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242

DasBuchfürAtle

Heft 11

Gabriele kam wieder herein und fragte lachend: „Nun, Inge,
weißt du Bescheid?"
„Ja," sagte Inge, „aber es soll mein Geheimnis bleiben."
Am Neujahrsabend erhielt das Ehepaar Barloff eine förmliche
Einladung nach Dürhus zum Silvesterpunsch. Sonst hatte Andreas
Nissen auch an diesem Tage immer in der „Krone" gesessen. Inge
sah die Änderung als eine Wendung an und hatte in gewissem Sinne
recht.
Der Punsch war noch stärker als sonst, und der Deichvogt er-
schien weicher gestimmt, als man es an ihm seit Jahren gewohnt
war; gegen Mitternacht mußte Inge sogar den alten Familien-
pokal auf den Tisch bringen. Man sah ihm den feinen Sprung
kaum an.
Als die Uhr zwölf schlug, hielt Nissen eine Rede: „Ihr habt
euch bis jetzt brav gehalten, und jede Probezeit hat ein Ende. Das
neue Jahr wird für Dürhus bedeutungsvoll werden; es soll ihm
einen Erben bringen. Du, Inge, hast einen Beamten geheiratet —
nehmen Sie mir>s nicht übel, Herr Schwiegersohn, aber Richter
verstehen nun einmal nichts von der Landwirtschaft — wenn der
Junge geboren ist, mache ich ein Testament und setze meinen Enkel
zum Erben ein. Wegen dem Nießbrauchrecht werdet ihr nichts zu
klagen haben, es versteht sich von selbst, daß ich das rechtlich be-
stimme; meine Tochter soll nicht darben. Sie soll es schon jetzt nicht
mehr; von heute ab setze ich euch einen Jahreszuschuß von sechs-
tausend Mark aus. Wenn Andreas Nissen einmal trumpft, spielt
er nicht unter dem As aus. Und nun wollen wir auf den Erben von
Dürhus trinken, daß er ein firer Kerl wird, wenn er auch nicht
meinen Namen trägt."
Der Punsch war heiß, und der Riß im Pokal wurde größer;
aber der Kristall zersprang nicht.
Im Mai 1884 um die Mittagsstunde erblickte A.rel das Licht
der Marsch im hellsten Sonnenschein der ersten Frühlingstage.
Am gleichen Tag gab Andreas Nissen seinen Zechgenossen in der
„Krone" ein großes Gelage. Er erzählte allen, die es wissen wollten,
daß der Junge acht volle Pfund gewogen habe, und daß er der
rechtmäßige Erbe von Dürhus sei, auch mit seinem Willen. Er
prahlte damit, aus dem Hof ein Fideikommiß zu machen, denn es
wäre immerhin zu glauben, daß dem ersten Enkel noch Geschwister
folgen könnten; das Gut solle aber ungeteilt bleiben.
In der letzten Zeit fiel allen Tischgenossen eine befremdende
Unruhe an Andreas Nissen auf, und die Leute sagten hinter seinem
Rücken, daß jeder es wohl eine Zeitlang so treiben könnte, wie der
Alte auf Dürhus,. aber er treibe es doch zu schlimm.
Niemand konnte wissen, daß Andreas Nissen bisweilen die
Sterbekammer von Antje Rawenholt aufsuchte und dort den
Kristallpokal aus dem Futteral holte; daß er den Sprung betrachtete,
wie tief er sei, und daß seine Hände dabei zitterten.
Inge stillte den kräftigen Jungen selbst und sah gesünder aus
als je vorher; aber sie bestand darauf, daß Doktor Eckstein das Kind
ansehen solle. Paul wollte nichts davon wissen. Er meinte, es sei
genug, sich durch das augenscheinliche Gedeihen des Kindes beruhigt
zu fühlen, und die Arzte fänden immer etwas heraus, wenn sie
einmal um ihre Meinung gebeten würden, und wenn es nur ein
Muttermal sei. Inge schwieg. Als Paul eines Tages über Land
war, ließ sie den Arzt rufen.
Wenn Doktor Eckstein sonst in manche Häuser kam, gab es nicht
selten unangenehme Stunden; er wußte die verborgensten Rum-
flaschen zu finden, und es geschah mehr als einmal, daß er ihren
ganzen Inhalt ausgoß. Bei Inge trat er mit einem heitern Lächeln auf
den Lippen ein, reichte ihr die Hand, lobte ihr gutes Aussehen und
horchte einen Augenblick auf das fröhliche Schmettern des Kanarien-
vogels. Dann fragte er, warum sie sein Kommen gewünscht habe.
„Ich wollte Sie bitten, das Kind auzusehen."
„Fehlt ihm denn was?"
„Ich glaube nicht, aber Sie sollen es ansehen!" wiederholte
Inge ungeduldig. Eckstein streifte sie mit einem raschen Blick und
erklärte sich bereit.
Arel wurde in: Steckkissen gebracht; er war wach und sah mit
großen blauen Augen um sich.
„Der wird mal hübsch!" sagte Eckstein unwillkürlich; „bitte,
Frau Barloff, kleiden Sie ihn aus."
Fast beleidigt richtete sich die junge Mutter auf. „Was denken

