechts und
links vom Kamin.
Der Ausstattung und Dekoration der Halle entspra-
chen die übrigen Räume. Völlige Stileinheit zeigten
auch sie nicht — und doch empfand der Beschauer
unbewußt wohltuend, wie fein die Formen und
Farben überall harmonisch abgestimmt und getönt
waren. Das letzte Gepräge gaben die vielen Kunst-
werke, die in allen Räumen herum standen oder
hingen — keine großen Stücke, sondern meist
Studien, Skizzen, schöne Bronzen, Rokokouhren,
altsächsifches und Delfter Potzellan, ein paar
Sevresvasen.
„Sie müssen sich mit Ihren Komplimenten an
meinen Mann wenden, Herr v. Jagow," wies
Anne-Marie ab. „Diese Zimmer sind ganz allein
nach seinen Angaben eingerichtet worden. Er hat
keine Mühe gescheut, um alles mögliche dazu zu-
sammenzusuchen. In Bauernhäusern, auf Auktio-
nen, bei Altertumshändlern und Trödlern ist er
herumgekrochen! Ich mache mir, offen gestanden,
nicht viel aus solchen Sachen."
„Meiner Frau liegt mehr daran, daß wir bei
einer landwirtschaftlichen Ausstellung eine Prämie
für den stärksten Ochsen und den fettesten Hammel
bekommen," warf Georg hin.
Er trat hinter Anne-Maries Stuhl und ordnete
eine Kleinigkeit an ihrer Haarfrisur. Der Brillant-
pfeil, der ihren blonden Haarknoten durchstach,
kam jetzt mehr zur Geltung.
Sie wandte ihr Gesicht mit ruhiger Freundlich-
keit nach ihm nm: „Natürlich liegt mir mehr
daran! Es ist mein Stolz, daß die Lehminer Butter
immer um einen Groschen teurer bezahlt wird wie
andere. Unsere Hammelrücken, Mastkälber und
Fettgänse gehen alle nach Berlin und werden dort
vorzüglich bezahlt. Wäre das nicht der Fall, so
könntest du nicht so viel Geld für deine alten Schränke,
Delfter Töpfe und Kopien aus dem Louvre aus-
geben."
„Das ist übrigens gar keine schlechte Kapital-
anlage," meinte Jagow begütigend. Er sah die
ärgerliche Nöte, die Georgs Gesicht bei Anne-Maries
Worten überzog. „Alte Sachen steigen beständig
im Preise. Was jetzt schon wertvoll ist, wird in
zwanzig Jahren dreimal so hoch bezahlt werden.
Der kleine Erbprinz hat den Vorteil. — Wo steckt
denn das Herrchen? Darf ich ihn nicht bewundern?"
„Ich will ihn gleich holen." Aus Georgs Gesicht
wich bei der Erwähnung seines kleinen Sohnes
sofort jede Verstimmung. „Ist er bei Großmama,
oder im Kinderzimmer, Anne-Marie?"
„Jobst wird nach dem Essen von der Wärterin
hereingebracht werden. Er trinkt jetzt seine Milch.
Bitte, störe ihn dabei lieber nicht," sagte Anne-
Marie. „Unsere anderen Gäste können jeden Augen-
blick eintreffen, da mußt du anwesend sein, um sie
zu empfangen."
„Zu Befehl! Wünschest du, daß ich im Eingang
der Halle stehe?"
Die ironische Bitterkeit von Georgs Antwort
fiel sogar Anne-Marie auf. „Wie komisch du
manchmal bist!" sagte sie ehrlich erstaunt.
Jagow hustete verlegen. Fast bereute er es,
festster als die übrigen geladenen Gäste gekommen
zu^sein, um die kürzlich fertig gewordene Neueinrich-
tung von Sehmin in Muße zu besehen. Er hatte
erst kürzlich den Besitz seines verstorbenen Vaters
an getreten und wollte das alte Gutshaus umbauen
lind verschönern. Daher sein Interesse an den Um-
änderungen in Lehmin.
