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DasBuchfÜLAlle
Heft 26
immer kein Frühstück befohlen hatte; leise schlich er durch den breiten,
teppichbelegten Gang, um den Schlafenden nicht zu wecken, und
deckte den Erkertisch. Eben, als er von neuem überlegte, ob er
wagen dürfe, zu klopfen, schrillte ein Klingelzeichen. Als er aufs
Schaltbrett sah, war es der Haustürkontakt. Er öffnete die Tür und
erkannte den schmalbrüstigen, hageren Herrn im Pelzmantel von
gestern wieder. Diesmal kam er mit zwei uniformierten Beamten.
Der Herr trat auch jetzt wieder ohne weiteres ein, als sei er hier seit
langem zu Hause, und warf seinen breitkrempigen Hut nachlässig auf
den Tisch vor dem Spiegel. Dann, als sehe er ihn erst jetzt, wandte
er sich dem Diener zu und befahl kurz und bestimmt: „Die gesamte
Dienerschaft hat das Haus innerhalb zweier Stunden zu räumen."
Als der Lakai stammelnd, völlig fassungslos einen Einwand
wagte, wurde ihm das Wort kurz abgeschnitten und erklärt, er solle
massige Freitreppe nachdenklich hinauf, so, als wiederhole er noch ein-
mal eine auswendig gelernte Rede. Zum erstenmal ließ er sich bei dem
neuen Gouverneur melden. Als er eintreten wollte, ging Iwan
Michaelewitsch an ihm vorbei, ohne zu grüßen. Das machte ihn
unsicher; er fühlte wieder das flüchtige Angstgefühl in der Kehle
aufsteigen, das ihn schon einmal vor diesem Menschen beschlichen.
Aber gleich darauf, als er vor dem neuen Polizeigouverneur stand,
schalt er sich in Gedanken einen ängstlichen Narren, denn der neue
Machthaber benahm sich zuvorkommend liebenswürdig.
Sascha Karaminoff begann mit größter Vorsicht, immer einen
Seitenweg offenlassend, auf den er schlimmstenfalls mit harmlosem
Gesicht einbiegen und alles auf ein Mißverständnis schieben konnte,
den ihm im näheren Umgang noch fremden Mann daraufhin zu über-
prüfen, ob er willensschwach, demnach leicht bestimmbar sei. Er
Nach einem Gemälde von Ludwig putz. Einbruch in die Batterie,
mit allen übrigen Bediensteten in aller Eile die notwendigsten
Sachen packen und das Haus verlassen. Er wandte sich gehorsam
ab und ging nach seiner Stube. Als er die Türe aufschloß, hörte er
im Kommandoton rufen: „Siegel auf alle Türen und Schubladen.
Ihr steht mir dafür, daß nichts angetastet wird und kein Unberufener
das Haus betritt."
Um fünf Uhr wurden alle Diener des Hauses auf die Straße
gedrängt, die beiden Polizisten stellten achtlos das halbvoll gepackte
Gepäck der Leute aufs Pflaster. Der lange Hagere drehte zweimal
den Portalschlüssel im Schloß um und steckte ihn in seine Mantel-
tasche. Als er auf den am Straßenrand wartenden Kraftwagen
zuschritt, nahm sich der alte Haushofmeister ein Herz, trat an ihn
heran und fragte unterwürfig, ob dero Gnaden ihm nicht sagen
wolle, was all dies zu bedeuten habe.
Der dürre Herr zog den Wagenschlag hinter sich zu und sagte
höhnisch: „Das hat zu bedeuten, daß ihr euch eine andere Herrschaft
suchen müßt, die ihr bestehlen könnt."
Der Führer hielt mit einem kurzen Hebeldruck vor dem Haupt-
eingang des Justizgebäudes, und Sascha Karaminoff stieg die breite,
warf irgendeinen zweideutigen Satz hin gleich einem schillernden
Köder, ließ eine kunstvolle Pause vergehen und wartete gespannt
auf das kleinste Zeichen der Abwehr oder schweigenden Zustimmung.
Bald kühner geworden, redete er mit leise eindringlicher Stimme
weiter; als er zum Ende kam, hatte er alles gesagt oder nichts. Der
Gouverneur blieb minutenlang in verlorenem Schweigen sitzen, so,
als seien seine Gedanken lange ganz wo anders gewesen, als habe er
vergessen, zuzuhören. Der Spion hätte viel darum gegeben, wenn
er dem neuen Vorgesetzten ins Gesicht und vor allem in die Augen
hätte sehen können, aber der Gouverneur hielt den Kopf in die Hand
gestützt, und der grüne Reflex des Lampenschirms lag schattend
über seiner Stirn.