Sie denn, Herr Doktor! Mein Kind hat gesunde, gerade Glieder,
das kann ich selbst beurteilen."
„Ja, was soll ich denn sonst an ihm sehen, gnädige Frau? Der Junge
hört wie ein Luchs, sehen Sie doch, wie er auf den Vogel horcht."
Inge seufzte. „Sonst läßt sich nichts feststellen, auch wenn Sie
das Kind untersuchen würden, Herr Doktor?"
„Nein, gnädige Frau, in diesem zarten Alter erkennen auch wir,
wenn es sich um kein organisches Leiden handelt, nur das Außere.
Alles andere, vor dem Sie zu bangen scheinen, zeigt sich erst später.
Vergessen Sie niemals: Erziehung und Beispiel sind das Entscheidende."
Er reichte Frau Inge die Hand und streifte dabei wie zufällig
den weiten Ärmel ihres Morgenkleides zurück. Sie hob den Kopf
und sah ihn an. „Sie finden keine Spuren, Herr Doktor — schon
längst nicht mehr."
„Also alles in Ordnung! Sie haben kein Morphium gebraucht,
seit Sie bei mir waren?"
„Nein!"
Als er gegangen war, begann sie. das Kind zu stillen und be-
trachtete dabei lächelnd das kleine Gesicht. „Hübsch," sagte er. „Dein
Vater ist nicht mit Schönheit gesegnet, also bist du mein. Ja, ver-
stärke Andres, den sie in Marburg erschlagen haben, soll auch ein
schöner Mann gewesen sein."
Einige Tage später traf Paul zufällig mit Doktor Eckstein zu-
sammen. Sie unterhielten sich eine Zeitlang über Land und Leute;
der Arzt fragte: „Wie kommt es eigentlich, Herr Amtsrichter, daß
Sie als Altpreuße an die Westküste gegangen sind? Der Unterschied
zwischen Ihrer Heimat und diesem Nebellande ist doch wahrhaftig
nicht gering."
Barloff lachte. „Lieber Herr Doktor, der Fall liegt für uns Juristen
anders als bei Ihnen; die erste Anstellung erlaubt uns keine Wahl."
„Aber Sie können doch fort?"
„Da wir ein Gymnasium am Ort haben, schwerlich. Sonst könnte
ich mich später auf diese Notwendigkeit meines Jungen wegen be-
rufen und um Versetzung einkommen."
„Schade," sagte Eckstein nachdenklich, „ich habe ein unbestimmtes
Gefühl, als wenn auf Ihre Gattin das Klima — besser gesagt, die
ganze Umgebung, in der wir leben, keinen guten Einfluß hätte.
Körperlich blüht sie ja allerdings wie eine Rose. Aber sie neigt etwas
zur Schwermut."
Paul gab lachend zur Antwort: „Ich glaube, Sie seheu zu viel
in kleinen Äußerungen und Stimmungen, die mir ja an meiner
Frau nicht unbekannt sind, lieber Doktor."
Ausweichend erwiderte der Arzt: „An eine Versetzung an den
Rhein ist also nicht zu denken? Dann machen Sie wenigstens eine
schöne Sommerreise, mit Ihrer Gattin."
„Meine Frau stillt."
„Hm — ja," sagte Eckstein zögernd, „das ist allerdings ein
Hindernis. So seltsam es aus dem Mund eines Arztes klingt: ich
rate Ihnen ernstlich, den ungewöhnlich kräftigen Jungen, dem die
Ernährung mit der Flasche recht gut bekommen wird, hier zu lassen
und um Ihrer Frau willen zu reisen. Den Versuch würde ich wenig-
stens machen."
Der besorgte Ton machte Paul doch nachdenklich. Zunächst
war er unwillig über den Arzt, der anscheinend das Wohlsein des
Kindes dem Vergnügen opfern wollte. Dann aber schienen ihm
Ecksteins Worte doch nicht grundlos; der Mann machte ihm nicht
den Eindruck, daß er eine solche Veränderung nur um des Ver-
gnügens willen empfahl, und schließlich kam auch er ins Grübeln.
„Mit der Muttermilch etwas einsaugen" — ist eine landläufige
Redensart des Volks, die ihren tieferen Grund, wie die meisten Sprich-
wörter, in den Erfahrungen langer Reihen von Geschlechtern hat.
Der Verdacht quälte ihn, daß der Arzt mit seinem vorsichtigen Rat
vielleicht viel mehr an das Wohl des Kindes als an die Schwermut
der Mutter gedacht haben könnte.
Paul sprach, die Worte vorsichtig wühlend, mit seiner Frau.
Obwohl er seine eigentlichen Bedenken gut verbarg, schien Inge
alles zu begreifen. Gepreßt sagte sie: „Es ist vielleicht besser so;
ich will dir nur gestehen: ich sehne mich auch wirklich fort. Die
Sorge um das Geld zu einer Reise drückt uns ja nicht."
So geschah, was viele der nächsten Bekannten Andreas Nissens
verurteilten: es wurde eine vom Tierarzt untersuchte Kuh gekauft,
und der kleine Arel erhielt die Flasche.
 
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