Aber das Verhältnis seines einstigen Jugend-
gespielen und Korpsbruders Georg v. Stechow zu
seiner Frau fiel ihm, so oft er Lehmin betrat, immer

...n Vas Luch fül* MIe ii
wieder auf die Nerven. Für die Dauer kam ihm
das völlig unhaltbar, die ganze Atmosphäre hier
wie elektrisch geladen vor. Gewitterstimmung
überall, trotzdem Anne-Marie — und das war das
wunderbarste von allem — mit völliger Verständnis-
losigkeit die Gemütsverfassung ihres Mannes, seine
Gereiztheit über seine merkwürdige Stellung ihr
gegenüber gar nicht begriff, vielleicht nicht begreifen
wollte. Jagow bemerkte, so oft er in Lehmin war,
diesen gequälten Ausdruck mühsam verhaltener, zor-
niger Ungeduld bei Georg; aber an Anne-Marie
glitt das ab, ohne sie im geringsten zur beunruhigen.
„Dickfelligkeit — oder Seelengröße? Wie man's
nehmen will!" entschied Jagow innerlich. Er selbst
bewunderte Anne-Maries blonde, stattliche Schön-
heit, aber er konnte es trotzdem begreifen, wie eine
feiner, reizbarer organisierte Natur, wie die Georgs,
unter dem Zusammenleben mit ihr leiden mußte,
wie ihm ihr gebietendes Wesen und selbstbewußtes
Auftreten oft geradezu unerträglich werden mußte.
Dabei erschien ihm sein eigenes Urteil gleich
wieder ungerecht, jedenfalls sehr hart, als er Anne-
Marie beobachtete, die ihrer Schwiegermutter, die
aus ihren im oberen Stock gelegenen Zimmern her-
unterkam, entgegenging, ihr die Hand küßte, einen
bequemen Stuhl heranrollte, ihr ein Kissen in den
Rücken schob — alles Aufmerksamkeiten, die mit der
Selbstverständlichkeit der Gewohnheit dargebracht
und angenommen wurden.
Seit dem Tode ihres Mannes lebte Frau
v. Stechow ganz bei ihren Kindern in Lehmin.
Der alte Stechow starb ein halbes Jahr nach der
Hochzeit seines Sohnes, Anne-Marie schlug ihrer
Schwiegermutter die Übersiedlung vor, und Frau
v. Stechow fügte sich nach einigem Sträuben. Sie
mußte zugeben, daß dies die beste Einrichtung war,
obgleich ihr der Abschied von Rettershof bitter
schwer wurde.
Die alte Dame fühlte sich nach einiger Zeit, um-
geben von ihren gewohnten Sachen, gepflegt von
ihrer getreuen Lydia Winter, auch bald leidlich zu-
frieden. Besonders seit der Geburt des kleinen
Jobst. Daß sie ihren Sohn, ihren kleinen Enkel
stündlich sehen konnte, ersetzte ihr viel. Außerdem
war Anne-Marie wirklich stets in liebevoller Weise
bemüht, ihr die neue Heimat angenehm zu machen.
Im Gutshause vou Rettershof saß jetzt ein
Pächter mit vielen blondköpfigen Kindern, die in
den alten Gängen und Zimmern, dem einst so
sorgsam gepflegten Garten herumtobten. Frau
v. Stechow und Georg vermieden es daher lieber,
bei ihren Ausfahrten Rettershof zu berühren.
Anne-Marie fuhr manchmal allein hin, um nach
dem Rechten zu sehen. Die hohe Summe, die sie
durch die Mitverpachtung des geräumigen Hauses,
des großen Gartens und der guten Jagd erzielte,
diente dazu, langsam die Schulden, die auf dem
Gut standen, abzutragen, so daß Rettershof für den
kleinen Stammhalter Jobst noch einmal ein einträg-
licher Besitz werden würde. Anne-Marie hatte also
gewiß sehr recht mit ihrer praktischen Entscheidung.
