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194

ihre Söhne wollten den Weltlauf mit Worten ändern. Das machte
wohl diese schwere Luft, die keinen Lebensmut aufkommen liesz.
Margarete Lund gab ihrem verstimmten Gast die braune Hand.
Als er seine Rechte hineinlegte, warf sie einen flüchtigen Blick darauf
und schien die Linien der Innenfläche zu betrachten. Cs währte
kaum länger als eine Sekunde; dann sagte sie: „Ich danke für die
Ehre, Herr Amtsrichter. An Ihrer Sprache höre ich, daß Sie hier-
fremd sind; Sie werden wohl nicht lange bei uns bleiben. Keiner
tut das, der hereinkommt. Ich sage darum nicht auf Wiedersehn,
aber meinen Asmus sollen Sie grüßen; er möchte sich nicht so selten
machen, läßt seine Mutter ihm sagen. Wenn Sie übers Moor gehen
wollen: es gibt da sichere und unsichere Wege, das wissen Sie wohl,
ich rate Ihnen aber doch, gehen Sie nicht übers Moor."
Paul wollte den Weg kürzen, um zeitig Heimzukommen; viel-
leicht auch ging er mit unbewußtem Trotz durchs Moor. Unterwegs
grübelte er darüber, daß Inges Vater auch der Alten als Trinker
galt; er allein konnte damit gemeint sein, denn nur von ihm konnte
Asmus mit seiner Mutter gesprochen haben. Von ihm und Inge.
Gleich einer alten Seherin redete die Alte, es fehlte nur noch,
daß sie ihm aus den Linien der Hand sein Schicksal deutete. Je länger
Paul über die wunderliche Frau grübelte, um so mehr glaubte er,
manches zu verstehen, was ihm bisher an Asmus rätselhaft erschien.
Diese Heidesrau mochte Zwischen Binsen und Ginster geboren sein
wie ihr Vater und die Großeltern vielleicht auch; irgendwann war
einer der wandernden Fremdlinge an der Scholle hängen geblieben,
und ein Tropfen seines dunklen Blutes pulste in den Adern seiner
Nachkommen.
Paul Varloff ging den gefährlichen Weg weiter. Er merkte
es wohl an dem feuchten Aufquellen der Moordecke unter seinen
Füßen, er sah es an den grünen Flächen, die rechts und links gleich
trügerischem Wiesenland lagen und in denen sein Stock versank --
es graute ihm bisweilen, aber er kehrte nicht um und fand festen
Boden erst wieder, als die Sonne tiefröt über einer schwarzblauen,
düsteren Wolkenbank brannte.
Der große Wald, der das Geestland von der Marsch scheidet,
lag vor ihm. Es waren alte Eichen, die, mit anderen Baumschlägen
vermischt, darüber hinausragten. Paul betrat aufatmend den Wald-
weg; die Luft braute schwül im Moor, zur Nacht zog sich wohl noch
ein Wetter zusammen; im Wald war es kühl.
Mitten im Dämmer des Forstes schossen ein paar Helle Körper
durchs Laub; es waren die Steppenhunde von Dürhus. Paul
dachte einen Augenblick, die Tiere könnten ohne Aufsicht jagen, dann
aber sah er abseits vom Wege Inge, die unter einem Baum saß
und mit den Hunden spielte. Sie trug ein dunkles Reitkleid; die
Gerte lag neben ihr im Moos, aber ihr Pferd war nirgends zu sehen.
Paul trat grüßend näher. „Welche Überraschung, Fräulein Nissen;
ich glaubte Sie noch in Westerland!"
Sie nickte ihm zu und reichte ihm, ohne aufzustehen, die Hand.
„In Westerland war es langweilig. Ich sah Sie kommen und wollte
Sie durch meine Hunde erschrecken."
„Ein gefährlicher Wegelagerer," sagte er scherzend.
Inge lächelte, ein leises Zucken umschattete ihre feinen Lippen.
„Gefährlich bin ich nicht, nur ein wenig hilflos. Ich habe mir den
Fuß verstaucht."
„Doch nicht schlimm?" fragte er teilnahmvoll.
„Nein, nach einer halben Stunde muß es wieder gehen. Ich
bin froh, so lange Gesellschaft zu haben."
Mit stummer Frage streiften Pauls Blicke ihr Reitkleid. Inge
erzählte: „Ich bin mit dem Pferd gestürzt; um die Wahrheit zu sagen,
ich kam aus dem Sattel. Aber niemand außer Ihnen soll es wissen
— stürzen kann der beste Reiter."
Paul setzte sich zu ihr auf eine Barunwurzel und sah sie über-
rascht an. „Wie war das möglich?"
„Sie meinen bei Theresitas Tochter? Ein dummer Zufall war's.
Ich ritt den Weg hier entlang und träumte wohl ein bißchen; die
Luft ist so schwül. Da flog eine Krähe auf, Lady scheute und ging
durch, jagte mitten zwischen die Bäume hinein. Ein Ast streifte
mich ab. Aber ich sah es kommen und löste vorher schon den Fuß
aus dem Bügel, sonst wäre ich ein Stück geschleift worden. Wyßte
ich nur, wo das Pferd hinjagte."
„Es wird nach Hause laufen und alles in Aufruhr bringen."
Wieder irrte, wie vorhin, ein düsterer Zug um Inges Mund;

