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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 43.1908

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Heft 13
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https://doi.org/10.11588/diglit.60739#0317
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280
Morgen ihre Stube und ging in das Wohnzimmer
hinüber.
Die Mutter kam ihr aufgeregt entgegen. „Eben
wollte ich dich rufen. Weißt du, was geschehen ist?
Die Weiherburg —"
„Ich weiß," sagte Inge. „Ich hab' den Brand
gesehen."
„Gesehen hast du ihn und hast mich nicht geweckt?"
Es klang empfindlich, wie wenn jemand ihr bös-
willig eine Freude vorenthalten hätte.
Inge zuckte die Schultern. „Warum sollte ich
dich wecken, wenn du gut schliefst. Du hast's ja
heute noch früh genug erfahren."
Der Posträtin Augen funkelten. „Ja, ich hab's
erfahren — kein Stein soll da draußen mehr auf
dem anderen geblieben sein. Ich hab's ja immer
gesagt: alles rächt sich. Die Strafe bleibt für kein
Unrecht aus."
„Sie bleibt niemals aus!" sprach Inge ihr nach.
Dann wendete sie sich ab und schwieg zu allen Aus-
einandersetzungen der heute besonders gesprächigen
Mutter.
Nach Tische kleidete sie sich zum Ausgehen an.
Sie sah wieder sehr schön aus in dem langen seiden-
gefütterten Mantel und dem koketten Schleierhut.
„Wo willst du denn hin?" fragte die Mutter.
„Nach Schönkirchen hinaus."
„Nach Schönkirchen?! Inge — du willst dir's
ansehen?"
„Ja, ich will's mir ansehen."
Die Posträtin war noch immer voll Heller Auf-
regung und sah dabei die Tochter an, als imponiere
ihr deren Absicht, sich satt zu sehen an dem Unglück
des Mannes, der sie verschmäht hatte.
„Das ist recht," rief sie. „Fahr nur hinaus und
danke Gott dabei, daß alles für dich so geworden ist,
wie's ist. Denn ich fühl's, der Brand, das ist für
den da draußen der Anfang vom Ende. Fahr du
nur, aber nimm den schönen Mantel in acht. Immer
wird Alice mit den Tausendmarkscheinen auch nicht
so freigebig umspringen."
„Sie wird's auch nicht nötig haben. — Adieu,
Mutter." —
In Schönkirchen draußen schritt Inge von der
Bahn aus den nämlichen Weg dahin, den sie einst-
mals Seite an Seite, aller Hoffnungen voll, mit
Günter v. Jellinghaus geschritten war. Viele
Menschen belebten den Weg; sie schien nicht die
einzige zu sein, der es gelüstet hatte, die Brandstätte
sich anzusehen.
Nun tat sich vor ihr die stattliche Allee der alten
Rüstern auf. Es war nicht wie zu Sommerszeiten
ein grüner Baldachin, zu dem die knorrigen Aste sich
ineinander schlangen, kahl reckten sich die Zweige
wie dürre Greisenarme und unter Inges Tritten
ächzte leise der Boden, auf dem der erste Winter-
frost die Nässe der letzten Tage zu holperigen Run-
zeln zusammengezogen hatte. Ihre Blicke gingen
starr geradeaus, dorthin, wo ehedem über den
Wipfeln empor der Turm der Weiherburg gegrüßt
hatte. Nichts grüßte mehr, nichts winkte dem Blick
entgegen, und unter ihren Füßen ward der Boden
weicher, je näher sie dem Ende der Allee kam.
Schwärzliche Rinnsale rieselten ihr entgegen wie
dunkle Tränenbäche, die sich aus der Wüstenei des
Unglücks losgelöst.
Schutt und Asche — kein Stein, der fest mehr auf
dem anderen haftete. Wie sie es herbeigewünscht,
so sah nun Inge Sondegg vor sich, was einst die
Weiherburg gewesen.
Zwischen den letzten Rüstern war sie stehen ge-
blieben. Zu schwarzen Stumpen verkohlt starrten
sie über ihrem Haupt, und über den rauchenden
Trümmern dort drüben breitete sich ein ekler, zäher
Brei von Schlamm und Ruß. In schweigender
Emsigkeit rissen geschwärzte Männer mit langen
Haken die scywelenden Trümmer auseinander, und
zwischen den Emsigen stand reglos eine hohe Ge-
stalt.
