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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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6 -
Dahl und Groote fuhren im Auto hinaus uach
Harvestehude. Der Chauffeur wußte, daß er die
Polizei hinter sich hatte, und tat fein Bestes; er
wußte wohl schon mehr, denn die Fama läuft noch
schneller als ein Kraftwagen.
Es lag jene seltsame Helligkeit, die den nordischen
Spätsommernächten eigen ist, über der stillen Riesen
stadt und ließ die Silhouetten der Häuser und Bäume
scharf hervortreten.
Dahl hatte bis jetzt geschwiegen, aber jetzt hob
er den Kopf und seufzte tief auf. „Das werde ich
nicht so leicht verwinden," sagte er leise. „Zwischen
nenn und zehn Uhr belauschte ich das Gespräch, und
um Mitternacht soll die Tat geschehen sein. Man darf
sich niemals auf einen Erfahrungsfatz verlassen, denn
es kommt immer anders, als wir denken. Ich hätte
das Revier sofort benachrichtigen müssen, dann
wäre der arme Kerl vielleicht noch am Leben."
Groote suchte nach einem Trost: „Sind Sie denn
so sicher, daß Doktor Janson wirklich das Opfer
eines Raubmordes geworden ist?"
„Aber was denn sonst, Herr Doktor? Die Sache
trifft doch haarklein zu! Nach der telephonischen
Meldung des Reviers wird ein bekannter Hamburger
Gelehrter um zwölf Uhr nachts, also zu einer Zeit,
wo solche Herren oft noch am Schreibtisch zu sitzen
pflegen, vom Vorgarten aus durch das Fenster
seines Arbeitszimmers erschossen. Einige Stunden
vorher unterhalten sich zwei Einbrecher über den
Tatort, sie reden vom späten Ausbleiben und er-
wähnen sogar den Vorgarten — ich sollte denken,
daß die Duplizität der Fälle doch auch ihre Grenzen
hat, wenn auch die Kriminalgeschichte nicht ganz
selten davon zu berichten weiß."
Während dieser kurzen Unterhaltung hatte der
Chauffeur die ersten Häuser des eleganten Vororts
erreicht und hielt vor einem weit ausgesperrten
Gittertor.
„Da ist es, Herr Kommissar. Soll ich hinein-
fahren?"
„Nein, wir steigen hier aus. Es werden schon
mehr als genug Spuren verwischt sein."
Sie betraten einen sorgfältig gepflegten Garten,
in dessen Hintergrund die nicht sehr große Villa
zwischen alten Bäumen hervorlugte; ihre Fenster
waren sämtlich erhellt, mehrere Schatten bewegten
sich eilfertig hin und her.
„Wie aufgescheuchte Ameisen," sagte Dahl mür-
risch. „Der Reviervorstand von Harvestehude ist ein
eifriger Beamter, aber er tut bisweilen des Guten
zuviel. Sehen sie nur die Fußspuren auf dem Rasen
— kreuz und quer, als ob es hier keine Wege
gäbe! Na, das können auch die Hausbewohner ge-
wesen sein."
Im Hausflur trafen sie einen Konstabler, der
das Auto offenbar schon gehört hatte und seinen
Vorgesetzten empfing. Der Mann war gut informiert
und ergänzte unaufgefordert den knappen Telephon-
bericht des Reviers.
„Kurz nach zwölf Uhr wurden wir alarmiert.
Außer Herrn Doktor Janson wohnen nur drei
Personen in der Villa, nämlich ein Diener, die
Köchin und das Hausmädchen. Die Meldung wurde
durch den Diener erstattet.' Dieser schläft im Vorder-
haus, während das weibliche Gesinde den nach
hinten liegenden Anbau bewohnt und erst durch den
Diener geweckt wurde. Der Hausherr pflegt des
Abends sehr lange zu arbeiten und beim Zubett-
gehen sich selbst zu entkleiden; auch in dieser Nacht
hatte der alte Schmidt — so heißt der Diener —
etwa anderthalb Stunden geschlafen, als er durch
einen Schuß geweckt wurde. Er begab sich sofort
in das Arbeitszimmer seines Herrn und fand diesen
in der Nähe des Fensters auf der Erde liegen mit
einer Schußwunde in der linken Brust dicht über
dem Herzen. Die Scheibe des Fensters zeigte ein
kleines kreisrundes Loch mit strahlenförmig aus-
laufenden Riffen, also offenbar eine Schußöffnung;
im Zimmer selbst fand sich keine Unordnung, die
Lampe brannte auf dem Schreibtisch, der mit Büchern
und Skripturen bedeckt war. Schmidt hat zuerst
den Tod seines Herrn festgestellt, die Leiche auf
das Sofa gebettet, sodann die Frauenzimmer ge-
weckt und ist endlich auf das Revier gelaufen, um
den Vorfall zu melden. Nun ist der Arzt mit dem
Herrn Wachtmeister drinnen und besichtigt die
Leiche."
