Host 2
DasBuchfüvAlle
31
Seine große Stunde. D°n L Westkirch.
m (Lass an der Piazza ging es lebhaft zu. An den Stamm-
tischen sahen die täglichen Gäste, Kaufleute und Handwerker
der Stadt, bunt gemischt mit Bauern und Händlern der
nächsten Gebirgstäler; von den reisenden Fremden, die sich in
dem Tessiner Kurort zusammenfanden, drängten sich viele in den
gastlichen Raum, vor dessen Spiegelscheiben große Palmen in
Kübeln ihre breiter: Wedel spreizten. Fremde und heimische Laute,
Italienisch, Schweizerdeutsch, Englisch, Französisch schwirrten durch-
einander; als der alte Antonio an seiner Krücke hereinhumpelte,
fand sich kein Platz mehr für ihn. Er ging nach dem Schemel vor der
Zentralheizung zu, kauerte sich zusammen und hielt die Hände an
„O Signor, das ist eine alte Geschichte. Zwei Brüder Sarto
lebten in der Stadt als ich jung war, eingewanderte Deutschschweizer.
Frohe Burschen waren sie, die Sartos, und beide arbeiteten in dem
großen Bankhaus an der Piazza. In einer Nacht brach man dort
ein, den Wächter fand man in der Frühe niedergeschlagen und ohn-
mächtig, und ein schönes Stück Geld war geraubt. Auf Antonio Sarto,
der den Schlüssel zum Kassenzimmer hatte, fiel der erste Verdacht.
Er aber beschwor seine Unschuld bei der Madonna und allen Heiligen,
in jener Nacht sei er nicht im Bankgebäude gewesen. Zu Hause
aber war er auch nicht, und wo er gewesen, wollte er nicht sagen. Was
man auch anstellte mit ihm, es ergab sich nicht, wo er die Nacht ver-
bracht hatte. Zehn Jahre Zuchthaus gab man dem Antonio damals.
Sein eigener Bruder stand gegen ihn mit schwerem Zeugnis. Als
man ihn abführte, wehrte er sich verzweifelt; dabei verlor er ein Auge.
österreichische Küstenwache und Scheinwerferstation an der Adria.
Phot. Kilophot, Wien.
die Leitung. Sein Rock war gestickt, ein zerbeulter Hut schattete
seine gefurchte Stirn. Grau floß ihm der Bart auf die Brust. Er-
loschen war sein rechtes Auge, das linke sah schwermütig verdüstert
auf das laute Getriebe. Mancher Fremde sah verwundert oder
mißbilligend nach der elenden, bettelhaften Gestalt. Der Wirt,
ein alter Tessiner, trat freundlich auf den Alten zu: „Wie geht's,
Antonio?"
Der Greis zuckte die Achseln. „Ich warte."
„Du solltest es aufgeben, Antonio. Es ist umsonst, Andrea wird
nicht wiederkommen. Er kann längst gestorben sein."
„Nein. Er lebt, und ich werde ihn finden," beharrte der Alte.
„Einmal werd' ich ihn sehen und abrechnen mit ihm, ehe ich sterbe!
Gott und die Heiligen sind es mir schuldig."
Gutmütig sagte der Wirt: „Antonio, man hat mir ein gutes
Weinchen geschickt, du sollst es kost^ He, Marietta! Ein Glas Wein
für Antonio Sarto."
Einer der fremden Herren sprach den vorübergehenden Wirt
an, er wollte wissen, wer der Alte sei.
Ein paar Wochen später ging sein Bruder Andrea nach Südfrankreich.
Die Schande auf seinem Namen trieb ihn fort von hier. Seitdem
hörte man nichts mehr von ihm. Die Hälfte von Antonios Zeit
im Gefängnis war vergangen, da bekannte ein junges Mädchen
dem Priester auf dem Totenbett, Antonio sei in jener Nacht lange
Stunden mit ihr vor der Stadt gewesen, damals seien sie einig
geworden zu heiraten, obwohl beide wußten, daß der Vater des
Mädchens nichts wissen mochte von dem fremden Antonio. Aus
Scham und Furcht vor dem Vater hatte sie geschwiegen. Sie sagte
zuletzt alles noch vor Zeugen, und der eigene Vater mußte ihr schwören,
den Unschuldigen zu retten. Die Gerichte nahmen die Untersuchung
noch einmal auf, und bald war bewiesen, daß nicht Antonio, sondern
Andrea Sarto der Dieb war. Antonio kam frei und man gab ihm
ein kleines Amb in der städtischen Verwaltung. Aber es war aus
mit ihm. Die lange Haft wirkte übel auf sein armes zergrübeltes
Hirn; seitdem ist's wohl nicht mehr richtig mit ihm. Jeden Tag
wartet er auf den Bruder, der an seinem Elend schuld war; seit
Jahren geht das so. Er ist alt geworden, aber es gäbe trotzdem ein
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Seine große Stunde. D°n L Westkirch.