Es hatte ihn tief getroffen! Jeder Zug des
ernsten Gesichtes war tiefste Müdigkeit. Verlorenen
Blickes schaute Günter v. Jellinghaus auf sein zer-
störtes Heim.
So sah ihn Inge und wußte nicht, was sein An-
blick ihr gab: Des Hasses Freude, oder wieder die
Todesmattigkeit der verwichenen Nacht, als sie das
Fenster zugedrückt und mit ihrem leeren Herzen sich
über das Lager geworfen hatte.
Sie wollte sich umwenden und, ehe er sie erblickt,
still wieder von dannen gehen.
Doch schon hatte Jellinghaus sie gesehen. In
all dem Ruß und Schmutz hatte ein weißes Wehen
seinen Blick gefangen, Inges langer Schleier, den
wie ein lichtes Segel der Windhauch blähte. Er
empfand das Helle, bevor es ihm zum Bewußt-
sein kam, was es sei, und ihm kam ein Gefühl, als
wolle mit lichter Hand die Hoffnung in das Dunkel
winken, das er vor sich sah. Ein tiefer Atemzug

i Va8 Luch für- Mle — - n
hob seine Brust, seine Augen schärften sich, und er
erkannte Inge.
Die Hoffnung und Inge Sondegg — was hatten
beide miteinander zu schaffen? Und was wollte sie
hier? Wohlseile Rache sich holen, oder — ihm zu
verstehen geben: Du hast mich zu medrig eingeschätzt,
ich bin nicht klein und möchte dir das zeigen in deines
Unglücks Stunde?
Seine ernsten Augen trafen die ihren, langsam
hob sich seine Hand und stumm grüßend zog er vor
Inge tief den Hut.
Da schlug wie eine Flut über ihr die Scham zu-
sammen, unter der sie ehedem gemeint hatte, nie
wieder eines Menschen Blick ertragen zu können.
Dort stand der Mann, der sie geküßt, und der sie
verschmähte, als der Sinnenrausch verflogen! Und
ihre Scham ward wieder zum Haß, ward wilde,
lachende Freude, mit der sie dem anderen in die
traurigen Augen schaute und seinen Gruß ver-
schmähend sich von ihm abwandte.
Klein war sie also, noch kleiner, als er geglaubt!
Nicht von nöten waren die Stunden gewesen, in
denen er sich immer wieder gefragt, ob er auch
wirklich hätte handeln dürfen, wie er es getan. Sie
selber schlug das letzte tot, was sich vielleicht noch
zuweilen wie Zweifel in ihm geregt.
Er schaute ihr nach, deren Schleierhüllen wie
triumphierend sie umflatterten. Mochte Inge Son-
degg triumphieren, was tat es ihm!
Sie aber nahm die wilde Freude mit sich hinweg,
und diese Freude blieb in ihr und schuf ein seltsam
heißes Wehen, das wie eine drängende Ungeduld
ihre Tage füllte. Wettmachen, was ihr der eine
angetan! Den anderen finden, der ihrer Niederlage
Kosten zahlte! Den anderen suchen! —
Man sah Inge Sondegg überall, wo immer
Schönheit und der Reiz einer verführerischen Toi-
lette sich zur Geltung bringen konnten. Man sah
sie auch, als ein paar scharfe Frostnächte das Wasser
des Flusses zu Eis erstarrt hatten. Auf der spiegel-
glatten Bahn glitt sie dahin in einem knappanschlie-
ßenden Kostüm aus weißem Tuch und einer langen
schwarzen Straußenfederboa, die wie eine Riesen-
schlange in hüpfenden Bewegungen an ihr auf und
nieder sprang, oder ringelnd den geschmeidigen Kör-
per umschmiegte. Und ihr zur Seite waren stets
die schneidigsten Vertreter der Hallberger Herren-
welt. Lachen und Scherzen flog hin und her, man
war sehr beflissen um die blonde, schöne Inge Son-
degg, die mit ihren Pariser Toiletten sich so ein
gewisses undefinierbares Etwas mitgebracht hatte,
das ihr huldigende Bewunderung eintrug, wie sie
keinem der galanten Herren einem anderen der Hall-
berger jungen Mädchen gegenüber in den Sinn ge-
kommen wäre. Nicht daß man sich Freiheiten heraus-
genommen hätte gegen Inge Sondegg, denn das
hätte sich keiner erdreisten dürfen, aber es kam ganz
von selber, daß ein etwas leichterer Ton sich ein-
schlich. Sie nahm eben eine Sonderstellung ein,
die schöne Inge, das durchgesickerte Geheimnis der
Verlobung jener Rosennacht wob um sie einen pi-
kanten Reiz, der sie ganz ungeheuer interessant
machte, bei weitem interessanter, als irgend einer
der so galant beflissenen Herren für seine künftige
Frau es sich erwünscht hätte.
