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DasBuchsürAlle
Heft-4
Auch geschichtlich bilden die Ukrainer ein altes und ehemals selb-
ständiges Ganze. Sie haben ein eigenes Reich geschaffen, den ältesten
Staat von bleibender Bedeutung in Osteuropa. Im 9. Jahrhundert er-
richteten aus Schweden eingedrungene germanische Eroberer, denen der
Name Rus oder Ros beigelegt wurde, einen großen Staat am Dnjepr,
dessen Hauptstadt Kiew wurde. Dieses alte Großfürstentum Kiew, in
dem die germanischen Eroberer früh mit der slawischen Volksmasse ver-
schmolzen, ist 1240 von den Mongolen zerstört worden, die bis gegen
1500 ganz Rußland beherrschten. Nur im Westen erhielt sich ein Rest des
alten Staates von Kiew, das Gebiet zwischen Dnjepr und Karpathen,
das nach seiner Hauptstadt Halisz den Namen Galizien erhielt. Aber
dieser Staat war zwischen Polen, der Türkei und dem Zarentum Moskau
eingekeilt und wurde eine Beute der umgebenden Mächte. Im Jahre
1667 teilten sich Polen und Moskau in das Gebiet, wobei alles Land
östlich vom Dnjepr an Moskau fiel. Doch behielt dieser Teil der Ukraine
zunächst das Recht der Selbstverwaltung unter dem von der Volks-
versammlung gewählten Hetman (Hauptmann). Der selbständigen
Ukraine hat Katharina H. (1783) ein Ende gemacht; die Würde des
Hetmans wurde aufgehoben und das Land in russische Gouvernements
geteilt. Mit der Teilung Polens kam auch der größte Teil der westlichen
Ukraine an Rußland. Seit dem Wiener Kongreß (1815) bestehen die
heutigen Verhältnisse: Ostgalizien fiel an Österreich, das übrige ukrainische
Gebiet blieb russisch. Heute leben über 30 Millionen Ukrainer in Ruß-
land, 4 Millionen in Österreich-Ungarn; wo sie den alten lateinischen
Namen Ruthenen, das heißt Russen, führen. Noch bis zur Zeit Peters
des Großen nannte man in Westeuropa nur die Ukrainer „Russen"; die
heutigen „Großrussen" sind bis dahin nie anders als „Moskowiter" benannt.
In diesen geschichtlichen Tatsachen ist nun die sogenannte „ukrainische
Frage" begründet, die heute lebhaft erörtert wird. Die Erinnerung an
ihre alte politische und kulturelle Selbständigkeit ist in den Ukrainern
nie ganz erloschen und wird heute durch begabte Führer wieder belebt.
Die Ukrainer streben nach Unabhängigkeit von Rußland. Die russische
Regierung geht umgekehrt vor. Um die Herrschaft über Konstantinopel
zu gewinnen, will sie die slawischen Völker mit sich vereinen. Das schließt
die Zertrümmerung Österreichs ein. Die Einverleibung Galiziens mit
seiner polnischen und ukrainischen Bevölkerung war eines der Kriegs-
ziele. Schon 1876 hat Rußland das geplant und ist damals nur durch
deutschen Einspruch gehindert worden. In den Jahren 1905 und 1911
drohte die selbe Gefahr, die 1914 Wirklichkeit wurde. Der ungeheure
Aufwand an Kräften, die Rußland in den Karpathen opferte, ist nur
durch das politische Wollen Rußlands verständlich. Mit der Eroberung
von Lemberg und Halisz schien die russische Einheit vollendet. Man gab
dem Lande den alten Namen „Rotrußland" wieder, und der Zar selbst
mußte kommen, um die Vereinigung feierlich, wenn auch angstvoll, zu
weihen. Wenn es damals hieß, nun sei die Wiege des russischen Reiches
wieder mit dein Mutterland vereinigt, so beruht das auf der in allen
russischen Schulbüchern — und auch in vielen deutschen Schriften — aus-
geführten Auffassung, die in Rußland die amtlich gültige ist. Danach
stünde Moskau Erbe und rechtmäßige Nachfolge des alten ukrainischen
Reiches von Kiew zu. Das ist eine grobe Fälschung. Das Zarentum
Moskau ist neben Kiew emporgewachsen und kann höchstens als Erbe
der Tatarenherrschaft gelten. Aber von der russischen Staatsanschauung
aus hatte das russische Reich seine Einheit erst erreicht, wenn Galizien
einverleibt war.
