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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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610 >
sich ihre angefangene Näherei heraus, ein paar
wollene Kittelchen für einige kleine Arbeiterkinder,
die einer Toilettenaufbesserung sehr dringend be-
durften.
So eifrig nähte sie daran, daß sie Schritte auf
dem mit grauen Kacheln ausgelegten Flur lind dann
ein rasches Klopfen an ihrer Tür überhörte. Erst
als das Pochen sich verstärkt wiederholte, rief sie
„Herein!", ohne den Kopf umzuwenden, denn sie
vermutete, ihre Aufwärterin würde mit irgend einer
Frage oder einem Anliegen zu ihr kommen.
„Nun, was gibt's, Frau Matheiß?" rief sie.
„Ich bin's."
Ilona fuhr herum und sah Jürgen van der Leyen
vor sich. Eine Sekunde raubte ihr rascher Herzschlag
ihr die Sprache. Dann bezwang sie ihre Erregung
und hielt ihm die Hand hin: „Seit langem erwarte
ich Sie."
„Sie haben recht, mir böse zu sein. Ich hätte
längst zu Ihnen kommen sollen. Aber es gibt Zeiten,
in denen man alles von sich schieben möchte und
schwer mit Entschlüssen ringt, die gefaßt werden
müssen."
Jürgen van der Leyen sah sich in der kleinen
Stube um. Nichts war darin verändert. In den:
grünen Kachelofen knisterte das Feuer. Die Alpen-
veilchen am Fenster trieben immer noch ihre zartrosa
Blüten. Ihr feiner Duft durchzog den Raum wie
ein leises Frühlingsahnen.
„Vor kurzer Zeit, hier in diesem Zimmer, sagten
Sie mir, daß Sie meine Bitte erhören und mir die
Hand reichen wollten, Ilona," fing Jürgen an.
„Heute komme ich zu Ihnen, um Ihnen Ihre Frei-
heit zurückzugeben und Sie von dem Versprechen,
das die Verhältnisse Ihnen abzwangen, zu ent-
binden."
Er sprach ruhig. Die Worte klangen fast wie
eine auswendig gelernte Lektion.
Ilona schob ihre Näharbeit von sich und sah ihm
gerade ins Gesicht. „Das Kind, um dessentwillen
Sie mich heiraten wollten, ist tot. Und damit fällt
der Grund unserer Heirat für Sie fort." Ihre
Stimme klang ihr selbst fremd in den Ohren. „Wenn
Sie aber so wörtlich an unserem Vertrage festhalten
wollten, dann durften Sie auch nicht die Hypotheken
auf Kaderzin übernehmen und das nötige Kapital
vorstrecken. Dadurch bin ich doch wieder in Ihrer
Schuld. Wie soll ich die auslösen? Wohltaten find
immer drückend, und Dankbarkeit macht unfrei."
„Sie schulden mir nichts, sondern ich Ihnen.
Ewig werde ich Ihnen dankbar bleiben. Mein Kind
starb in Ihren Armen." Er legte die Hand über die
Augen. „Wenn ich das jemals vergessen könnte,
was Sie in den furchtbaren Stunden an mir und
meinem Kinde getan haben, so verdiente ich nicht
weiterzuleben."
„Und doch wollen Sie mich von sich stoßen?"
Ihre Frage berührte ihn seltsam. Überrascht
zuckte er zusammen. „Unser Vertrag wurde auf
einer falschen Basis aufgebaut," sagte er nach einem
kurzen Stillschweigen. „Ich habe nicht um Sie ge-
worben, wie ein Mann um eine Frau, die er liebt,
werben soll, sondern ich habe wie ein Händler mit
Ihnen einen Vertrag abgeschlossen. Dabei belog
ich mich selbst. Mochte ich mir auch noch so viel Vor-
reden, daß ich Sie um des Kindes wegen wählte,
es war doch auch eigenes Besitzenwollen dabei im
Spiel. Dagegen kämpfte ich. Der alte, unver-
wundene Schmerz um meine verlorene Frau riß
wieder an meinem Herzen, noch verschärft durch die
bittere Selbstqual über meine Untreue gegen die
Tote, die ich mir nicht verzeihen konnte. Ihr schönes,
lebensvolles Gesicht, Ilona, schob sich beständig zwi-
schen meine Erinnerungen. Immer wieder ver-
suchte ich mir die Züge meiner Frau vorzustellen.
