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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 43.1908

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Heft 6
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https://doi.org/10.11588/diglit.60739#0158
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lieft b -
wirksamen Spruch, der den Schatz bannt, daß et
still halten muß der Hand, die nach ihm greift.
Ihr Gefährte fuhr sich während dieser Rede
mehrmals über Stirn und Augen. „Es ist ja sichet»
Fräulein, daß ich einen im Kopfe hatte. Wir hatten
Geburtstag gefeiert bei meinem Vetter, dem Forst-
wärter da drühen. Und auf dem Heimweg bin ich
im Gras eingeschlafen, und als ich aufwachte, war
mir der Kopf noch so dösig, daß ich nicht recht wußte,
wo ich war. Aber so duselig bin ich doch nicht mehr,
daß ich diese ganze Begebenheit träumen kann."
Zweifelnd betrachtete er das Mädchen. War die
aus einer Anstalt entsprungen? Oder machte sie
sich lustig über ihn?
Aber da waren ja wirklich die Figuren des
Zauberkreises, tatsächlich hielt ihre Hand fest um-
klammert ein Fläschchen!"
„Sagen Sie mal, Fräulein, glauben Sie denn
den Unsinn? Glauben Sie an Schätze und Zauber-
tränke und Beschwörungen?"
„Da is doch wohl kein Zweifel möglich," sagte
Mariechen ernsthaft. „Onkel Kulicke hat ein dickes
Buch. Da steht alles beschrieben. Und Frau
Hummel — das ist unsere Nachbarin — die weiß
auch davon."
Das Licht des Laternchens fiel hell in die Augen
des Mädchens, die Kinderaugen mit dem heilig un-
wissenden Blick. Nein, diese Augen logen nicht.
Und wie die einer Irrsinnigen blickten sie auch nicht.
„Also so 'nen Hang nach Reichtum haben Sie,
Fräulein, daß Sie Ihr Leben Nachts im Grüne-
wald riskieren?"
„Ja, für mich wollt' ich das Geld doch nich!"
Sie erzählte von Tante Lene, bei der sie seit
dem Tode ihrer Mutter wohnte, von deren acht
Kindern, vom kranken Heini, vom Onkel Kulicke, der
sie hierhergebracht hatte und in der Nähe auf sie
warten wollte. Er würde ihr nie vergeben. Ach,
daß sie auch so furchtsam war! Besonders vor dem
Entsetzlichen hatte sie sich gefürchtet, das sie erblicken
mußte, wenn sie den Saft trank — etwas, das noch
kein Lebendiger geschaut hatte.
„Der Saft. Ja, richtig. Zeigen Sie den doch
mal her!"
Er nahm ihr das Fläschchen aus der widerstreben-
den Hand.
Mariechen schrie laut auf. Was sollte Onkel
Kulicke sagen, wenn der Fremde den kostbaren Saft
vergeudete?
Der ließ sich nicht beirren. Er löste den Pfropfen,
roch an der Flüssigkeit, netzte die Fingerspitze, kostete
äußerst vorsichtig, und dann ließ er den Arm sinken
in einem Grauen, als hätte er dem Tod selbst ins
Gesicht geschaut.
„Sehen Sie schon was?" fragte das Mariechen
angstvoll.
„Ja. Mir scheint, ich sehe was." Er schloß
sorgfältig die Flasche wieder und steckte sie in seine
Rocktasche. „Also Ihr Onkel Kulicke hat Ihnen dies
Trünkchen gegeben nnd Ihnen befohlen, es an diesem
Ort auszutrinken? Verlockend war die Aufgabe ja
nicht für ein junges Mädchen. Ich wundere mich,
daß Sie darauf eingegangen sind."
Mariechen senkte den Kopf. „Ich hatte doch in
der Lotterie jewonnen un Kulickes nich. Un das
tat mir so leid, un da —"
„In der Lotterie hatten Sie gewonnen? Ach
so. Viel?"
„Zehntausend Mark."
„Un die hebt Ihnen Onkel Kulicke auf?"
„Er wollte nich. Ich sollt' sie im Bettstroh ver-
stecken bis Montag."
„Und heut den Saft trinken? Sieh mal an!
Der Mann versteht sich auf das Schatzgraben."
