Heft 4
DasBuchfüvAlLe
91
anderen auch gehen mag, die gleiches Schicksal getroffen hat, wir leben
der Hoffnung, das; der Allmächtige uns eines Tages sie Wiedersehen
läßt; den Bauern Radim Kuchinka aber hat ein russischer Kriegs-
gerichtsrat in Eisen schließen lassen, ohne jeden Grund; mit keinem
Hauch von Recht. Das alles mitansehen zu müssen, ist kaum zu
ertragen. Sie werden ihn zum Strang verurteilen, ohne daß man
die Hand rühren kann. Unser Pfarrer bemüht sich, die Schuldlosig-
keit des armen Mannes zu beweisen; niemand glaubt, daß es ihm
glücken wird."
„Trösten Sie sich, es wäre Gewinn genug, wenn es dem Pfarrer
gelingt, einen Aufschub zu erreichen. Die Feldjustiz mag eilig sein,
aber unsere Reiter sind vielleicht schneller, Gräfin!"
Gräfin Zita Prochazka, die bei den letzten Worten eingetreten
war, sagte: „Sie machen uns so sicher und zuversichtlich, daß die
Stunde der Befreiung bald schlagen wird!"
„Gewiß, gnädigste Gräfin. Niemand in unseren Reihen zweifelt
daran."
„O, wenn das wahr wird! Zu viel Elend ist über unser armes
Land gekommen, jeder Tag mit Leid und Sorge gefüllt." Sie wandte
sich an Gisela.
„Daniel sagt mir
eben, Kuchinka sei
noch nicht ver¬
urteilt. Bis jetzt
hat ihn die Aus¬
sage des Bürger¬
meisters Matula
gerettet; ein rus¬
sischer Offizier,
der früher bei der
Garde stand, ist
gerechtdenkend
genug, noch wei¬
tere Zeugen zu
verlangen."
Pfarrer Wall-
nöfer war noch
in der Stadt. Er
war der einzige,
der um das Ge¬
heimnis von der
nächtlichen Lan¬
dung Würths
wußte. Vernunft
gebot ihm zu
schweigen. Unter¬
wegs begegneten
ihm bewehrte Gruppen, die das Gelände und die Häuser nach dem
Flieger absuchten. Das abseits liegende Schloß, vor dem ein Posten
stand und fortwährend Offiziere und Meldereiter kamen und gingen,
schien ihnen nicht verdächtig.
Mochte Wallnöfer sich auch noch so achtsam zügeln, seinen Augen sah
man doch an, wie freudig ihn die gute Botschaft stimmte. Nun mußte
sich erfüllen, was er in frommen Gebeten für seine Gemeinde er-
flehte: die Retter kamen, Gott segnete die Waffen seiner Streiter,
lieh ihren Armen heilige Kraft, daß der Wall der Gegner wankte!
Seit der grauenhaften Stunde, die im Armenhause ihre Opfer
forderte, umdüsterten Schatten bitteren Kummers seine Züge. Die
gleiche Schreckensnacht, die das Ende des Tabulettkrämers Schlojme
Chaijm sah, ließ seine Haare ergrauen.
Gern hätte er sich des unglücklichen verwaisten Judenmädchens
angenommen, aber Miriam war verschwunden. Alle Nachforschungen
ihrer Glaubensgenossen, die, ihre eigene bedrängte Lage vergessend,
nach ihr suchten, blieben erfolglos. Weder im Wald noch in Radomysl
fand sich eine Spur; der einzige, der aussagte, sie über die Felder
den feindlichen Stellungen entgegenlaufend gesehen zu haben, der
junge Knecht Janak, gab nach genaueren Fragen dem Pfarrer Wall-
nöfer zu, es könne ein Irrtum gewesen sein.