Vergebens. Eine Zeitlang behalten wir Wohl jede
kleine Einzelheit getreu im Gedächtnis. Nach und
nach verblaßt alles wie ein Pastellbild, dessen Staub
sich verflüchtigt. Unsere Toten sterben in uns zum
zweiten Male."
Ein Schluchzen, das wie ein dumpfes Stöhnen
klang, hob seine Brust.
Ilona hörte lautlos zu. Mit keiner Silbe unter-
brach sie feinen lange verhaltenen Gefühlsausbruch.
„Jetzt wissen Sie, wie's mit mir steht. Die Ver-
gangenheit lastet zu schwer auf mir," fuhr er fort.
„Auch die Gegenwart ist mühevoll. Vieles, was
ich in Jahren ernster Arbeit geschaffen und erworben
habe, ist zusammengebrvchen. Ich bin zwar noch
nicht arm geworden, aber ich bin nicht mehr der reiche
Mann wie einst."
„Und was gedenken Sie zu tun?"
Er zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich die Gruben
hier verkaufen und ins Ausland gehen."
„Das werden Sie nicht!" Ilona legte ihre Hand
auf seine zusammengeballte Faust, in die er den
Kopf stützte.
Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr ihn die Be-

V35 Such fßi- Mle

kiest 28

rührung ihrer schlanken Finger, in denen jeder Nerv
fieberte.
„Hier gehören Sie her, und hier werden Sie
bleiben, wenn Sie der Mann sind, für den ich Sie
bisher gehalten habe — fest, zielbewußt, wenu auch
hart! Nun zeigen Sie, daß Sie auch gütig fein und
vergeben können."
„Was soll ich denn tun?"
„Geben Sie es Ihren Arbeitern besser, reich-
licher wie vordem. Rufen Sie die zurück, die in
Not und Elend gerieten. Glauben Sie mir, es
waren nur verirrte, verhetzte, zur Verzweiflung ge-
triebene Menschen. Es wird Ihr Schaden nicht
fein. Glauben Sie mir, nur der kommt im Leben
vorwärts, dessen Blick wärmer, dessen Herz liebe-
voller und dessen Verstand schärfer wird durch herbe
Erfahrungen. Die Menschen, die so ihr Schicksal
gestalten, machen den edelsten Gebrauch von ihrem
Herrenrecht."
Er schwieg. In seinen wie versteinerten Zügen
kämpften Rührung und Schmerz. Plötzlich streckte
er ihr die Hände entgegen. „Siehabenmich überzeugt.
Wollen Sie mir bei dem Werk helfen, Ilona? Wollen
Sie mir helfen, mein Leben neu aufzubauen?"
„Ja, das will ich. Aber nur als deine Frau, die
du achtest und liebst, Jürgen. Hast du's denn nie
gemerkt, wie sehr ich dich liebe? Muß ich das erst
in klaren Worten sagen — ich dir!"
„Du — du liebst mich, Ilona?"
„Ja, ich liebe dich. Von der ersten Stunde an
habe ich dich geliebt, Jürgen, immer nur dich."
Bei ihren einfachen Worten war es ihm, als
wenn der eiserne Reifen um seinen Kopf, der schwere
Druck von seinem Herzen sich langsam lösten, und
alle die kranken, überreizten Gefühle, mit denen er
sich so lange marterte, von ihm abfielen.
Eine Antwort gab er nicht, weil ihm die Stimme
versagte, aber seine Arme umschlossen die Geliebte
so fest, als ob er sie niemals wieder freigeben wolle.