Der Kommissar hatte ruhig zugehört und blickte
auf seine Uhr. „Jetzt haben wir Eins. Wann kam
die Meldung?"
„Punkt zwölf Uhr fünfzehn."
„Wenn mau alles, was vorhergiug, zusammen-
rechnet, dann wird die Tat etwa dreiviertel zwölf
begangen fein?"
„Das kann wohl stimmen, Herr Kommissar."
„Ich sah draußen auf dem Rasen verschiedene
Fußspuren; können Sie mir darüber Aufschluß
geben?" <>

— — Vas Luch sül- Mle - "
„Die Weiber, Herr Kommissar!" sagte der Bc
amte achselzuckend.
„Sie haben sich natürlich entsetzlich gefürchtet
und find alle Augenblick nach der Pforte gerannt,
um unser Kommen zu erwarten. Das verliert ja
gleich den Kopf."
„Ja, das stimmt. Bitte, Herr Doktor."
Sie betraten das Arbeitszimmer des Ermordeten,
in dem sich außer dem Reviervorstand nur ein junger
Arzt und der alte, weißhaarige Diener besanden;
die beiden letzteren beschäftigten sich am Sofa
mit einer lang ausgestreckten Gestalt, während der
Wachtmeister am Schreibtisch saß und ein Protokoll
verfaßte. Er hatte die dort liegenden Bücher und
Papiere ziemlich rücksichtslos beiseite geschoben und
schrieb im Schweiße seines Angesichts. Als Dahl an
ihn herantrat, erhob er sich in dienstlicher Haltung.
„Sachte, Herr Wachtmeister," sagte Dahl leise;
„wir wollen hier alles möglichst unberührt lassen,
es ist schon zu vieles durcheinander gebracht. Womit
hat sich denn der Ermordete zuletzt beschäftigt?"
„Davon verstehe ich nichts, Herr Kommissar."
Auch Groote war herangetreten und beugte sich
auf den Schreibtisch. „Hier liegt ein Buch über
Gifte, und da noch eins. War Doktor Janson dem:
Chemiker von Haus aus?"
„Nein," sagte Dahl, „aber er befaßte sich mit
allem möglichen, denn er brauchte nicht auf die
Praxis zu sehen. — Wie steht's, feit wann ist der
Tod eingetreten? Ich lege Wert auf den Zeitpunkt."
Der junge Arzt richtete sich aus und begann
seine blutigen Hände in einem Waschbecken zu säubern.
„Das Herz schlägt noch, meine Herren. Ich habe
soeben eine Kampfereinspritzung gemacht."
Sie fuhren alle herum, und Dahl tat einen
tiefen Atemzug.
„Aber man sagte mir doch —"
„Allerdings, zuerst glaubte ich selbst an das Ende.
Aber die Kugel hat das Herz nur eben noch ge-
streift, es ist eine schwache Möglichkeit vorhanden,
das fliehende Leben zurückzuhalten. Es kommt alles
auf die Konstitution des Patienten an. Wir wollen
ihn in sein Schlafzimmer bringen, und ich werde
die Nacht bei ihm wachen; von einer Überführung
in das Krankenhaus muß vorläufig Abstand ge-
nommen werden."
„Von einem Selbstmord kann nicht die Rede
fein?"
„Nein. Das Geschoß ist aus einer Entfernung
von einigen Schritten abgefeuert worden. Außer-
dem fehlt die Waffe."