Den Weidhofbauer hielt man noch gefangen. Ssanin Alerandro-
witsch, der die Untersuchung führte, schien ein ehrlicher Mann zu
sein. Pfarrer Wallnöfer sah nicht unterschiedslos in jedem feindlichen
Offizier einen gewalttätigen Menschen. Anspruchslose- zuvorkom-
mende, rechtlich Denkende waren ihm neben Bestechlichen und Zügel-
losen begegnet. Bunt wie das Völkerheer des ungeheuren Reiches,
das von Turkestan bis Nowaja Semlja und von Polen bis hinauf
zur Beringstraße seine Wehrfähigen aufgeboten hatte: Turkmenen und
Samojeden, Weißrussen und Mongolen, Kosaken und Baschkiren —
war auch das Gemisch dieser Offiziere. Alle warf Rußland ins
Feuer, hetzte sie mit Stock und Knute, Revolvern und Maschinen-
gewehrfeuer vor. Gefangene wußten mit Grauen vom Einbruch der
Horden aus Asien zu berichten, die Deutschland und die Länder der
Habsburger Krone in gelber Flut ersticken sollten. Nun aber kam
die Stunde der Erlösung, aus dem Donnern der Kanonen klang
den wundenheißen Herzen das Nahen des Sieges.
Aber den waldbestandenen Hängen der Wisloka zog ein lichter,
klaräugiger Maienmorgen herauf. Nur wenige Kilometer standen
die verbündeten Truppen Mackensens noch fern. Auf dem jenseitigen
Flußufer würde man neue russische Stellungen finden. Von Ge-
fangenen, deren Zahl man bis zum Abend des vierten Mai fast auf
vierzigtausend
schätzte, wußte
man, daß die
Gegner die Lan-
deseinwohner
zum schleunigen
Bau betonierter
Unterstände ge-
preßt hatten.
Rechts vom
Husarenregiment
„Erzherzog Rai-
ner" ruhte zu
kurzer Rast das
zehnte Honved-
regiment, das
nach siebenmali-
gem Sturm eine
heißumstrittene
Höhe nördlich
Biecz genommen
hatte. Die Offi-
ziere beider Regi-
menter, zu denen
sich Kameraden
der preußischen
Garde gesellten,
beobachteten von
einer seichten Bodenmulde mit Krimstechern das Schlachtfeld —
das leere Schlachtfeld, auf dem fürs unbewaffnete Auge nichts zu
spielen schien als die Morgenmusik unsichtbarer Batterien. Seit
Morgengrauen dröhnten die Geschütze.
Seitwärts, in der Flanke, hinter der Offiziersgruppe begann die
Artillerie ihre Arbeit. Ein vorsichtiges Suchen zuerst. Dann aber
schwoll der Kampf hüben wie drüben an und füllte die Luft mit
Getöse, das sich steigerte und abnahm, ein unaufhörliches Donnern,
das die Erde dröhnen ließ.
Wer aber, wie die am obersten Rande der Mulde wartenden
Offiziere, die sanft ansteigenden Ostufer des strittigen Flusses mit
dem Glase achtsam absuchte, sah bald mehr als die täuschende Leere
des modernen Schlachtfeldes: sah, wie fast unbeweglich ganze
Gruppen, Halbzüge und einzelne Mannschaften sich im Vorgelände
den Bodenteilen anschmiegten — erkannte planmäßig weitverstreute
Maschen künftiger Netze, die den linken Waldrand und den mit zagem
Grün bedeckten sumpfigen Wiesengrund bald überziehen würden —
bemerkte wohl auch am jenseitigen Hang sekundenlang eine fächer-
artig auseinander quellende Menschensäule — wie winzige Ameisen-
haufen —, die schon im nächsten Augenblick im lehmfarbenen Boden
wieder erstarrte. Aus alledem war zu schließen, daß sich aus dem
erwachenden Morgen ein heißer Tag emporringen mußte, einer
wie jene letztverflossenen, entscheidungsuchenden, großen Tage, wo
sich das Feldherrngenie des tatkräftigen Mackensen aufs neue mit
dem zähen Widerstand des einstigen bulgarischen Gesandten am
Phot. Gebr. Haeckel, Berlin.
Älick auf Kronstadt in Siebenbürgen.