Und Inge wußte das. Sie wußte, daß unter
allen, die ihr huldigten, auch nicht einer war, dem
selbst nur flüchtig einmal der Gedanke gekommen
wäre, sie könnte es sein, mit der er den Gang vor
den Altar machen möchte. Und immer fieberischer
wurde das Drängen in ihr, den einen zu finden, zu
suchen, der sie freimachte von diesem schmachvollen
Suchenmüssen, der ihr den Platz gab, auf dem sie
nicht länger eine Ware war, die sich anbot, jetzt noch
lockend, noch zum Besitze reizend, wie bald aber, wie
bald als verjährt beiseite getan, dem großen Haufen
zugeworfen, der keinen Absatz gefunden.
Und mit diesem Wissen lächelte sie einen jeden
an, der sich ihr näherte, lächelte, um nicht vielleicht
mit einem abweisenden Gesicht neben den müßigen
Gaffern auch einen ernsthaften Bewerber zu ver-
scheuchen.
Lächelnd hob sie auch die dunklen Wimpern, als
jetzt, den Ring durchbrechend, der sie umgab, Frank
Ortloff an ihre Seite trat.
Er hatte das lange Ende ihrer Boa erhascht, zog
es sich an die Lippen, schlang es sich dann um den
Arm und sagte, mit seinen kecken Augen Inge an-
blitzend: „Welche Wonne, so durch gemeinsame
Bande mit Ihnen verbunden zu sein!"
Sie wurde rot, seine Worte hatten sie getroffen
wie eine Beleidigung, aber sie lachte dabei und mit
einer blitzschnellen Bewegung streifte sie die Boa
von sich.
„Nun, unlösliche Bande sind das nicht," sagte
sie und glitt davon.
Ortloff behielt die Boa in seinen Händen. Die
anderen lachten. Da fuhr er Inge nach, hatte mit

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ein paar raschen Zügen sie eingehost und warf ihr
von rückwärts die Boa um die Schultern.
„Nehmen Sie Ihre schwarze Schwester lieber
zurück! Ich bin kein Schlangenbändiger."
Dann fuhr er, weite Bogen auf der blanken
Fläche ziehend, wieder davon.
Inge war allein — nur ein paar Schritte von
den anderen entfernt, die lächelnd nach ihr hinsahen,
aber doch allein. Da kam es plötzlich über sie, daß
vor ihr die lange Windung des Flusses mit seiner
blitzenden Eisfläche ihr dünkte wie ein trügerisch
schimmernder Weg, auf dem sie weder Ziel noch
Ende sah. So glitt sie ziellos den langen Weg da-
hin, hinter ihr blieb die Musik, die schwatzende Menge,
keiner folgte ihr nach. Allein! Es war, als ob vom
Uferrand die alten Weidenstümpfe es ihr zunickten.
Immer schmaler wurde der Fluß, ein paarmal war
es, als ob unter ihr die Eisdecke leise schwankte. Hier,
wo das Wasser tiefer, die Strömung stärker war,
hatte der Frost so tief nicht dringen können, wie an
der seichten Bucht. Doch sie fuhr immer weiter.