Zlveiundrlvanrigste5 Kapitel. .-
Hans v. Lauenstein lag auf feinem Liegestuhl im
Garten. Mit müdem Wohlbehagen sah er bald in
das goldige Flimmern der blühenden Lindenwipfel,
in denen die Bienen summten, bald auf feine drei
auf dem Rasenplatz spielenden Kinder. Die kleinen
Mädchen in ihren weißen Hängekleidchen trugen
schmal gewundene Kränze von Tausendschönchen in
den blonden Haaren. Sie hatten sich angefaßt und
tanzten „Ringel-Ringel-Rofenkranz". Der Klang
der Hellen, singenden Kinderstimmen drang deutlich
zu ihm. Wie süß sich das anhörte! Und wie schön
solch langsames Wiedergenesen war! Täglich ein
kleiner Fortschritt, täglich ein intensiverer Lebens-
genuß! Alles, was sonst als selbstverständlich hin-
genommen wurde, gewann jetzt eine ganz andere
Bedeutung. Dankbarkeit durchströmte ihn, die Dank-
barkeit des Genesenden, dem der Glaube an eine
Zukunft, an neue Ziele und Lebenswerte zurück-
gegeben worden ist.
Doktor Krause, der durch die lange Behandlung
des Kranken zum Hausfreund geworden war, saß
Lauenstein gegenüber in einem Schaukelstuhl und
betrachtete seinen Patienten mit so wohlwollendem
Stolz wie ein Meister sein gelungenes Werk.
„Na, da hätten wir Sie ja nun glücklich wieder
auf die Beine gebracht," sagte er zufrieden. „Heute
sind Sie schon zweimal durch den Garten gegangen
— nicht wahr?"
„Ja. Wann werden Sie mich denn wieder aufs
Pferd lassen, Doktorchen? Ich glaube, ich könnte
schon reiten. Das Faulenzen muß doch endlich ein
Ende nehmen. Alle Last der Wirtschaft und der Ge-
schäfte liegt auf meiner armen Frau."
Bei diesen Worten verdüsterte sich Lauensteins
eben noch so heiteres Gesicht. Die verwickelten Geld-
verhältnisse fielen ihm ein. Bisher war er noch zu
schwach gewesen, um gründlich darüber nachzudenken.
Aber jetzt mußte er sich wieder einarbeiten.
„Darüber machen Sie sich keine Sorgen, Herr
v. Lauenstein," fiel der Doktor schnell ein. „Der
Justizrat hat alles geordnet. Die Hypotheken sind
Oblonsky ausbezahlt und auch sonst alle seine Forde-
rungenbeglichen worden. DerJnspektor ist ganz tüch-
tig, seitdem Krefeld ihm genau auf die Finger sieht."
Lauenstein stieß einen Seufzer tiefer Befriedi-
gung aus. „Ich bin also nicht mehr Oblonskys
Schuldner? Welche Erlösung! — Aber wie kommt
das? Wer hat uns geholfen?"
„Das wird Ihnen Ihre Frau Gemahlin be-
richten."
Lauenstein blieb eine Weile still. „Doktor, wenn
jetzt alles in Kaderzin in gutem Gange ist, ließe sich
gewiß ein zahlungsfähiger Pächter finden, und ich
könnte wieder dein: Regiment eintreten?"
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Bester Herr
v. Lauenstein, den Gedanken geben Sie lieber auf,"
bat er. „Sie sind gesund, geistig und körperlich, was

Sie zum großen Teil der aufopfernden Pflege Ihrer.
Frau zu verdanken haben. Wer schonungsbedürftig
werden Sie noch lange bleiben. Den geistigen und
körperlichen Anstrengungen, die man heute von
unseren Offizieren fordert, find Sie nicht mehr ge-
wachsen. Damit müssen Sie sich abfinden."
Lauenstein wandte den Kopf zur Seite. Der
Arzt sollte die Enttäuschung nicht in feinen Zügen
lesen.
„Ist es denn nicht auch schön, hier auf eigenem
Grund und Boden zu leben?" fragte Doktor Krause
in begütigendem Ton.
Lauenstein seufzte. „Gewiß! Aber man ist und
bleibt hier doch in der Fremde."
„So erwerben Sie sich das heimatliche Herren-
recht auf der fremden Erde! Ich denke, das ist die
Kulturaufgabe, die uns Deutschen hier obliegt."
„Das ist sehr schwer, Herr Doktor!"
„Schwer, aber nicht unmöglich, wenn jeder seine
ganze Kraft einsetzt. Das geht nicht rasch, aber all-
mählich werden wir siegen. Jeder in seinem Be-
reich. Ihre Frau wird Ihnen beistehen."