„Natürlich — und das Loch in der Scheibe!"
Wenige Minuten später waren die beiden Krimi-
nalbeamten mit dem Anwalt allein im Zimmer.
Dahl hatte sich an das Fenster gestellt und sah
nachdenklich hinaus — der Wachtmeister schwitzte
wieder über seinem Protokoll.
Plötzlich wendete Dahl sich um. „Jetzt fällt es
mir wieder ein, Herr Doktor, Sie haben Doktor
Janson gekannt?"
„Nur oberflächlich. Wir waren ein paar Wochen
zusammen in Skagen."
„Nichtig, Sie sagten das schon. Ich bin heute
nicht auf der Höhe. Diese verwünschte Geschichte
aus dem .Krummen Stiefel' liegt mir in den
Gliedern. Verkehrte der Doktor dort mit vielen
Leuten?"
„Nein, er lebte ziemlich zurückgezogen; ich habe
ihn eigentlich nur mit einer der Damen zusammen
gesehen."
„So—hm, mit einer Dame? Wer war denn das?"
„Eine Frau Sellentin aus Berlin. Ihr Mann ist
Chemiker — ich glaube, er und Doktor Janson stehen
miteinander in wissenfchaftlichen Beziehungen."
„Gut, dann ist also in Skagen keine Spur zu
verfolgen, obwohl mir das eigentlich zu meiner
eigenen Beruhigung lieb wäre. Wir müssen au
dem Schlosser-Hein festhalten, trotzdem diese Sache
— fällt Ihnen dabei nichts auf?"
„Doch, Herr Kommissar," sagte Groote nach-
denklich. „Wer macht denn auf diese Art einen
Einbruchsversnch?"
„Nicht wahr, mit Bumbum und Tamtam? Und
dennoch kann es nicht anders gewesen sein. Die
Geschichte klappt zu genau. Man muß nur immer
bedenken, daß ein Revolver oder ein Browning
— denn das Loch in der Scheibe ist sehr klein — kein
großes Geräusch verursacht, und daß die Villa ziem-
lich isoliert liegt. Baldowert haben die Kerle natür-
lich, denn das tun sie alle vorher, und sie wissen, daß
der Doktor spät auf sitzt, noch dazu bei unverhüllteu
Fenstern, denn hier sehe ich keine Stores, und daß
kein Hund im Hause ist. Sie glauben außerdem zu
wissen, daß das Gesinde nach hinten hinaus schläft,
es ist also immerhin kein großes Risiko dabei, den
am Schreibtisch sitzenden Mann von außen her
durch das Fenster niederzuschießen und den Einbruch
auszuführen."

-,- -1
„Der doch nicht ausgeführt wurde, Herr Kom-
missar." , r.
„Stimmt. Der unausgeführt blieb, weck plötz-
lich ein zweites Fenster hell wurde, das Zimmer
des erwachenden Dieners."
Es war seltsam, wie der Beamte sich förmlich
in eine Vorstellung hineinwühlte, die ihn selbst
peinigte und dabei in mehr als eurer Beziehung
Unwahrscheinlichkeiten enthielt; aber der vielseitiger
veranlagte Rechtsanwalt schob diese Erscheinung auf
den alten Erfahrungssatz, daß vorgefaßte Meinungen
sehr schwer zu beseitigen sind.
Er entgegnete daher nur: „Wenn Doktor Janson
wirklich mit dem Leben davonkommt, dann wird
er uns vielleicht selbst die beste Auskunft geben
können. Oder sind Sie auch in dieser Beziehung
anderer Ansicht, Herr Kommissar?"