m (Lass an der Piazza ging es lebhaft zu. An den Stamm-
tischen sahen die täglichen Gäste, Kaufleute und Handwerker
der Stadt, bunt gemischt mit Bauern und Händlern der
nächsten Gebirgstäler; von den reisenden Fremden, die sich in
dem Tessiner Kurort zusammenfanden, drängten sich viele in den
gastlichen Raum, vor dessen Spiegelscheiben große Palmen in
Kübeln ihre breiter: Wedel spreizten. Fremde und heimische Laute,
Italienisch, Schweizerdeutsch, Englisch, Französisch schwirrten durch-
einander; als der alte Antonio an seiner Krücke hereinhumpelte,
fand sich kein Platz mehr für ihn. Er ging nach dem Schemel vor der
Zentralheizung zu, kauerte sich zusammen und hielt die Hände an
„O Signor, das ist eine alte Geschichte. Zwei Brüder Sarto
lebten in der Stadt als ich jung war, eingewanderte Deutschschweizer.
Frohe Burschen waren sie, die Sartos, und beide arbeiteten in dem
großen Bankhaus an der Piazza. In einer Nacht brach man dort
ein, den Wächter fand man in der Frühe niedergeschlagen und ohn-
mächtig, und ein schönes Stück Geld war geraubt. Auf Antonio Sarto,
der den Schlüssel zum Kassenzimmer hatte, fiel der erste Verdacht.
Er aber beschwor seine Unschuld bei der Madonna und allen Heiligen,
in jener Nacht sei er nicht im Bankgebäude gewesen. Zu Hause
aber war er auch nicht, und wo er gewesen, wollte er nicht sagen. Was
man auch anstellte mit ihm, es ergab sich nicht, wo er die Nacht ver-
bracht hatte. Zehn Jahre Zuchthaus gab man dem Antonio damals.
Sein eigener Bruder stand gegen ihn mit schwerem Zeugnis. Als
man ihn abführte, wehrte er sich verzweifelt; dabei verlor er ein Auge.
österreichische Küstenwache und Scheinwerferstation an der Adria.
Phot. Kilophot, Wien.
die Leitung. Sein Rock war gestickt, ein zerbeulter Hut schattete
seine gefurchte Stirn. Grau floß ihm der Bart auf die Brust. Er-
loschen war sein rechtes Auge, das linke sah schwermütig verdüstert
auf das laute Getriebe. Mancher Fremde sah verwundert oder
mißbilligend nach der elenden, bettelhaften Gestalt. Der Wirt,
ein alter Tessiner, trat freundlich auf den Alten zu: „Wie geht's,
Antonio?"
Der Greis zuckte die Achseln. „Ich warte."
„Du solltest es aufgeben, Antonio. Es ist umsonst, Andrea wird
nicht wiederkommen. Er kann längst gestorben sein."
„Nein. Er lebt, und ich werde ihn finden," beharrte der Alte.
„Einmal werd' ich ihn sehen und abrechnen mit ihm, ehe ich sterbe!
Gott und die Heiligen sind es mir schuldig."
Gutmütig sagte der Wirt: „Antonio, man hat mir ein gutes
Weinchen geschickt, du sollst es kost^ He, Marietta! Ein Glas Wein
für Antonio Sarto."
Einer der fremden Herren sprach den vorübergehenden Wirt
an, er wollte wissen, wer der Alte sei.
Ein paar Wochen später ging sein Bruder Andrea nach Südfrankreich.
Die Schande auf seinem Namen trieb ihn fort von hier. Seitdem
hörte man nichts mehr von ihm. Die Hälfte von Antonios Zeit
im Gefängnis war vergangen, da bekannte ein junges Mädchen
dem Priester auf dem Totenbett, Antonio sei in jener Nacht lange
Stunden mit ihr vor der Stadt gewesen, damals seien sie einig
geworden zu heiraten, obwohl beide wußten, daß der Vater des
Mädchens nichts wissen mochte von dem fremden Antonio. Aus
Scham und Furcht vor dem Vater hatte sie geschwiegen. Sie sagte
zuletzt alles noch vor Zeugen, und der eigene Vater mußte ihr schwören,
den Unschuldigen zu retten. Die Gerichte nahmen die Untersuchung
noch einmal auf, und bald war bewiesen, daß nicht Antonio, sondern
Andrea Sarto der Dieb war. Antonio kam frei und man gab ihm
ein kleines Amb in der städtischen Verwaltung. Aber es war aus
mit ihm. Die lange Haft wirkte übel auf sein armes zergrübeltes
Hirn; seitdem ist's wohl nicht mehr richtig mit ihm. Jeden Tag
wartet er auf den Bruder, der an seinem Elend schuld war; seit
Jahren geht das so. Er ist alt geworden, aber es gäbe trotzdem ein