Die Ukrainer, die geschichtlich und national denken gelernt haben,
sehen die Lage — und zwar mit besserem Recht — ganz anders an. Für
sie ist der Moskowiter ein Fremdherrscher, der sich durch Gewalt unter
Verletzung eines grundlegenden Staatsvertrages die Ukraine angeeignet
hat. In dem geistig hochbegabten Volke sind zahlreiche Schriftsteller
und Dichter aufgetreten, die für die Freiheit, mindestens für die innere
Selbstverwaltung und die Erhaltung der Volksart eintraten. Nament-
lich der bedeutende Dichter Taras Schewtschenko ist der Vorkämpfer der
ukrainischen Freiheit gewesen. Die russische Regierung hat alle diese
Bestrebungen mit Gewalt unterdrückt. „Es gibt kleine ukrainische Nation
und darf keine geben," sagte ein russischer Kultusminister.
Diese Anschauung kam in dem kaiserlichen Ukas von 1876 zur Geltung,
der den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Wort und Schrift verbot.
Die Ukraine sollte ihres Selbstbewußtseins, ihrer geistigen Kräfte be-
raubt werden. Im Jahre 1905 brach die große russische Revolution aus,
die das „Befreiungsjahr" 1906 einleitete. Rußland erhielt eine Volks-
vertretung in der Duma, in die auch die nichtrussischen Völker ihre Ab-
geordneten sandten. Die beschränkenden Bestimmungen über die Ukraine
wurden aufgehoben. In der ersten Duma hatte die Ukraine 62 Ab-
geordnete, die sich zusammenschlossen und als erstes an die russische
Regierung die Forderung der Selbstverwaltung richteten. Wie wenig
die russische Regierung daran dachte, den Völkern des weiten Reiches
auch nur ein selbständiges Kulturleben zu ermöglichen, zeigte sich in dem
Staatsstreich, mit dem Stolypin die Forderung der Ukrainer erwiderte.
Er löste die erste Duma aus, es kam ein neues Wahlrecht, das den Ukrainern
eine Vertretung überhaupt entzog. Der kaiserliche Ukas (16. Juni 1907),
offenbar Stolypins Arbeit, ist einer der brutalsten Gewaltakte. In ihm
heißt es: „Die Reichsduma, die zur Festigung des russischen Reiches ge-
schaffen ist, muß auch ihrem Geist nach russisch sein. Die anderen Völker,
die zu unserem Reiche gehören, sollen in der Duma Vertreter ihrer Be-
dürfnisse haben (!), aber sie sollen nicht in einer Zahl erscheinen, die
ihnen die Möglichkeit gibt, in russischen Fragen ausschlaggebend zu sein.
In den Erenzländern müssen die Wahlen zeitweilig (!) eingestellt werden."
Also auf der einen Seite erklärt die russische Negierung, daß es keine
ukrainische Nation gibt, auf der anderen Seite veranstaltet sie um der
Ukrainer willen einen Staatsstreich und ändert das Wahlrecht. In der
Tat sitzt seit 1907 kein Ukrainer mehr in der Duma.
Seit 1906 ist die ukrainische Frage aber auch ein Problem, das weit
über Rußland hinausgreift. Die Ukrainer in Österreich, die Ruthenen,
bilden fast ausschließlich die bäuerliche Bevölkerung Ostgaliziens. Der
Großgrundbesitz und der überwiegende Teil des städtischen Bürgertums
sind polnisch. So stand das ruthenische Bauerntum ganz im polnischen
Schatten. Durch die Einführung des neuen Wahlrechtes in Österreich
(1906) kamen 30 ruthenische Abgeordnete in den Neichsrat, die energisch
für ihr Volk eintraten und damit auch Erfolge hatten. Zumal durch die
Teilnahme des ermordeten Thronfolgers für die Ruthenen bestand die
Möglichkeit, daß sich in Ostgalizien ein national-ukrainischer Staat im
Verbände der Habsburger Monarchie bildete. Darin aber sahen die
Russen eine schwere Gefahr. Bildete sich hier ein Herd der nationalen
Einheits- und Freiheitsbestrebungen, so mußte er auch in der russischen
Ukraine gleiche Hoffnungen und Wünsche emporflammen lassen. Lem-
berg war ohnehin schon ein Sammelpunkt aller ukrainischen Bestrebungen.