„Glauben Sie wirklich, daß das Enteignungs-
gesetz durchgeht? Das wäre doch eine große Härte!"
„Für den einzelnen ist oft etwas hart, was der
Allgemeinheit Nutzen bringt. — Aber jetzt wollen
wir nichts mehr verhandeln, was Sie erregen könnte,
sondern uns an dem herrlichen Wetter freuen. Wie
alles blüht und duftet! Ihre drei kleinen Mädel auf
dem Grasplatz sehen wie große weiße Blumen aus."
Aber Lauenstein kam nicht sogleich von dem
Thema los. „Was würde Oblonsky anfangen, wenn
er wirklich von Schenin fort müßte? Das täte mir
doch leid für ihn."
„Der kommt nicht unter die Räder. Um dessen
Schicksal lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen.
Wenn er wirklich das Feld räumen muß, so geschieht's
ihm nur recht. Er hat alles getan, um Sie von
Ihrem Besitz zu vertreiben."
Lauenstein antwortete nicht. Alle diese Vor-
gänge lagen noch wie von einem feinen, grauen
Nebel verhüllt hinter ihm. Jedenfalls konnte er
weder Haß noch Rachsucht gegen Oblonsky emp-
finden. Vorläufig hatte er nur Sehnsucht nach
Sonne, Stille, Frieden.
Die Stimmen seiner Kinder, das Zwitschern der
Vögel und leises Bienengesumm wiegten ihn in einen
traumähnlichen Zustand, aus dem er erst erwachte,
als er seine Frau vom Garten her auf die Veranda
zukommen sah. Der Arzt war inzwischen, weil er
Lauenstein schlafend glaubte, leise fortgegangen.
Victoire trug ein Helles Kleid. Die Kinder hatten
ihr beim Spielen auch einen Kranz von Tausend-
schönchen aufgesetzt. Den trug sie noch, und er stand
ihr reizend. Ihr Gesicht war zart gerötet. Ihre
Augen lachten.
„Was das heute schön ist hier draußen — gar zu
schön!" Sie fetzte sich neben ihren Mann und strich
zärtlich über feinen Arm. „Jeden Tag geht's jetzt
ein Stück vorwärts mit dir, Hans."
„Ja, und dir verdanke ich das, meinte der Doktor
vorhin."
„Ach, Unsinn!"
„Doch, Victoire!" Er faßte nach ihrer Hand.
„Bisher konnte ich dir noch nie danken. Ich war zu
stumpf und zu schwach. Aber gefühlt habe ich deine
aufopfernde Pflege durch alle Leiden hindurch.
Immer, wenn ich in der Nacht aufwachte, sah ich dich
an meinem Bett. Liebe, kleine Victoire, ich habe
das wohl eigentlich gar nicht um dich verdient?"
Aber das wollte sie nicht hören. Früher bei ihren
Meinungsverschiedenheiten schob stets der eine dem
anderen die Schuld zu. Heute wollte jeder sie allein
auf sich nehmen.
„Victoire, wer gab das Geld, um Oblonsky aus-
zuzahlen?" fragte Hans plötzlich unvermittelt. Seine
Gedanken kreisten immer noch um dieses ungelöste
Rätsel.
„Jürgen van der Leyen ordnete alles."
„Wie ist das möglich! Ein uns völlig Fremder!
Ilona brachte ihn wohl dazu?"
„Ja." Victoire zögerte, ob sie noch mehr sagen
solle. Aber dann fuhr sie entschlossen fort: „Ich bat
Ilona darum, Hans. Ich wußte keinen anderer:
Ausweg. Ilona verlobte sich dann mit van der Leyen
und —"
„Als Kaufpreis gab sie sich also her?"
„Ich glaube nicht, daß ihr das schwer gewor-
den ist."
„Du sagtest doch aber früher, sie hätte van der
Leyens Antrag zuerst abgewiesen?"
„Ja, aber das muß ihr Wohl bald leid geworden
fein. Ganz durchschauen kann ich Ilona nie. Sie
ist ein eigenes Kraut und ein sehr komplizierter
Eharakter. Aber das weiß ich — sie ist sehr glücklich
jetzt!"
Hans rührte sich nicht. Victoire warf einen
prüfenden Blick auf ihren Mann. Seine Gesichts-
 
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