DasBuchfüvAlLe
91
anderen auch gehen mag, die gleiches Schicksal getroffen hat, wir leben
der Hoffnung, das; der Allmächtige uns eines Tages sie Wiedersehen
läßt; den Bauern Radim Kuchinka aber hat ein russischer Kriegs-
gerichtsrat in Eisen schließen lassen, ohne jeden Grund; mit keinem
Hauch von Recht. Das alles mitansehen zu müssen, ist kaum zu
ertragen. Sie werden ihn zum Strang verurteilen, ohne daß man
die Hand rühren kann. Unser Pfarrer bemüht sich, die Schuldlosig-
keit des armen Mannes zu beweisen; niemand glaubt, daß es ihm
glücken wird."
„Trösten Sie sich, es wäre Gewinn genug, wenn es dem Pfarrer
gelingt, einen Aufschub zu erreichen. Die Feldjustiz mag eilig sein,
aber unsere Reiter sind vielleicht schneller, Gräfin!"
Gräfin Zita Prochazka, die bei den letzten Worten eingetreten
war, sagte: „Sie machen uns so sicher und zuversichtlich, daß die
Stunde der Befreiung bald schlagen wird!"
„Gewiß, gnädigste Gräfin. Niemand in unseren Reihen zweifelt
daran."
„O, wenn das wahr wird! Zu viel Elend ist über unser armes
Land gekommen, jeder Tag mit Leid und Sorge gefüllt." Sie wandte
sich an Gisela.
„Daniel sagt mir
eben, Kuchinka sei
noch nicht ver¬
urteilt. Bis jetzt
hat ihn die Aus¬
sage des Bürger¬
meisters Matula
gerettet; ein rus¬
sischer Offizier,
der früher bei der
Garde stand, ist
gerechtdenkend
genug, noch wei¬
tere Zeugen zu
verlangen."
Pfarrer Wall-
nöfer war noch
in der Stadt. Er
war der einzige,
der um das Ge¬
heimnis von der
nächtlichen Lan¬
dung Würths
wußte. Vernunft
gebot ihm zu
schweigen. Unter¬
wegs begegneten
ihm bewehrte Gruppen, die das Gelände und die Häuser nach dem
Flieger absuchten. Das abseits liegende Schloß, vor dem ein Posten
stand und fortwährend Offiziere und Meldereiter kamen und gingen,
schien ihnen nicht verdächtig.
Mochte Wallnöfer sich auch noch so achtsam zügeln, seinen Augen sah
man doch an, wie freudig ihn die gute Botschaft stimmte. Nun mußte
sich erfüllen, was er in frommen Gebeten für seine Gemeinde er-
flehte: die Retter kamen, Gott segnete die Waffen seiner Streiter,
lieh ihren Armen heilige Kraft, daß der Wall der Gegner wankte!
Seit der grauenhaften Stunde, die im Armenhause ihre Opfer
forderte, umdüsterten Schatten bitteren Kummers seine Züge. Die
gleiche Schreckensnacht, die das Ende des Tabulettkrämers Schlojme
Chaijm sah, ließ seine Haare ergrauen.
Gern hätte er sich des unglücklichen verwaisten Judenmädchens
angenommen, aber Miriam war verschwunden. Alle Nachforschungen
ihrer Glaubensgenossen, die, ihre eigene bedrängte Lage vergessend,
nach ihr suchten, blieben erfolglos. Weder im Wald noch in Radomysl
fand sich eine Spur; der einzige, der aussagte, sie über die Felder
den feindlichen Stellungen entgegenlaufend gesehen zu haben, der
junge Knecht Janak, gab nach genaueren Fragen dem Pfarrer Wall-
nöfer zu, es könne ein Irrtum gewesen sein.