Als der Plan auftauchte, hier eine ruthenische Universität zu schaffen,
erklärte die „Nowoje Wremja", daß die Ausführung des Planes für
Rußland einen Kriegsgrund bilden werde. Die Petersburger Zeitungen
wagten es sogar, den Thronfolger als heimlichen Anstifter des Abfalls
der Ukraine hinzustellen. Inwieweit russische Einflüsse auf Serbien zu
seiner Ermordung mitgewirkt haben, wissen wir noch nicht; aber nach
allem, was bisher ans Tageslicht getreten ist, wird man auch in dieser
Freveltat ein von Rußland angestiftetes oder begünstigtes Werk sehen
müssen. Die serbische Regierung hätte ohne Rückhalt an Rußland die
Mordtat schwerlich ausführen lassen.
Die Sorgen Rußlands wegen der Ukraine aber hatten ihren guten
Grund. Die Machtstellung Rußlands beruht zum großen Teil auf dem
Besitz der Ukraine. Zunächst schon aus wirtschaftlichen Gründen. Die
Ukraine erzeugt fast alle Güter, die Rußlands Ausfuhr bilden und seine
europäische Handelsbilanz ermöglichen. Das eigentliche Rußland ist
arm, es lebt von den Überschüssen der Ukraine. Seine Industrie gründet
sich auf die Kohlenlager am Donez, sein Handel aus die Erträge der
„schwarzen Erde". Ohne die Ukraine müßte Rußland wirtschaftlich zu-
sammenbrechen; denn Sibirien ist noch lange nicht genügend aufge-
schlossen und entwickelt, um Ersatz zu liefern. Der Besitz der Ukraine ist
also für Rußland eine Lebensfrage ersten Ranges und damit eine Frage
auch seiner äußeren Politik.
Dieser Krieg sollte nun die ukrainische Frage endgültig lösen. Wurde
Ostgalizien russisch, waren alle Ukrainer der russischen Despotie unter-
worfen, dann war die ukrainische Bewegung nach russischer Weise leicht
zu erledigen. Alle geistigen Führer hätten am Galgen oder in Sibirien
ihr Ende gefunden, die Masse des Volkes war leicht zu beherrschen. Be-
steht sie doch mit 80 vom Hundert der Gesamtbevölkerung aus Bauern
und zu 70 vom Hundert aus des Lesens und Schreibens Unkundigen.
Als Lemberg und Przemysl in russischem Besitz waren, redete man von
der vollendeten Einigung der russischen Nation. Das hieß nichts anderes,
als daß die ukrainische Gefahr beseitigt, daß Rußlands Weltmacht gesichert
war. Was Rußland wollte, hat es nicht erreicht. Der Durchbruch von
Gorlice hat der russischen Machtstellung einen viel schwereren Schlag
versetzt als die Eroberung Polens und Kurlands. Die ukrainische Frage
ist heute viel stärker betont als je zuvor. Auch für Deutschland liegt hier
eine Lebensfrage. Wie die letzten Entscheidungen des Krieges fallen,
wissen wir noch nicht; wie sich damit die Zukunft der Ukraine gestaltet,
kann heute noch niemand sagen. Noch stehen die Massen des Bauern-
volkes nicht mit bewußter Stoßkraft hinter den Gedanken der Intelligenz;
aber sie beginnen zu erwachen.
Von der Lösung der ukrainischen Frage hängt auch für uns vieles ab.
Ob wir an der Ostgrenze einen Nachbar haben, dessen stetig wachsende
Übermacht uns dauernd bedrohen und einst völlig erdrücken kann, das ist
für uns die ukrainische Frage. Rußland ist ein nur auf Eroberung ge-
gründeter Staat. In dieser Richtung wird es sich weiterbewegen und
eine ständige Gefahr für Europa bleiben, wenn nicht neue, sichernde
Grenzen geschaffen werden. Daß Rußland den Hauptgedanken dieses
Krieges, die Vereinigung aller Ukrainer durch Zertrümmerung Öster-
reichs, nicht durchsetzen kann, dafür wird zuverlässig auch weiterhin ge-
sorgt werden. Ob es die r u s s i s ch e Ukraine in ihrem ganzen Umfang
behaupten wird, das ist die große Frage der Zukunft.