Ganz gedankenabwesend dachte sie einmal: „Dort
drüben wohnt Onkel Kasimir." Und dabei lächelte
sie. Anders, als sie ihren Verehrern zulächelte —
kindlich hei er. Und doch hatte sie dort drüben einen
Verehrer gefunden. Mit großen blauen Augen
hatte der ganz verzückt sie angestarrt und sich dann
ihr auf den Schoß geschwungen. „Ulli dich lieb
haben!" hatte er dabei gesagt.
Den Fluß herauf kamen die Nebel gekrochen,
die Tageshelle begann sich in fahles Zwielicht zu
wandeln. Immer gespenstischer nickten die Ufer-
weiden. Dort war eine, die trug fast ein Gesicht
und zwei verkrüppelte Arme streckten sich vor, als
wollten sie an sich ziehen, wer ihr zu nahe kam.
Fast zum Fürchten war's. Und unter der Weide
gähnte es schwarz wie ein Grab. Eine offene Stelle
war dort, unsicherer Grund unter ihren Füßen.
Schneller glitt sie weiter, und ein heimliches
Grausen ging mit ihr — die nickende Weide mit
ihren geöffneten Fangarmen.-
„Sind Sie des Teufels, Inge? Soll ich mir
durchaus die Rettungsmedaille an Ihnen ver-
dienen?"
Eine Menschenstimme! Einer kam ihr nach!
. „Seit wann sind Sie denn so lebensmüde?"
fragte Doktor Ortloff, an ihre Seite gleitend.
„Ich bin nicht lebensmüde, aber ich freue mich,
daß Sie da sind, denn ich fing an, mich zu fürch-
ten."
So hatte sie noch nie zuvor zu ihm gesprochen
und so hatte er Inge Sondegg noch nie gesehen.
Wie ein geängstigtes Kind sah sie aus. War das ein
neuer Trick? Er stand ihr jedenfalls gut. Seine
Hand streckte sich ihr entgegen.
„Sie haben mich immer scheußlich schlecht be-
handelt, Fräulein Inge. Wollen wir jetzt Frieden
schließen miteinander?"
Sie nahm seine dargebotene Hand nicht, aber
ihre Augen sahen ihn an mit einem großen, heißen
Blick. Er allein war ihr nachgefolgt, nur er von
allen, und stand nun plötzlich an ihrer Seite, als ge-
höre er zu ihr.
„Nun, bin ich dieser kleinen Hand nicht würdig?"
fragte er.
Da hob sich langsam ihre Rechte. „Würdigkeit
oder Verdienst — wie Sie es für sich am passendsten
finden! Meinen Dank haben Sie sich in diesem
Augenblick jedenfalls verdient."
Er behielt ihre Hand in der seinen. „Also
Friedensschluß?"
Noch immer sah sie ihn so seltsam an. „Ich habe
ja nicht Krieg mit Ihnen geführt, Herr Doktor
Ortloff."
„Sie haben's nicht? Heißt das, ich wäre Ihnen
kein ernst zu nehmender Gegner, käme für Sie nicht
in Betracht?"
Wieder war in seinen Worten der kecke Klang.
Aber sie war ihm gewachsen, zog ihre Boa dicht um
sich und sagte: „Ich habe darüber bis jetzt noch nicht
nachgedacht, doch ich kann's ja einmal tun."
„Also aufgepaßt künftighin! Ich werde auf
meiner Hut vor Ahnen sein, schöne Inge."
„Das wird Ihnen wenig helfen, wenn ich es
anders will."
„Donnerwetter!" Es fuhr ihm heraus und es
war der Ausdruck seiner höchsten Bewunderung.
Ganz entzückt sah er sie an. „Eines möcht' ich wissen
von Ihnen: wer ist in Paris Ihr Lehrmeister ge-
wesen, Inge?"
„Sie fragen mehr, als ich beantworten kann,
Herr Doktor, und mein Name ist noch immer Fräu-
lein Sondegg."
„Noch immer? — Ach, soll es denn immer so
bleiben?"
„Nein," sagte sie, fest wie ein Schwur.
Er lachte hell auf. „Bravo! Endlich eine junge
Dame, die dpn Mut der Wahrheit hat! Und steht
 
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