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Friesen aber ganz und gar nicht. Anno siebzig stellten sie ihren
Mann so gut wie alle andern; aber nun lebte man seit acht Jahren
im Frieden, und die Leute zwischen Elbe und Königsau bauten
lieber Deiche als Kasernen.
Als Paul sein neues Reich in den ersten Tagen übersah, begriff
er bald, daß seine Schönheit sich im Kern unter einer sehr rauhen
Schale verbarg. Das alte Schloß aus Herzog Adolfs Zeit diente
jetzt als Gericht und Richterwohnung; rings um seine Mauern
drängte sich der uralte Park, aber dies bunt gefärbte Ncst gab dem
Bilde kein Gepräge, wer die besondere Art der Gegend erkennen
wollte, der mußte hinaus auf den Deich, wo die Feste des Landes
sich vom Wasser schied oder von den ersten Herbsttagen ab mit ihm
zusammenfloß.
Wenn schwelende Nebelschleier alles umzogen und verhüllten,
wogte es in den Marschen nicht weniger als draußen im Watt,
und die verstreuten hochgelegenen Bauernhöfe ragten in die graue
Luft gleich jenen Halligen, die als Fetzen vergangener Sturmfluten
in der Nordsee schwimmen.
Der winzige Hafen aber war von allem das trübseligste. Als
Handelsplatz zählte er längst nicht mehr; nur den Ewern der Krabben-
fischer diente er als Zuflucht. Wenn die niedrigen schwarzen Fahr-
zeuge unter rotbraunen Segeln ein- und ausglitten, glichen sie Ge-
spenstern, die der Wirklichkeit zu entfliehen schienen. Der „blanke
Hans", wie die See bei den Schiffern heißt, hatte sein Recht ver-
loren und murrte bei jeder Flut unwillig an der langen Deichlinie,
denn überall begann man ihm Land aus den Zähnen zu reißen und
die vorgelagerten Inseln mit dem Ufer zu verbinden.
Das alles sah Paul Barloff mit kühlen Augen, ohne innerlichen
Anteil. Scharf empfand er nur das eine, daß die graue Stadt am
Meer ihre Vergangenheit abzustreifen begann und mit der Gegen-
wart um das Maß neuer Kleider feilschte; er glaubte bald zu wissen,
wo die Wurzeln der zukünftigen Kraft lagen, und nach wenigen Tagen
klärte sich ihm das Wort von den Sporen, die das neugewordene
Reich als Preis aussetzte.
Die Maulwürfe und ihre verborgenen Minengänge, die zwischen
Lider und Königsau sich kreuzten, waren ihm noch unbekannt; einem
Sohn der Heide sollte vorbehalten bleiben, ihre dunklen Wege auf-
zuschürfen.
Asmus Lund war dieser Mann, eine Diogenesnatur, ein Mensch,
der sich vom Schafhirten bis zum Oberlehrer im wahren Sinn des
Wortes durchzuhungern verstanden. Ein „Entdeckter" war Asmus
Lund, dem schon die Gelehrtenschule die Zukunft eines künftigen
Entdeckers voraussagte.
Wie es in dieser besten und törichtsten aller Welten fast immer
der Fall ist, geschah Lunds Entdeckung durch den Zufall. Ein natur-
wissenschaftlicher Lehrer der Flensburger Lateinschule durchstreifte
die Heide von Tingleff, um die Lrioa vsZavZ zu suchen — statt dessen
fand er einen Vagabunden im Ginster liegen, einen halbwilden
Jungen, der Schafe hütete und emsig im Lehrbuch Bröders für sich
lernte. Die Wundermär durchflog Flensburg; man sammelte Geld,
stiftete Freitische, und Asmus Lund, dessen Mutter täglich fünf
Groschen mit Flachsspinnen verdiente, war zwölf Monde später die
Zierde der Gelehrtenrepublik und wenige Jahre später prinnis
oruvinni. Er bezog die Universität in Berlin zur selben Zeit, als
Paul Barloff aus dem französischen Feldzug heimkehrte.
Dort wurden die beiden jungen Leute miteinander bekannt.
Ihre Charakterveranlagungen, die des Strebers und des Träumers,
waren so tief verschieden, daß sie sich anfangs naturnotwendig ab-
stießen und sich dann nur langsam näherten. Erst Bekannte, wurden
sie allmählich Freunde, und als Paul am 1. Oktober 1879 sein Richter-
amt antrat, freute er sich wirklich, daß Asmus Lund schon seit einem
Jahr als wissenschaftlicher Hilfslehrer des kleinen Gymnasiums im
Ort lebte.