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Auch geschichtlich bilden die Ukrainer ein altes und ehemals selb-
ständiges Ganze. Sie haben ein eigenes Reich geschaffen, den ältesten
Staat von bleibender Bedeutung in Osteuropa. Im 9. Jahrhundert er-
richteten aus Schweden eingedrungene germanische Eroberer, denen der
Name Rus oder Ros beigelegt wurde, einen großen Staat am Dnjepr,
dessen Hauptstadt Kiew wurde. Dieses alte Großfürstentum Kiew, in
dem die germanischen Eroberer früh mit der slawischen Volksmasse ver-
schmolzen, ist 1240 von den Mongolen zerstört worden, die bis gegen
1500 ganz Rußland beherrschten. Nur im Westen erhielt sich ein Rest des
alten Staates von Kiew, das Gebiet zwischen Dnjepr und Karpathen,
das nach seiner Hauptstadt Halisz den Namen Galizien erhielt. Aber
dieser Staat war zwischen Polen, der Türkei und dem Zarentum Moskau
eingekeilt und wurde eine Beute der umgebenden Mächte. Im Jahre
1667 teilten sich Polen und Moskau in das Gebiet, wobei alles Land
östlich vom Dnjepr an Moskau fiel. Doch behielt dieser Teil der Ukraine
zunächst das Recht der Selbstverwaltung unter dem von der Volks-
versammlung gewählten Hetman (Hauptmann). Der selbständigen
Ukraine hat Katharina H. (1783) ein Ende gemacht; die Würde des
Hetmans wurde aufgehoben und das Land in russische Gouvernements
geteilt. Mit der Teilung Polens kam auch der größte Teil der westlichen
Ukraine an Rußland. Seit dem Wiener Kongreß (1815) bestehen die
heutigen Verhältnisse: Ostgalizien fiel an Österreich, das übrige ukrainische
Gebiet blieb russisch. Heute leben über 30 Millionen Ukrainer in Ruß-
land, 4 Millionen in Österreich-Ungarn; wo sie den alten lateinischen
Namen Ruthenen, das heißt Russen, führen. Noch bis zur Zeit Peters
des Großen nannte man in Westeuropa nur die Ukrainer „Russen"; die
heutigen „Großrussen" sind bis dahin nie anders als „Moskowiter" benannt.
In diesen geschichtlichen Tatsachen ist nun die sogenannte „ukrainische
Frage" begründet, die heute lebhaft erörtert wird. Die Erinnerung an
ihre alte politische und kulturelle Selbständigkeit ist in den Ukrainern
nie ganz erloschen und wird heute durch begabte Führer wieder belebt.
Die Ukrainer streben nach Unabhängigkeit von Rußland. Die russische
Regierung geht umgekehrt vor. Um die Herrschaft über Konstantinopel
zu gewinnen, will sie die slawischen Völker mit sich vereinen. Das schließt
die Zertrümmerung Österreichs ein. Die Einverleibung Galiziens mit
seiner polnischen und ukrainischen Bevölkerung war eines der Kriegs-
ziele. Schon 1876 hat Rußland das geplant und ist damals nur durch
deutschen Einspruch gehindert worden. In den Jahren 1905 und 1911
drohte die selbe Gefahr, die 1914 Wirklichkeit wurde. Der ungeheure
Aufwand an Kräften, die Rußland in den Karpathen opferte, ist nur
durch das politische Wollen Rußlands verständlich. Mit der Eroberung
von Lemberg und Halisz schien die russische Einheit vollendet. Man gab
dem Lande den alten Namen „Rotrußland" wieder, und der Zar selbst
mußte kommen, um die Vereinigung feierlich, wenn auch angstvoll, zu
weihen. Wenn es damals hieß, nun sei die Wiege des russischen Reiches
wieder mit dein Mutterland vereinigt, so beruht das auf der in allen
russischen Schulbüchern — und auch in vielen deutschen Schriften — aus-
geführten Auffassung, die in Rußland die amtlich gültige ist. Danach
stünde Moskau Erbe und rechtmäßige Nachfolge des alten ukrainischen
Reiches von Kiew zu. Das ist eine grobe Fälschung. Das Zarentum
Moskau ist neben Kiew emporgewachsen und kann höchstens als Erbe
der Tatarenherrschaft gelten. Aber von der russischen Staatsanschauung
aus hatte das russische Reich seine Einheit erst erreicht, wenn Galizien
einverleibt war.
