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„Ja, Frau v. Las-
zinska hörte, daß es
von einer der Erzherzo-
ginnen ausgenommen
wurde, als der Küher
stille Andacht hielt. Die
Russen mißbrauchten
das Bild, ließen es in
Massen mit der Unter-
schrift verbreiten: ,Der
Kaiser in Wien beweint
den Verlust Galiziens
und der Bukowina.' In
den von ihnen besetzten
Landesteilen suchten
sie es überall zu ver-
breiten,- sie hofften das
Volk damit gläubig zu
stimmen, daß ihr Land
für ewige Zeiten ver-
loren sei."
Gisela sagte: „Ich
glaube nicht, daß die
Russen Glück mit dieser
Lüge haben."
„So war es auch.
Rian war überall tief
ergriffen, den greisen
Mann in seinem Herze-
leid zu sehen. Seit
Wochen haben die rus-
sischen Behörden diese
Bilder selbst beschlag-
nahmt: so kam es wohl
auch, daß wir hier
keines davon sahen."
„Dabei sind sie um
eine Lehre reicher ge-
worden; sie haben er-
lebt, daß wir auch im
tiefsten Elend mit dem
angestammten Herrn zu
gehen wissen. Es sind
zum Glück uicht viele so
erbärmlich, wie dieser
Kallnein, der zu den
Russen steht, seit sie
hier sind."
„Für ihn und sei-
ne Gesinnungsgenossen
wird die Stunde der
Abrechnung kommen."
„Ja, und sie ist
näher, als sie ahnen.
Sieh nur, dort rückt
wieder eine Kolonne
mit Kanonen vorüber.
Wie sie auf die armen
Pferde einpeitschen!"
DieMutter trat vom
Fenster zurück. „Mit-
leid kennen sie nicht.
Mit keiner Kreatur Got-
tes, dessen Ebenbild sie
sein wollen."
Gisela verließ das
Fenster. Im Gespräch
mit der Mutter be-
merkte sie nicht, daß
zwei Offiziere dicht un-
ter ihrem Fenster hielten
und sie wahrscheinlich
DasBuchsüvAlie Heft Z
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Heft 3 DasBuchsürAlle
schon längere Zeit be-
obachteten. Einer der
Männer warf ihr eine
Kußhand zu, sein Ka-
merad machte eine nicht
mißzuverstehendeGeste.
Sie hörte lautes Ge-
lächter, in das Mann-
schaften im Hofe ein-
stimmten.
Gisela sah verächt-
lich vor sich hin. Was
waren das auch für
Offiziere! Unter den
Kosaken gab es höhere
Vorgesetzte, die weder
lesen noch schreiben
konnten, rohe, zügellose
Menschen, die der Krieg
nur noch gemeiner und
roher machte.
In Kallneins Haus,
auf dessen Dach sich die
russische Flagge blähte,
lagen wieder fünfzehn
Offiziere und höhere
Beamte der Etappe.
Eugen Kallnein wußte,
zu wem man sich in
diesen Zeitläuften hal-
ten mußte. Sah er
nicht täglich, was die
anderen, die es nicht
wie er zu machen ver-
standen, erduldeten?In
ein paar Wochen waren
wohlhabende Bauern
verelendet. Das waren
Narren in seinen Augen,
Menschen, die nicht bis
an die nächste Wand
vor sich sahen. Was
war leichter vorauszu-
sagen, geradezu zahlen-
mäßig klar für jeden,
der nur eineu kümmer-
lichen Rest von Hirn in
seinen! Schädel barg,
daß über kurz oder lang
auch noch Italien gegen
Österreich loszog, wie
di eOffiziere zu erzählen
wußten? Damit war
alles aus uud entschie-
den. Rußland, ein
Riese, ein Koloß, mußte
jeden erdrücken, der sich
gegen es stellte. Seit
man dem Zaren in
Lemberg gehuldigt, war
für Kallnein der letzte
Zweifel dahin; ihm stand
es ganz fest, daß Ga-
lizien und dieBukowina
nie wieder österreichisch
würden. Warum mußte
das auch sein? Man
mußte nur verstehen,
mit den Russen klug
umzuspringen; unter
dem neuen Herrn ließ
sich nicht schlechter leben