Er war ein Heller Junge, und der Schrecken, der
ihm beim flüchtigen Untersuchen des Trankes durch
die Glieder gefahren war, hatte auch den letzten
Alkoholdunst aus seinem Hirn vertrieben. Der
Lotteriegewinn der Kleinen brachte plötzlich Sinn
in den Unsinn. Nicht auf ein Possenspiel wahn-
witzigen Aberglaubens, auf den düsteren Ernst eines
geplanten Verbrechens hatte der Zufall ihn stoßen
lassen. Oder war es mehr als Zufall, was ihn zu
dieser Stunde aus dem Kreis übermütiger Freunde
an diesen Ort führte?
Er faßte die Hand des Mädchens, die in seiner
zuckte, und das Gesicht spähend auf das undurch-
dringliche Dunkel zwischen den Stämmen gerichtet,
und mit der freien Hand schlagfertig seinen mit
einem Bleiknopf gekrönten Stock fassend, sprach er:
„Mein liebes Fräulein, Sie sind einer großen Ge-
fahr entgangen. Wenn Sie den Trank aus diesem
Fläschchen getrunken hätten, würden Sie allerdings
gesehen haben, was noch kein Lebendiger gesehen
hat. Und weiter erzählt hätten Sie's niemand,
denn Sie wären auf dem Fleck tot umgefallen."
„Nein — nein! Das kann nich wahr sein."
„Verlassen Sie sich darauf. Ich bin von Haus

—Va5 Luch fül- Mle ii
aus ja nur Elektriker. Aber so viel voü Chemie
verfielst ich schott, um zu merken, daß dem Himbeer-
saft da so viel Cyankali beigemettgt ist, daß ein Pferd
genug dran hätte."
„Gift?!" Mariechen sprang auf. Aber sie mußte
sich gleich wieder setzen. Eine Schwäche kam üher
sie. „Sterben! Sterben! Aber warum denn?
Wem hab' ich denn was zuleid' jetan? Und solch
ein dummes Ding wie ich! Wem kann ich denn im
Weg jewesen sein? Oder — oder müßte ich erst
sterben, damit der Schatz für Onkel Kulicke aus der
Erde heraufkommt?"
„Das müßten Sie ganz notwendig, liebes Fräu-
lein, denn der Schatz, auf den Ihr sauberer Onkel
spannt, und den er vielleicht in diesem Augenblick
schon hebt, ist ganz einfach Ihr Lotteriegewinn im
Bettstroh. Zum Schatzgraben in den Grünewald
hat er Sie bloß geschickt, damit Sie seine Teufels-
limonade auch richtig schlucken und hübsch weit weg
von ihm das Zeitliche segnen, damit dann die Zei-
tungen von 'nem Unglücksfall oder von geistiger
Verwirrung schreiben könnten, und die Polizei sich
nicht über das Verschwinden des Geldes aufzuregen
brauchte."
Mariechen schluchzte fassungslos. „Sagen Sie
das nich! Sagen Sie so was nich. Kulickes sind
ja die einzigen, die ich auf der Welt hab', seit die
Mutter tot ist. Nie hab' ich ihnen was in den Weg
jelegt. Ich wollt' sojar mit ihnen teilen."
„Der Mann ist mehr fürs Ganze, wie Sie fehen."
„Ach, so hab' ich denn keinen, keinen Menschen
auf der Welt!"
„Doch, Fräulein. Einen Freund haben Sie.
Der sitzt neben Ihnen. Was ein Bruder für feine
Schwester tun kann, das will ich für Sie tun. Sie
kennen mich nicht und für 'nen Heiligen will ich mich
ja nicht ausschreien. Aber Sie hätten einem schlim-
meren Kunden zu Mitternacht hier im Walde be-
gegnen können. Bei Siemens L Halske arbeit' ich
als Monteur. Ich hab' schon viel Geld verdient,
freilich noch mehr verjuxt. Aber ein ehrlicher Kerl
bin ich immer gewesen. Karl Mithoff heiß' ich.
Na, nu trocknen Sie mal Ihre Tränen und sehen
Sie mich an, ob Sie nicht ein bißchen Zutrauen zu
mir fassen können!"