Zum erstenmal begegneten sie sich dort am 18. Oktober, dem
Völkerschlachtgedenktag. Auf einem Spaziergang trafen sie zufällig
zusammen; sie wanderten nordwärts den Deich entlang, denn um
die späte Jahreszeit waren die Marschwege schon im Schlamm
versunken, aber auf dem Damm schuf der Seewind rasch einen
gangbaren Weg.
Umwölktes, unsichtiges Wetter umbraute ihre Wege; über dem -
grauen Watt, gegen Sonnenuntergang, stand eine schwefelfahle

Bank. In der Marsch sah man Bauernhöfe zwischen leeren Fennen
verstreut, am Vorland weideten in kurzem Gras vereinzelte Schaf-
herden.
Die beiden Freunde kamen 'n ihrem Gespräch auf die Bedeu-
tung des heutigen Nationaltages. In seiner melancholischen Art
sagte der junge Philologe: „Man wird ihn allmählich vergessen
und die Erinnerung Sedan an seine Stelle setzen. Was ist Sedan?"
Paul, der sich an jenem Tage sein Eisernes Kreuz geholt, ent-
gegnete etwas scharf: „Sedan? Es ist der Grundstein des neuen
Deutschen Reiches; ich verstehe nicht, daß jemand so fragen kann."
„Ich bin der letzte, mein Lieber. Auf Frankreichs Boden
warfen wir nur den Gegner nieder; bei Leipzig aber geschah mehr.
Wir säuberten damals das eigne Land vom Erbfeind. Das ist ein
Unterschied, der wohl zu bedenken ist. Darum sagte ich: Was ist
Sedan?"
„Feinde im Lande gibt es allezeit," sagte Paul, und Asmus
Lund, in Nachsinnen verloren, blieb stehen. Die Dämmerung war
heraufgestiegen und umwob mit sinkendem Schleier das weite Land;
in der Stadt begannen da und dort vereinzelte Lichter aufzublinken,
aber der flache Horizont blieb nur mit spärlichen Funken bestreut,
denn die Gegend kennt keine zusammenhängenden Dörfer, jeder
Bauer sitzt allein auf seiner breiten Hufe, nur mit seinem Hof und
sich selbst beschäftigt. Das alles betrachtete der Heidesohn und strich
sich den dunkeln Vollbart.
„Feinde im Lande, sagst du?" nahm Lund das Gespräch wieder
auf. „Du bist nur zwei Wochen hier, hast du sie schon gefunden?"
„Ja," entgegnete Barloff bestimmt. „Die Mandel Jahre seit
achtzehnhundertvierundsechzig hat den Volksstamm noch nicht fest
angegliedert, das tastet der Märker deutlicher heraus als du und
deine Stammesgenossen. Es ist wie im Reichsland, wir müssen wohl
noch einige Dutzend Verlobungsanzeigen drucken lassen, bis Preußen
und Nordschleswig in politischer Ehe leben."
Im Weitergehen schauten sie schweigend in das Watt. Der gelbe
Streifen war erloschen, und Nordstrand zündete seine Feuerbaken
an. Lund nahm das Gespräch mit einer Handbewegung nach dem
Watt wieder auf: „Das soll nun alles landfest gemacht werden:
denkst du daran, es auch zu tun?"
„Du spielst auf das Wort von den Verlobungsanzeigen an?
Mit der Zeit könnte es wohl so kommen."
„Woher?"
„Siehe die Töchter des Landes an," sagte Paul lächelnd.
Lund entgegnete: „Siehe vor allem die Väter des Landes an."
Sie waren bis zum Westerhörn gekommen, wo der Deich
winkelig abbiegt und den Sielzug durchläßt. In der vor allen
Seewinden geschützten Ecke lag ein kleiner Krug; Paul machte den
Vorschlag, dmt einzurehren.
„Es ist naßkalt," sagte er, „und Klaus Dreyer soll einen guten
Grog brauen; am Ende muß man mit den Wölfen heulen."
In der niedrigen, leeren Gaststube lag der Wirt, ein guter Vier-
ziger mit schlauem Gesicht, auf der harten Bank. Er trug blaue
Stiümpfe; ein Paar gestickte Pantoffeln standen neben der Ruhe-
bank auf der Erde. Die etwas jüngere, hübsche Frau saß strickend
am Tisch.
Klaus Dreyer begrüßte seine Gäste, ohne sich zu erheben: „Auf
daß mein Haus voll werde! Korline, einen guten ,Nördlichen' fin-
den Herrn Amtsrichter. — Wie wär's mit einem kleinen Teepunsch,
Herr Oberlehrer?"
„Sie wissen," sagte Lund, „daß mir Kaffee lieber ist."
„Natürlich — immer noch die alten Gewohnheiten vom Heide-
rücken! — Also Korline: einen Kaffeepunsch ohne das reine Wort
Gottes!"
Er belachte seinen eigenen platten Witz und fing einen Blick
Barloffs auf, d.er in das stille Haus hineinhorchte.
„Sie vermissen wohl Rundgesang und Rebensaft, Herr Amts-
richter? Das kommt bei Klaus Dreyer erst Klock neun, aber dann
dauert es auch so lang wie dem Herrn Paster. seine Sonntags-
predigt."
Barloff schüttelte den Kopf: „Daran dachte ich nicht. Aber man
hört ja die Flut hinter dem Deich — haben Sie keine Kinder, die das
unheimliche Murren weglachen?"
Der Wirt kratzte sich die Fußsohlen und schielte nach seiner Frau
hinüber: „Könnte uns passen, Korline, was? So 'n Schlüngel, der
 
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