„Ja, gnädige Frau."
„Der Herr ist am Freitag im Büro. Vielleicht wartet er dort
auf das Telegramm."
„Das sagte ich dem Boten auch, aber er behauptet — er ist
übrigens noch draußen, gnädige Frau — das heißt, er ist schon
wieder da."
„Ich verstehe Sie nicht? Was heißt das, er ist schor: wieder da?"
„Der Bote war im Büro des Justizrates Weller. Vor: dort
kommt er jetzt wieder zurück. Der Pförtner, sagt er — vielleicht
wollen gnädige Frau ihn selbst sprechen."
„Ja, lassen Sie ihr: kommen."
Ein junger Mann trat grüßend ein und wartete.
„Was islls mit den: Telegramm?" fragte Frau Pahlzow.
„Gnädige Frau, vor einer halben Stunde brachte ich es zuerst
hierher, aber es wurde musiziert; ich gab es dem Mädchen, bekam
es jedoch zurück mit dem Bescheid, ich solle es ins Büro des Justiz-
rats Weiler bringen."
„Schön. Taten Sie das?"
„Ja. Der Pförtner dort sagte mir aber, Herr Assessor Pahlzow
wäre seit Büro¬
schluß nicht mehr
da. Er ging selbst
noch zum Justiz¬
rat hinauf. Es
war so — seit
dem Büroschluß
war der Herr
nicht mehr da."
„Das ist wohl
ein Irrtum, mein
Mann arbeitet
fast jeden Freitag
noch spät abends
im Büro."
„Alles dunkel,
sagte der Pfört¬
ner. Es wäre auch
sonst immer alles
dunkel um diese
Zeit. Ihr Mäd¬
chen hatte mir nun
vorhin schon auch
gesagt, der Herr
Assessor bliebe je¬
den Freitag bis
spät nachts auf
dem Büro. Ich
sagte dies dem
Pförtner und er lachte mich aus. So was käme im ganzen Jahr nicht
vor. Da kam ich wieder hierher. Vielleicht behalten die gnädige
Frau das Telegramm."
Hedwig überlief ein frostiges Schauern. Aber sie blieb ruhig und
gefaßt. „Gewiß behalte ich das Telegramm; hier nehmen Sie das
für Ihre Mühe."
Sie reichte dem Boten ein Geldstück.
Rosa, die, verzagt an der Tür stehend, zugehört hatte, geleitete
den Mann hinaus. Kurz darauf erschien sie wieder: „Haben gnädige
Frau einen Auftrag für mich?"
Hedwig fuhr aus ihrer Erstarrung auf: „Nein, Rosa."
„Ich dachte —"
„Was dachten Sie?"
Die Frage klang hart und unwillig. Das Mädchen schwieg
verschüchtert.
Nochmal fragte Hedwig: „Was dachten Sie, Rosa?"
„Ob ich nicht zu Herrn Forstassessor Holst gehen soll. Vielleicht
hat er den Herrn abgeholt."
In Hedwigs blasses Gesicht kehrte mit neuer Hoffnung die Farbe
zurück.
„Ja, tun Sie das! Daß ich doch daran nicht dachte. Gehen Sie
gleich!"
Das Gefühl der Erleichterung währte nur kurz. Plötzlich er-
neute sich die tiefe Unruhe; der Gedanke, daß sie einer großen Lüge
auf der Spur sei, einer Lüge, die ihr Lebensglück, den Glauben
an Albert zertrümmern müsse, preßte ihr nun das Herz zusammen.
Die Flurtür fiel hinter Rosa ins Schloß.
Hedwig erschrak, sie faltete die Hände im Schoße und horchte
in nagender, schmerzlicher Ungewißheit befangen auf jeden Laut.
Die Einsamkeit und das Bangen vor der nächsten Stunde erfüllte
ihre Seele mit tiefer Bitternis.
Nach einer Weile stummer innerer Kämpfe fiel ihr gequälter
Blick auf das Telegramm. Was es wohl enthielt? Ob sie ein Recht
besaß, ob es vielleicht notwendig war, und ein Versäumis, wenn
sie es nicht öffnete? Vielleicht mußte sie es öffnen, um zu wissen,
ob sie die Forschung nach dem Empfänger rascher zu betreiben
habe.
Der Gedanke machte ihr Mut. Sie faltete das schlecht verschlossene
Blatt auseinander und las: „Dobaols, sauvs qui peut. Duval."
Was sollte das heißen: „Zusammenbruch, rette sich, wer kann."
Und dies meldete ein Herr Duval aus Paris. Wer mochte das sein?
Duval — der Name war häufig in Frankreich. Sie konnte sich
nicht erinnern, ihn je von Albert gehört zu haben. Es konnte eine
Person sein, die
an einem Rechts-
streitbeteiligt war;
aber auch dann
noch klangen die
Worte beunruhi-
gend genug. Al-
bert würde Auf-
regung, Arbeit,
vielleicht auch viel
Arger haben.
Einen Augen-
blickbetäubte dies
Mitgefühl ihren
eigenen schweren
Kummer, und sie
empfand die Vor-
stellung versöhn-
lich, daß Holst
sicher den Freund
besucht und wohl
gar, in Erwartung
wichtiger Entschei-
dungen, ihn aufs
Telegraphenamt
begleitet hätte.
Dann fielen ihr
die Worte des
Boten ein, daß
ihn der Pförtner ausgelacht habe, es sei im ganzen Jahr nie der Fall
gewesen, daß um diese Zeit noch Licht im Hause gewesen wäre.
Es war also doch eine Lüge, daß Albert am Freitag in der Nacht
arbeitete. Sie sprang auf, ging ans Fenster und preßte die häm-
mernde Stirn an das kalte Glas. Jetzt erst bedauerte sie, nicht selbst
zu Holsts gegangen zu sein.
Sie kehrte zum Tisch zurück und nahm das Telegramm nochmals
zur Hand, als müsse sie irgendwo noch ein aufschlußbietendes Zeichen
finden. Wieder las sie den kurzen Satz: „Debaols, sauve qui psut.
Duval."
Die Flurtür ging. Hedwig mußte sich zwingen, um nicht dem
Mädchen aufgeregt entgegenzustürmen. Innerlich fiebernd, hielt
sie sich äußerlich ruhig. Sie wartete in: Stuhl, bis Rosa eintrat.
Als das Mädchen hereinkam, fragte sie so gleichgültig wie möglich
und erschrak beinahe vor den: kalten, fremden Ton ihrer eigenen
Stimme: „Nun, was bringen Sie?"
„Ich traf nur Auguste an. Die Herrschaften sind im Theater."
„Vielleicht haben sie dazu den Herrn abgeholt."
Das klang wieder so kühl und gleichmütig, trotzdem sie keinen
Augenblick an diesen letzten Versuch willigen Selbstbetruges glaubte.
Agues würde uicht zugegeben haben, daß Albert allein sie begleite,
sie hätte darauf bestanden, Hedwig abzuholen, und wenn man dar-
über den ersten Akt versäumen sollte.
Und doch glomm gleich darauf ein schwaches Hoffnungsfünkchen
p!>oi. N. Grohö," Berlin?
XXI. 1917.