diesmal aber nicht durch körperlichen Schmerz bedingt. „Glauben
Sie das nicht! Auf Dürhus erschrickt man nur, wenn im Viehstall
die Maul- und Klauenseuche ausbricht. Mein Vater ist nicht zu
Hause, wir fuhren gestern über Helgoland und Hamburg, und dort
hielten ihn Geschäfte fest."
Minuten vergingen schweigend; ganz nahe hämmerte ein Holz-
specht. Die Sonne war weg, und in den Blättern begann es leise
zu rauschen.
„Wollen wir einen Versuch machen?" fragte Paul. „Ich könnte
Hilfe holen, aber es zieht ein Gewitter herauf, und Sie sollen nicht
allein bleiben. Draußen vor dem Walde finden wir wohl Leute."
Wortlos reichte sie ihm beide Hände und ließ sich emporziehen.
Sie konnte stehen und auf seinen Arm gestützt auftreten; nach einigen
Schritten blieb Paul stehen. „So geht es nicht, Fräulein Nissen—"
Fast gereizt sagte sie: „Nennen Sie mich bei meinem Vornamen.
Das ,Nissen' klingt so — ich kann's nicht hören."
„Fräulein Ingeborg, so kann es nicht gehen, wenigstens nicht mit
zwei Fingern auf meinem Arm wie bei der Polonäse; Sie müssen
sich fester stützen."
„Wie?"
„Ich muß sie richtig umfassen, und Sie legen den Arm auf meine
Schultern. Wir sind ja ungefähr gleich groß."
Es lag ein bestimmter Klang in Pauls Stimme, dem sich das
als eigenwillig verschriene Mädchen fügte.
Nun kamen sie besser vorwärts. Bei der engen Berührung
fühlte Paul wohl, daß Inges Atem schneller ging, ihr Herz lauter
klopfte.
Endlich kamen sie aus dem Walde heraus. Das Gelände senkte
sich in die Marsch hinab und lag in dämmerndem Zwielicht; weit
und breit war kein Mensch zu sehen, nur das bunte Vieh weidete
aus den Fennen zwischen verstreut liegenden Bauernhöfen. In der
Ferne erkannte man Dürhus, ziemlich dicht neben der dunstver-
schleierten Stadt; wenn es auch nur Täuschung war—dasvomWesten
aufsteigende Gewitter schien gerade über seinem Dach zu hängen.
Der Platz, wo die beiden standen, war wohl als Aussichtspunkt
gedacht, denn man hatte dort eine Bank angebracht; Inge ließ sich
darauf nieder. Sie sagte, es sei mit ihrem Fuß viel besser, und
wünschte nicht, daß Paul vom nächsten Hofe Hilfe herbeiholte. „Was
sollen die Leute denn denken, lieber Freund, an einen Sturz glaubt
kein Mensch, und dann... ich will nicht, daß man über mich lacht."
Einen Augenblick dachte er: Es ist die Tochter der Zirkuskünst-
lerin, die um ihren Ruf als Reiterin besorgt ist. Unwillkürlich lenkte
er das Gespräch auf ihre Mutter.
„Ich soll ihr sehr ähnlich sein," bestätigte Inge unbefangen.
„Gekannt habe ich sie ja nicht." Nachdenklich sagte sie: „Ist es nicht
seltsam, daß ein Gutsbesitzer eine Reiterin vom geharkten Sand
heiratet?"
„Wir leben nicht mehr in alten Vorurteilen, Fräulein Ingeborg."
Sie sah ihn dankbar an und fuhr fort: „Nach einem Bilde, das ich
besitze, war sie schön. Sie stammte aus Wien und hieß Therese — wie
das so üblich ist, wurde im Zirkus daraus Theresita gemacht. Sahen
Sie bei Ihrem Besuch in Dürhus die Goldkette mit dem Anhänger,
die ich an diesem Tage trug? Das ist ein Schmuckstück meiner Mutter,
sie trug es als glückbringendes Amulett. An jenem Tage, wo man
sie aus dem Sielzug fischte, fand man es nicht bei ihr."
„War sie auch blond?"
„Nein," sagte Inge. „Die blonden Haarre sind das einzige, was
ich vom Vater habe ... Zuckte da nicht ein Blitz auf?"
„Ich sah nichts, ich glaube, Sie täuschten sich, FräuleinIngeborg."
„Nein, Sie haben recht, es war mir nur, als ob Dürhus —"
Plötzlich lachte sie hell auf. „Ist das nicht köstlich! Wir sitzen hier
wie Hänsel und Gretel, und da unten in der Fenne weidet meine
Lady. Jetzt werden wir sie bald haben." Sie setzte eine silberne
Pfeife an die Lippen und lockte das Tier mit dein Hellen Tone; das
kluge Pferd spitzte die Ohren und kam langsam heran — ein wenig
scheu und schuldbewußt, aber dennoch gehorsam.
Paul ging der Stute entgegen. Das Sattelzeug war in Ord-
nung, nur der Zügel schleifte zerrissen am Erdboden. Barloff sagte:
„Wenn Sie Heimreiten wollen, Fräulein Ingeborg, werde ich das
Pferd führen müssen, Sie haben es nicht in der Gewalt."
„Gut; können Sie mir hinaufhelfen?"
Er faltete die Hände fest ineinander; Inge setzte den gesunden
 
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