„Ach," sagte Mariechen, „wie kann ich noch einem
Menschen auf der Welt vertrauen, wenn Onkel
Kulicke und Tante Lene —"
Aber sie hob doch die Augen und blickte auf den
jungen Menschen, der den Strahl seiner Taschen-
laterne jetzt voll auf sein eigenes Gesicht spielen
ließ. Und rührend war's zu sehen, wie die zum
Weinen verzogenen Züge sich glätteten, der Tränen-
strom stockte, Grauen, Ängst, Entsetzen in dem jungen
Gesicht einem schüchternen Lächeln Platz machten
„Das is sonderbar, Herr Mithoff."
„Was?"
„Sie sind ja noch ein janz junger Herr. Und
ich — ich hab' immer 'ne Scheu jehabt vor jungen
Herrn. Aber vor Ihnen hab' ich keine. Als Sie
zu mir sprachen vorhin, jleich beim ersten Ton Ihrer
Stimme hab' ich mich nich mehr jefürchtet. Is
das nich merkwürdig?"
„Das freut mich."
„Nich wahr, Sie machen sich nich lustig über mich?"
bat sie. „Ich bin ja nich sehr klug, wissen Sie.
Die Mutter hat immer jesagt: ,Dich muß schon der
liebe Gott behüten, denn du kannst's nich selber/"
„Das müßte ein ganz schlechter Kerl sein, Fräu-
lein, der Sie zum besten hätte," versicherte der
Monteur warm. „Doch nun müssen wir vorwärts.
Wir werden noch ein tüchtiges Ende bis zur Station
Schlachtensee zu marschieren haben."
Sie stand auf. Doch zögerte sie. Das verhaltene
Schluchzen stieg ihr wieder die Kehle herauf. „Wo-
hin — wohin soll ich denn jetzt jehen?"
„Keinenfalls zu Ihren sauberen Wirtsleuten
zurück. Da wären Sie Ihres Lebens nicht sicher.
Lassen Sie mich nachdenken. Ja, das tut's. Ich
bringe Sie zu meiner Tante in der Potsdamerstraße.
Die hat da 'ne Plätterei und ist 'ne hochachtbare
Frau. Wenn die von der Sache hört, nimmt sie
Sie schon auf. Unterdessen werd' ich mit dem Saft
mal ein bißchen zur Staatsanwaltschaft wandern
und zur Obervormundschaft. Auch der Polizei-
kommissär muß einen Wink haben."
„Wird Onk — wird der Kulicke dann bestraft?"
„Und ob! So feste zwar noch lange nich, wie
ich's ihm gönne. Von Rechts wegen sollt' man
den Kerl mit Knütteln totschlagen. — Aber Fräulein,
um den werden Sie doch nicht weinen?"
„Die armen Kinder!" sagte Mariechen. „Acht
Kinder, Herr Mithoff! Un der kleine Heini is lahm.
Dem wollt' ich 'nen Wagen kaufen. Und Tante
Lene, die endlich mal ausruhen sollte von ihrer vielen
Arbeit! — Könnt' es denn nich möglich sein, daß
Onkel Kulicke jar nichts von jewußt hat, daß der
Trank jiftig is?"

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„Nu hören Sie aber auf! So eine, wie Sie,
läuft ja wohl auf der ganzen Welt nur einmal herum!
Die Leute wollen Ihnen mit kaltem Blut ans Leben
aus reiner, gemeiner Habgierigkeit, und Sie haben
sich noch so um sie! Um die Sorte ist jede Träne
zu schade, Fräulein. Lieber erzählen Sie mir jetzt
noch mal ganz genau den Hergang von der Schatz-
gräberei, damit ich Bescheid weiß. Es ist nämlich
noch sehr zweifelhaft, ob Sie Ihr Geld je wieder-
kriegen. Aus dem Bettstroh hat es die Bande sicher
schon ausgebuddelt. Und wenn sie's verschleppt
haben, dann können Sie rind die Polizei noch das
Nachsehen haben."
„Im Bettstroh ist's nich mehr," sagte Mariechen
leise.
„Ist's nicht mehr?"
„Ich hab's herausjenommen. Weil keiner es
mir aufbewähren wollte, hab' ich es nachher hinters
Bild jesteckt. Das wissen Kulickes nich."
Karl Mithoff blieb stehen und sah im dämmern-
den Tagesschimmer das Mädchen an seiner Seite
an, das feine Profil, das runde Kindergesicht, dem
die Erlebnisse der Nacht einen rührenden Ausdruck
von Wehmut und Würde gegeben hatten, das braune
Haar, das sich schlicht und weich um die Stirn legte,
die Augen, die mit der lieblichen Unerfahrenheit
der ganz Unmündigen in die Welt blickten.