Und trotzdem konnte Herr v. Jagow ein Gefühl
des Mitleids nicht unterdrücken, so oft er Frau
v. Stechow beobachtete. Sie war sehr still geworden
seit dem Tode ihres Mannes, der die Aufgabe ihres
eigenen Heims nach sich zog: denn selbst bei einem
einzigen Sohn, einer geliebten Schwiegertochter als
Gast leben zu müssen, ist hart.
Unwillkürlich mußten sie auch heute, bei diesem
Einweihungsfest des neu hergerichteten Hauses,
wehmütige Gefühle beschleichen. Jeder der Ein-
tretenden begrüßte zuerst Anne-Marie, an sie richtete
jeder seine anerkennenden Worte, um sich dann erst
später und flüchtiger an die alte Dame zu wenden.
Die übrigen Gäste trafen jetzt nacheinander ein
— alles Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft. Breder-
lows, Rochlitze, Bülows, Jtzenplitze, die, ebenso wie
die Stechows und Lehmins, seit Jahrhunderten
auf ihrer Scholle saßen. Das gab ihrem Wesen
und Benehmen etwas Festgewurzeltes, Sicheres.
Die Männer gingen alle breitspurig, mit festen
Tritten, als wenn sie auch im Salon den tiefen Sand
ihrer Heimat durchschreiten müßten. Ihre Stimmen
klangen laut, kräftig, ans Befehlen gewöhnt. Die
Frauen waren meist stattliche, blonde Erscheinungen,
ebenfalls märkischen Adelsgeschlechtern entstammend.
Anne-Marie kannte alle von klein an, mit den meisten
Damen duzte sie sich. Tie Begrüßung war daher
sehr herzlich.
Viel Abwechslung gab es bei der Tischordnung
in diesem stets wieder zusammentreffenden Kreise
nicht. Georg führte, wie schon sehr häufig, Frau
v. Jtzenplitz, an seiner anderen Seite saß Frau
v. Rochlitz. Die eine erzählte ihm gleich den neuesten
Streich ihrer drei wilden Jungen, die andere fragte
nach dem Gesamtertrag der vorjährigen Ernte.
„Solche Fragen kann Ihnen nur Anne-Marie
beantworten, gnädige Frau," entgegnete Georg.
„Mir können Sie Komplimente über die Tisch-

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dekoration machen, wenn die das Glück haben
sollte, Ihnen zu gefallen."
„Entzückend!" bewunderte Frau v. Rochlitz so-
fort. „So originell in den Farben — diese rosa
Azaleen und roten Blutbuchenzweige! Da merkt man
eben den Künstler. Wenn unser Gärtner die Tafel
schmückt, sieht sie allemal wie ein Heringssalat aus."
„Na, wenn nur das, was drauf steht, gut schmeckt!"
rief Herr v. Jtzenplitz lachend herüber. „Blumen
allein tun's nicht. Das ist nichts für meines Vaters
ältesten Sohn. Aber zum Glück gibt's hier in
Lehmin ja nicht nur Weinblätter auf dem Tisch,
sondern auch einen anständigen Tropfen im Glase."
Alle lachten. Die Stimmung belebte sich.
Die Suppe Pflegt ja meist mit hungrigem
Schweigen heruntergelöffelt zu werden. Aber bei
dem Fisch, als der dazu gereichte Rheinwein golden
in den hohen, grünen Gläsern funkelte, gingen die
Stimmen bereits laut durcheinander. Das Haupt-
thema blieb die Landwirtschaft, die Politik, ein
paar Jagdgeschichten, die der alte Landrat v. Breder-
low so lang auszuspinnen Pflegte, wie den längsten
Tag vor Johanni.
Georg allein war stumm. Seine Blicke musterten
die freundlichen, lachenden Gesichter, die rings um
die lange glänzend erleuchtete, blumengeschmückte
Tafel saßen. „Wenn man die ganze Gesellschaft
unter eine hydraulische Presse drückte — nicht ein
Tropfen Geist käme heraus!" dachte er gelangweilt.