Den Weidhofbauer hielt man noch gefangen. Ssanin Alerandro-
witsch, der die Untersuchung führte, schien ein ehrlicher Mann zu
sein. Pfarrer Wallnöfer sah nicht unterschiedslos in jedem feindlichen
Offizier einen gewalttätigen Menschen. Anspruchslose- zuvorkom-
mende, rechtlich Denkende waren ihm neben Bestechlichen und Zügel-
losen begegnet. Bunt wie das Völkerheer des ungeheuren Reiches,
das von Turkestan bis Nowaja Semlja und von Polen bis hinauf
zur Beringstraße seine Wehrfähigen aufgeboten hatte: Turkmenen und
Samojeden, Weißrussen und Mongolen, Kosaken und Baschkiren —
war auch das Gemisch dieser Offiziere. Alle warf Rußland ins
Feuer, hetzte sie mit Stock und Knute, Revolvern und Maschinen-
gewehrfeuer vor. Gefangene wußten mit Grauen vom Einbruch der
Horden aus Asien zu berichten, die Deutschland und die Länder der
Habsburger Krone in gelber Flut ersticken sollten. Nun aber kam
die Stunde der Erlösung, aus dem Donnern der Kanonen klang
den wundenheißen Herzen das Nahen des Sieges.
Aber den waldbestandenen Hängen der Wisloka zog ein lichter,
klaräugiger Maienmorgen herauf. Nur wenige Kilometer standen
die verbündeten Truppen Mackensens noch fern. Auf dem jenseitigen
Flußufer würde man neue russische Stellungen finden. Von Ge-
fangenen, deren Zahl man bis zum Abend des vierten Mai fast auf
vierzigtausend
schätzte, wußte
man, daß die
Gegner die Lan-
deseinwohner
zum schleunigen
Bau betonierter
Unterstände ge-
preßt hatten.
Rechts vom
Husarenregiment
„Erzherzog Rai-
ner" ruhte zu
kurzer Rast das
zehnte Honved-
regiment, das
nach siebenmali-
gem Sturm eine
heißumstrittene
Höhe nördlich
Biecz genommen
hatte. Die Offi-
ziere beider Regi-
menter, zu denen
sich Kameraden
der preußischen
Garde gesellten,
beobachteten von
einer seichten Bodenmulde mit Krimstechern das Schlachtfeld —
das leere Schlachtfeld, auf dem fürs unbewaffnete Auge nichts zu
spielen schien als die Morgenmusik unsichtbarer Batterien. Seit
Morgengrauen dröhnten die Geschütze.
Seitwärts, in der Flanke, hinter der Offiziersgruppe begann die
Artillerie ihre Arbeit. Ein vorsichtiges Suchen zuerst. Dann aber
schwoll der Kampf hüben wie drüben an und füllte die Luft mit
Getöse, das sich steigerte und abnahm, ein unaufhörliches Donnern,
das die Erde dröhnen ließ.
Wer aber, wie die am obersten Rande der Mulde wartenden
Offiziere, die sanft ansteigenden Ostufer des strittigen Flusses mit
dem Glase achtsam absuchte, sah bald mehr als die täuschende Leere
des modernen Schlachtfeldes: sah, wie fast unbeweglich ganze
Gruppen, Halbzüge und einzelne Mannschaften sich im Vorgelände
den Bodenteilen anschmiegten — erkannte planmäßig weitverstreute
Maschen künftiger Netze, die den linken Waldrand und den mit zagem
Grün bedeckten sumpfigen Wiesengrund bald überziehen würden —
bemerkte wohl auch am jenseitigen Hang sekundenlang eine fächer-
artig auseinander quellende Menschensäule — wie winzige Ameisen-
haufen —, die schon im nächsten Augenblick im lehmfarbenen Boden
wieder erstarrte. Aus alledem war zu schließen, daß sich aus dem
erwachenden Morgen ein heißer Tag emporringen mußte, einer
wie jene letztverflossenen, entscheidungsuchenden, großen Tage, wo
sich das Feldherrngenie des tatkräftigen Mackensen aufs neue mit
dem zähen Widerstand des einstigen bulgarischen Gesandten am
Phot. Gebr. Haeckel, Berlin.
Älick auf Kronstadt in Siebenbürgen.