Die Ukrainer, die geschichtlich und national denken gelernt haben,
sehen die Lage — und zwar mit besserem Recht — ganz anders an. Für
sie ist der Moskowiter ein Fremdherrscher, der sich durch Gewalt unter
Verletzung eines grundlegenden Staatsvertrages die Ukraine angeeignet
hat. In dem geistig hochbegabten Volke sind zahlreiche Schriftsteller
und Dichter aufgetreten, die für die Freiheit, mindestens für die innere
Selbstverwaltung und die Erhaltung der Volksart eintraten. Nament-
lich der bedeutende Dichter Taras Schewtschenko ist der Vorkämpfer der
ukrainischen Freiheit gewesen. Die russische Regierung hat alle diese
Bestrebungen mit Gewalt unterdrückt. „Es gibt kleine ukrainische Nation
und darf keine geben," sagte ein russischer Kultusminister.
Diese Anschauung kam in dem kaiserlichen Ukas von 1876 zur Geltung,
der den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Wort und Schrift verbot.
Die Ukraine sollte ihres Selbstbewußtseins, ihrer geistigen Kräfte be-
raubt werden. Im Jahre 1905 brach die große russische Revolution aus,
die das „Befreiungsjahr" 1906 einleitete. Rußland erhielt eine Volks-
vertretung in der Duma, in die auch die nichtrussischen Völker ihre Ab-
geordneten sandten. Die beschränkenden Bestimmungen über die Ukraine
wurden aufgehoben. In der ersten Duma hatte die Ukraine 62 Ab-
geordnete, die sich zusammenschlossen und als erstes an die russische
Regierung die Forderung der Selbstverwaltung richteten. Wie wenig
die russische Regierung daran dachte, den Völkern des weiten Reiches
auch nur ein selbständiges Kulturleben zu ermöglichen, zeigte sich in dem
Staatsstreich, mit dem Stolypin die Forderung der Ukrainer erwiderte.
Er löste die erste Duma aus, es kam ein neues Wahlrecht, das den Ukrainern
eine Vertretung überhaupt entzog. Der kaiserliche Ukas (16. Juni 1907),
offenbar Stolypins Arbeit, ist einer der brutalsten Gewaltakte. In ihm
heißt es: „Die Reichsduma, die zur Festigung des russischen Reiches ge-
schaffen ist, muß auch ihrem Geist nach russisch sein. Die anderen Völker,
die zu unserem Reiche gehören, sollen in der Duma Vertreter ihrer Be-
dürfnisse haben (!), aber sie sollen nicht in einer Zahl erscheinen, die
ihnen die Möglichkeit gibt, in russischen Fragen ausschlaggebend zu sein.
In den Erenzländern müssen die Wahlen zeitweilig (!) eingestellt werden."
Also auf der einen Seite erklärt die russische Negierung, daß es keine
ukrainische Nation gibt, auf der anderen Seite veranstaltet sie um der
Ukrainer willen einen Staatsstreich und ändert das Wahlrecht. In der
Tat sitzt seit 1907 kein Ukrainer mehr in der Duma.
Seit 1906 ist die ukrainische Frage aber auch ein Problem, das weit
über Rußland hinausgreift. Die Ukrainer in Österreich, die Ruthenen,
bilden fast ausschließlich die bäuerliche Bevölkerung Ostgaliziens. Der
Großgrundbesitz und der überwiegende Teil des städtischen Bürgertums
sind polnisch. So stand das ruthenische Bauerntum ganz im polnischen
Schatten. Durch die Einführung des neuen Wahlrechtes in Österreich
(1906) kamen 30 ruthenische Abgeordnete in den Neichsrat, die energisch
für ihr Volk eintraten und damit auch Erfolge hatten. Zumal durch die
Teilnahme des ermordeten Thronfolgers für die Ruthenen bestand die
Möglichkeit, daß sich in Ostgalizien ein national-ukrainischer Staat im
Verbände der Habsburger Monarchie bildete. Darin aber sahen die
Russen eine schwere Gefahr. Bildete sich hier ein Herd der nationalen
Einheits- und Freiheitsbestrebungen, so mußte er auch in der russischen
Ukraine gleiche Hoffnungen und Wünsche emporflammen lassen. Lem-
berg war ohnehin schon ein Sammelpunkt aller ukrainischen Bestrebungen.