Heimlich sah er nach der Uhr. Erst "sechs! Seit
einer Stunde faß man schon bei Tisch. Vor zehn
Uhr, günstigsten Falles, würde niemand fortfahren,
denn sonst „lohnte" die Fahrt sich nicht! Nach dem
Essen wurde sicher erst noch lange geraucht, eine
Partie gespielt, dazwischen erschien noch Tee,
Punsch, belegte Brötchen, Früchte und Kuchen.
Während der Jagdzeit, im Herbst und Winter,
mußte er ja fast alle Tage solch ein Fest ertragen!
Er haßte diese hier so beliebten Jagdfeste förmlich.
Mit dem Gewehr über der Schulter bummelte er
ganz gern allein in dem sonnendurchleuchteten, ein-
samen Kiefernwalds. Dabei genoß er die Natur.
Das Gewehr nahm er eigentlich nur mit, um einen
Vorwand zu haben zu seinen Streifereien. Aber
Anne-Marie hielt es für ganz unmöglich, daß ein
Graf Lehmin sich vom Verkehr mit den Nachbarn,
den großenJagdenzurückzöge; darum nahm er pflicht-
schuldigst an den ihm verhaßten Treib- und Hetzjagden
nebst nachfolgendem Festmahl teil. Oft blieben sie
in solchen Zeiten kaum euren Abend allein zu Haufe.
„Haben Sie schon gehört, Lehmin, daß in
Trebbin der neue Kommandeur Offiziersrennen
reiten lassen will?" schrie Herr v. Rochlitz vom
unteren Tischende herauf.
„Will er das? Meinetwegen!" antwortete
Georg zerstreut.
„Na, das ist doch eine famose Idee!" ereiferte
sich Jagow. „Die Herren der Umgegend sollen
auch daran teilnehmen."
„Natürlich mußt du die Rennen mitreiten,
Georg!" meinte Anne-Marie. „Schade, daß wir
Damen das nicht auch tuu können. Wir wollen
aber gleich morgen früh die Pferde eingaloppieren
— hörst du?"
„Ja, ich höre."
„Der Tag müßte zweimal so lang sein, wie er
ist, wenn man alles bewältigen wollte." Anne-
Maries Ton klang so wichtig, daß Georgs Mund-
winkel spöttisch zuckten. Sie bemerkte das aber in
ihrem Eifer gar nicht. „Zwei Güter muß ich be-
wirtschaften, Pferde einreiten, den Haushalt führen,
mein Kind erziehen. Ich freue mich darauf, daß
ich nun bald einen Pony für Jobst kaufen kann.
Sowie er drei Jahre alt ist, stecke ich ihn in Höschen
— und dann hinauf aufs Pferd."
„Viel zu früh!" widersprach Georg. „Solch
ein zartes Kind darf noch nicht reiten."
„Zuerst ist es natürlich Spielerei. Aber er
gewöhnt sich dadurch an die Pferde, vor denen er
bis jetzt Angst hat. Das muß auf jeden Fall heraus-
gebracht werden. Er soll ein forscher Junge werden,
unser Jobst."
Georg zuckte die Achseln. „Du denkst doch nicht
im Ernst daran, das Kind schon so bald auf ein Pferd
zu setzen?"
Frau v. Stechow wurde ganz blaß vor Angst
um ihr Enkelsöhnchen. „Ach, du wirst doch nicht!"
jammerte sie.
Anne-Marie lachte ein bißchen spöttisch. „Was ihr
wohl für ein Muttersöhnchen aus meinem Jungen
machen würdet, wenn ich nicht wäre!" sagte sie.
Der Diener öffnete in diesem Augenblick die
Tür. Die weißgekleidete Gestalt einer Kinderfrau
erschien in der Öffnung. Dann ließ der Kleine,
den sie an der Hand hielt, sie los und lief sofort auf
seinen Vater zu.
Es war ein ideal schönes, feingliedriges Kind,
dieser kleine Erbe von Lehmin mit dem goldig
blonden Haar seiner Mutter, das in weichen Locken
 
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