„Ich glaube wirklich, Fräulein, daß unser Herr-
gott Sie mit mehr Liehe ansieht als andere Men-
schen." In Gedanken fügte er hinzu: „Und ich be-
greif' auch, warum er das tut."

Bei Kulickes herrschte große Aufregung. Auf
den Zehen war der Mann in der Morgendämmerung
ins Haus geschlichen. Lene, die hinter dem Vor-
hang lauschte, öffnete ihm die Tür, ohne daß er
anklopfte. Auf wollenen Socken kam die Wahr-
sagerin die Treppe herab. Sie wollte sich nicht bei
der Teilung Übervorteilen lassen.
Sechs vor Aufregung und Gier bebende Hände
durchstöberten lautlos den Strohsack der kleinen
Weißzeugnäherin, suchten und wühlten weiter in
den Federn des Kissens, in jedem Kasten, jeder Lade
des schmalen Verschlags — immer hastiger, immer
rücksichtsloser. Als der Schatz verschwunden blieb,
entlud sich die Enttäuschung der drei in heftigen
Vorwürfen des einen gegen den anderen.
„Ich hab' es immer jesagt, Kulicke," zischte die
Hummel, „Ordnung, die fehlt Ihnen. Un Ordnung,
das is die Hauptsache. Sie tun aber immer das
zweite, un das erste versessen Sie. Janz notwendig
hätten Sie sich überzeugen müssen, ob das Mächen
ihr Villes Jeld nich mit in den Wald jenommen hat,
un in dem Fall hätten Sie's mit retourbringen
müssen."
Kulicke aber brauste auf. „Retourbringen!
überzeugen! Das können Sie sich hier in der Stube
wohl austüfteln! Aber da draußen! Man is doch
'n Mensch. Ich sag' Ihnen, ich war mehr tot als
lebendig."
Lene schlug ein höhnisches Gelächter auf. „Wat
sagen Sie, Hummeln? Nich mal abjewartet hat er!
Das Mächen stehen lassen un wegjerannt! — Un
det will 'n Mann sein!"
Der Wahrsagerin plattes Gesicht blieb unbewegt.
„Na ja, denn wundern Sie sich bloß nich, wenn det
Mächen im nächsten Augenblick quietschfidel zur Tür
hereinkommt. Mir kann's ja ejal sein, weil ich dem
Mariechen alles Jute jönne. Sie, Herr Kulicke, aber
werden Zeit Ihres Lebens nich auf 'nen jrünen
Zweig kommen, indem Ihnen die einem Manne
nötige Forschheit und Besinnlichkeit jänzlich fehlen,
weshalb denn in Ihrer Karte auch immer neben
dem ausstehenden Jlück der Reinfall zu liejen kommt,
un Sie bei all Ihre Unternehmungen Rauch schnap-
pen. Mich berührt det natierlich nich — ick habe ja
nichts damit zu schaffen."
„Ick wollt' auch, ick Hütt' nie was mit Ihnen zu
schaffen jehabt, Sie Jiftmischerin!" schrie Kulicke.
„Warum haben Sie mir denn immer in den Ohren
jelegen mit dem Schatz von det Mächen?! — Möcht'
nur das Mariechen heil un jesund da zur Tür 'rein-
kommen! Wenn ick von det schöne Jeld nischt je-
nießen soll als den Verdruß uu die Angst, so —"
Er verstummte jäh. Ein harter Finger pochte
an die Küchentür. Äls Karline, die Zehnjährige,
den Riegel zurückschob, stieß sie einen Schrei aus.
„Vatter — Mutter! Die Polizei!"
Ein Kommissär und mehrere Schutzleute traten
ein und verhafteten das Ehepaar Kulicke und die
Witwe Hummel als dringend verdächtig des Mord-
anfchlags auf ihre Hausgenosfin, die unverehelichte
Marie Werner. Und was die drei Schuldigen mit
verbissener Wut erfüllte — sie nahmen auch das
Vermögen mit, das ihre gierigen Finger in allen
Winkeln umsonst gesucht hatten. Hinter dem Bild
von Manschens Mutter zogen sie die Scheine her-
vor. Fast schien es dem Ehepaar, als habe ihre
 
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