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Hedwig Erwachte aus
ihrer dumpfen Betäubung.
Als sie die Augen öffnete,
deckte ein erstickend er Schleier
ihr Gesicht. Sie wirrte sich
langsam aus dem Vorhang.
Mit Zerzaustem Haar und
verstörtemGesicht kauerte sie
auf der Schwelle des Wohn-
zimmers, auf dem purpur-
farbenen Stoff, unter dem
sie zusammengebrochen war.
Lange brauchte sie, ehe sie
sich zurechtfand, bis sie völ-
lig begriff, was Albert ihr


Phot. Hofphoiogoops) E. Bieber, Hamburg.
Generalfeldmarschall v. Hindenburg
in der Uniform feines österreichischen Infanterieregiments.

(Fortsetzung.)
rschöpft sank Pahlzow auf den Sessel; die Depesche war
seiner Hand entglitten und lag auf den: Teppich. Er schien
nichts zu hören und zu sehen. Er bemerkte nicht, daß
Hedwig taumelnd um sich griff. Sie suchte sich an dem
schweren Plüschvorhang zu halten. Die Messingstange trug die Last
nicht, stürzte aus den Haltern. Lautlos war Hedwig zu Boden ge-
sunken. Der Vorhang bedeckte ihre Gestalt.
Albert verlieh das Zimmer wie ein Trunkener. Nur ein Ge-
danke trieb ihn: Fort, fort, nachdem alles zusammengebrochen war
und sein elender Lügenbau
in Trümmern lag. In sei¬
nem Zimmer fand er sich,
ohne zu wissen, wie er da¬
hin gekommen war. Was
er tun solle, begriff er nicht.
Vielleicht führte ihn der
dunkle Trieb hieher, etwas,
das sein Eigentum war, an
sich zu nehmen. Was ge¬
hörte ihm denn wirklich?
War er nicht ohne alles, ja
mit Schulden belastet in dies
Haus gedrungen? Alles,
was ihm nicht gehörte, hatte
er verspielt und vergeudet,
um als ein Ehrloser, Ver¬
worfener feige zu fliehen.
Das war das Ende.
Er besah nichts mehr,
als ein paar hundert Mark,
die er in dieser Nacht im
Spiel gewonnen. Soweit
Golonsky sich nicht durch
Wertpapiere gedeckt hatte,
war Hedwigs ganzes Ver¬
mögen an jenes Unterneh¬
men verloren gegangen, vor
dem selbst Golonsky ihn
mehr als einmal gewarnt.
Seine halbirren Blicke
hafteten auf einem polier¬
ten Kasten. Seine Geige,
sein einziger, wirklich eigener
Besitz lag darin verschlossen.
War es eine verrückte
Laune oder die unklare Vor¬
stellung, dah zum land¬
streichenden Musikanten die
Fidel gehöre, oder war es
eine Regung wehmütiger
Pietät für den Vater, der
seinen letzten Pfennig fürdes
Sohnes Zukunft geopfert;
er nahm den Geigenkasten
und floh aus dein Hause.

Flüchtlinge
'Boman von
ArthurWinckler-Dänrvmberg-

Im Flur, im Wohnzimmer und in seiner Stube brannten die
elektrischen Lampen. Er dachte nicht daran, sie auszuschalten.
Unter den Falten des Vorhanges lag sein Weib, das er zur
Bettlerin gemacht hatte. Nichts konnte er ihr mehr sein, als ein
ewiger Vorwurf, ein verächtlicher Mensch. Ihr letztes Glück würde
sein, dah sie ihn los war.
Auf der Strahe kehrte ihm für einen Augenblick flüchtige Be-
sinnung zurück. Ein Revolver lag noch in seinem Zimmer, den er
nicht mitnahm. Und er dachte doch im ersten Augenblick, nachdem
alles über ihm zusammengebrochen war, daran, die Waffe gegen
sich selbst zu kehren. Nun stand er mit der Geige auf der Strahe.
Sollte er sie am Pfahl der Laterne, unter der er still hielt, zer-
schmettern? Oder nochmal zurückschleichen und den Revolver holen?
Sein Kopf glühte, seine Pulse hämmerten. Nichts wuhte er
mehr, nichts wurde mehr klar in seinem Gehirn.
Willenlos, ziellos taumelte er dahin und schleppte die Geige
mit. Auch dah er sie trug,
wuhte er nicht. Plötzlich
stand er vor einem grohen
Gebäude, dem Hauptbahn-
hof. Er hörte eine Loko-
motive schnauben. Die er-
leuchtete Uhr wies auf zehn
Minuten nach drei. Um drei
Uhr fünfzehn ging der v-
Zug nach der Grenze. Mit-
ten im Wirrwarr seiner Ge-
danken fiel ihm das ein und
berührte ihn wie eine Ein-
gebung, eine Erleuchtung.
Hastig eilte er zum Schal-
ter und verlangte ein Billett
zur Endstation.
Der Beamte sah ihn er-
staunt an und einigte sich
mit dem offenbar Erregten.
Der Zug trug ihn in die
Nacht hinaus. Die letzten
Stürmehatten ihn erschöpft,
und so wild das Blut auch
pochte, endlich wurde es
ruhig. Tiefe Erschlaffung
überfiel ihn und wohltätiger
Traum löschte friedespen-
dend die Wirklichkeit aus.
 
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