Als der Plan auftauchte, hier eine ruthenische Universität zu schaffen,
erklärte die „Nowoje Wremja", daß die Ausführung des Planes für
Rußland einen Kriegsgrund bilden werde. Die Petersburger Zeitungen
wagten es sogar, den Thronfolger als heimlichen Anstifter des Abfalls
der Ukraine hinzustellen. Inwieweit russische Einflüsse auf Serbien zu
seiner Ermordung mitgewirkt haben, wissen wir noch nicht; aber nach
allem, was bisher ans Tageslicht getreten ist, wird man auch in dieser
Freveltat ein von Rußland angestiftetes oder begünstigtes Werk sehen
müssen. Die serbische Regierung hätte ohne Rückhalt an Rußland die
Mordtat schwerlich ausführen lassen.
Die Sorgen Rußlands wegen der Ukraine aber hatten ihren guten
Grund. Die Machtstellung Rußlands beruht zum großen Teil auf dem
Besitz der Ukraine. Zunächst schon aus wirtschaftlichen Gründen. Die
Ukraine erzeugt fast alle Güter, die Rußlands Ausfuhr bilden und seine
europäische Handelsbilanz ermöglichen. Das eigentliche Rußland ist
arm, es lebt von den Überschüssen der Ukraine. Seine Industrie gründet
sich auf die Kohlenlager am Donez, sein Handel aus die Erträge der
„schwarzen Erde". Ohne die Ukraine müßte Rußland wirtschaftlich zu-
sammenbrechen; denn Sibirien ist noch lange nicht genügend aufge-
schlossen und entwickelt, um Ersatz zu liefern. Der Besitz der Ukraine ist
also für Rußland eine Lebensfrage ersten Ranges und damit eine Frage
auch seiner äußeren Politik.
Dieser Krieg sollte nun die ukrainische Frage endgültig lösen. Wurde
Ostgalizien russisch, waren alle Ukrainer der russischen Despotie unter-
worfen, dann war die ukrainische Bewegung nach russischer Weise leicht
zu erledigen. Alle geistigen Führer hätten am Galgen oder in Sibirien
ihr Ende gefunden, die Masse des Volkes war leicht zu beherrschen. Be-
steht sie doch mit 80 vom Hundert der Gesamtbevölkerung aus Bauern
und zu 70 vom Hundert aus des Lesens und Schreibens Unkundigen.
Als Lemberg und Przemysl in russischem Besitz waren, redete man von
der vollendeten Einigung der russischen Nation. Das hieß nichts anderes,
als daß die ukrainische Gefahr beseitigt, daß Rußlands Weltmacht gesichert
war. Was Rußland wollte, hat es nicht erreicht. Der Durchbruch von
Gorlice hat der russischen Machtstellung einen viel schwereren Schlag
versetzt als die Eroberung Polens und Kurlands. Die ukrainische Frage
ist heute viel stärker betont als je zuvor. Auch für Deutschland liegt hier
eine Lebensfrage. Wie die letzten Entscheidungen des Krieges fallen,
wissen wir noch nicht; wie sich damit die Zukunft der Ukraine gestaltet,
kann heute noch niemand sagen. Noch stehen die Massen des Bauern-
volkes nicht mit bewußter Stoßkraft hinter den Gedanken der Intelligenz;
aber sie beginnen zu erwachen.
Von der Lösung der ukrainischen Frage hängt auch für uns vieles ab.
Ob wir an der Ostgrenze einen Nachbar haben, dessen stetig wachsende
Übermacht uns dauernd bedrohen und einst völlig erdrücken kann, das ist
für uns die ukrainische Frage. Rußland ist ein nur auf Eroberung ge-
gründeter Staat. In dieser Richtung wird es sich weiterbewegen und
eine ständige Gefahr für Europa bleiben, wenn nicht neue, sichernde
Grenzen geschaffen werden. Daß Rußland den Hauptgedanken dieses
Krieges, die Vereinigung aller Ukrainer durch Zertrümmerung Öster-
reichs, nicht durchsetzen kann, dafür wird zuverlässig auch weiterhin ge-
sorgt werden. Ob es die r u s s i s ch e Ukraine in ihrem ganzen Umfang
behaupten wird, das ist die große Frage der Zukunft.