Was Situationsfragen betraf, war Dahl sicher-
lich ein geübter Kriminalist. Er überblickte noch
einmal das ganze Zimmer und machte eine zu-
stimmende Handbewegung. „Wenn er wirklich am
Leben bleibt, Herr Doktor! Im übrigen läßt sich der
ganze Vorgang ziemlich genau konstruieren, wir
haben dafür einige zuverlässige Merkmale. Daß
Doktor Janson kurz vor dem Attentat an seinem
Schreibtisch gearbeitet hat, kann als gewiß angenom-
men werden, denn die auf der Platte verstreuten
Bücher und Papiere deuten auf eine plötzlich unter-
brochene Tätigkeit. Er hat aber nicht die Kugel
selbst am Schreibtisch erhalten. Daß man ihn vor
dem Fenster liegend fand, beweist nichts, denn auch
ein schwer verwundeter Mensch kann noch auf-
springen und einige Schritte machen; aber beachten
sie gefälligst die Stellung des Möbels im Verhältnis
zum Fenster. Es steht mitten im Zimmer und
sonderbarerweise mit der rechten Schmalseite nach
der Außenwand, obwohl dadurch das Licht dem
Schreibenden verkehrt auf die Hand fällt. Vermutlich
hat Doktor Janson nur abends hier gearbeitet, denn
ich sehe da drüben ein Pult mit der richtigen Stellung.
Wenn wir nun annehmen, daß der Hausherr am
Schreibtisch sitzend den Schuß erhielt, dann hätte
die Kugel seine rechte Körperhälfte treffen müssen,
sie ist aber nach der Aussage des Arztes dicht über
dem Herzen eingedrungen, und zwar von vorne her,
denn sonst hätte es nur einen oberflächlichen Streif-
schuß gegeben, nimmermehr aber diefe schwere
und vielleicht tödliche Verwundung. Folglich hat
Janson am Fenster gestanden, als der Schuß auf
ihn abgefeuert wurde, und ich kann mir sehr lebhaft
die Ursache vergegenwärtigen. Er arbeitet, wie
Sie sehen, hinter unverhüllten Fenstern, denn der
Vorgarten schützt ihn hinreichend gegen neugierige
Blicke; er vernimmt plötzlich draußen ein Geräusch,
erhebt sich unwillkürlich und tritt an das Fenster.
Sie und ich hätten das auch getan — wer denkt
denn gleich an eine Kugel? Das ist etwa dreiviertel
auf zwölf gewesen, und wir beide befanden uns
gerade in St. Pauli. Entsinnen Sie sich nicht
Herr Doktor, daß Sie um dieselbe Zeit eine Bemer-
kung über das Wetter machten?"
Frank nickte. „Ich sagte, es sei eine ungewöhn-
lich Helle Nacht."
„Und so war es auch. Nach dem Gutachten des
Arztes ist der Schuß auf eine Entfernung von etwa
vier Schritten abgegeben worden; ich nehme also
an, daß Doktor Janfon mindestens die Gestalt des
Täters, vielleicht aber auch seine Gesichtszüge er-
kannt hat, denn es ist ein alter Erfahrungssatz, daß
in Augenblicken der höchsten Gefahr die Sinne
außerordentlich geschärft find, das Erinnerungs-
vermögen wie auf einer photographischen Platte
festgehalten wird."
Diese Auseinandersetzung war so klar und logisch,
daß Groote nichts dagegen einzuwenden vermochte,
und er sagte nur ganz mechanisch: „Es wird also
alles darauf ankommen, daß die ärztliche Kunst das
Leben des Verletzten erhält. Sie bleiben dabei,
Herr Kommissar, daß nur dieser Schlosser-Hein und
etwa sein unbekannter Genosse die Tat begangen
haben können?"
„Ich bleibe dabei," entgegnete Dahl. „In
einigen Stunden wird er hinter Schloß und Riegel
sitzen."
Groote fühlte, daß er überflüssig geworden war.
Von „Hamburg bei Nacht" konute natürlich nicht
mehr die Rede sein. Der Morgen kam überdies
jetzt herauf, uud das Eintreffen der „Mordkommission"
stand jeden Augenblick in Aussicht.
Er reichte dein Kommissar die Hand.
„Ich danke Ihnen, Herr Dahl. Wir haben mehr
erlebt, als ich ahnen konute. Diese Nacht wird nicht
so leicht m meiner Erinnerung auslöschen. Für den
Fall, daß die Gerichte mein Zeugnis wünschen,
übergebe ich Ihnen hier meine Karte. Ich reise
b'E^ug uach Berlin. Nur noch einen
Blick :n das Krankenzimmer möchte ich tun. Wem:
mau wochenlang mit jemand zusammeugewesen
 
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