Endlich schien er zum Entschluß gekommen zu sein und wandte
sich voll seinem Besucher zu. Er sah den kleinen Unterbeamten
scheinbar prüfend und mit einem leisen Hauch von Wohlwollen an.
Er fühlte sich im ersten Augenblick angezogen durch diese grauenhafte
Verwegenheit und empfand leise Dankbarkeit dafür, daß dieser Kerl
mit einem meisterhaft fertiggeschmiedeten Plan zu ihm kam, dessen
Gelingen ihn mit einemmal von allen drückenden Schwierigkeiten zu
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immer kein Frühstück befohlen hatte; leise schlich er durch den breiten,
teppichbelegten Gang, um den Schlafenden nicht zu wecken, und
deckte den Erkertisch. Eben, als er von neuem überlegte, ob er
wagen dürfe, zu klopfen, schrillte ein Klingelzeichen. Als er aufs
Schaltbrett sah, war es der Haustürkontakt. Er öffnete die Tür und
erkannte den schmalbrüstigen, hageren Herrn im Pelzmantel von
gestern wieder. Diesmal kam er mit zwei uniformierten Beamten.
Der Herr trat auch jetzt wieder ohne weiteres ein, als sei er hier seit
langem zu Hause, und warf seinen breitkrempigen Hut nachlässig auf
den Tisch vor dem Spiegel. Dann, als sehe er ihn erst jetzt, wandte
er sich dem Diener zu und befahl kurz und bestimmt: „Die gesamte
Dienerschaft hat das Haus innerhalb zweier Stunden zu räumen."
Als der Lakai stammelnd, völlig fassungslos einen Einwand
wagte, wurde ihm das Wort kurz abgeschnitten und erklärt, er solle
massige Freitreppe nachdenklich hinauf, so, als wiederhole er noch ein-
mal eine auswendig gelernte Rede. Zum erstenmal ließ er sich bei dem
neuen Gouverneur melden. Als er eintreten wollte, ging Iwan
Michaelewitsch an ihm vorbei, ohne zu grüßen. Das machte ihn
unsicher; er fühlte wieder das flüchtige Angstgefühl in der Kehle
aufsteigen, das ihn schon einmal vor diesem Menschen beschlichen.
Aber gleich darauf, als er vor dem neuen Polizeigouverneur stand,
schalt er sich in Gedanken einen ängstlichen Narren, denn der neue
Machthaber benahm sich zuvorkommend liebenswürdig.
Sascha Karaminoff begann mit größter Vorsicht, immer einen
Seitenweg offenlassend, auf den er schlimmstenfalls mit harmlosem
Gesicht einbiegen und alles auf ein Mißverständnis schieben konnte,
den ihm im näheren Umgang noch fremden Mann daraufhin zu über-
prüfen, ob er willensschwach, demnach leicht bestimmbar sei. Er
Nach einem Gemälde von Ludwig putz. Einbruch in die Batterie,
mit allen übrigen Bediensteten in aller Eile die notwendigsten
Sachen packen und das Haus verlassen. Er wandte sich gehorsam
ab und ging nach seiner Stube. Als er die Türe aufschloß, hörte er
im Kommandoton rufen: „Siegel auf alle Türen und Schubladen.
Ihr steht mir dafür, daß nichts angetastet wird und kein Unberufener
das Haus betritt."
Um fünf Uhr wurden alle Diener des Hauses auf die Straße
gedrängt, die beiden Polizisten stellten achtlos das halbvoll gepackte
Gepäck der Leute aufs Pflaster. Der lange Hagere drehte zweimal
den Portalschlüssel im Schloß um und steckte ihn in seine Mantel-
tasche. Als er auf den am Straßenrand wartenden Kraftwagen
zuschritt, nahm sich der alte Haushofmeister ein Herz, trat an ihn
heran und fragte unterwürfig, ob dero Gnaden ihm nicht sagen
wolle, was all dies zu bedeuten habe.
Der dürre Herr zog den Wagenschlag hinter sich zu und sagte
höhnisch: „Das hat zu bedeuten, daß ihr euch eine andere Herrschaft
suchen müßt, die ihr bestehlen könnt."
Der Führer hielt mit einem kurzen Hebeldruck vor dem Haupt-
eingang des Justizgebäudes, und Sascha Karaminoff stieg die breite,
warf irgendeinen zweideutigen Satz hin gleich einem schillernden
Köder, ließ eine kunstvolle Pause vergehen und wartete gespannt
auf das kleinste Zeichen der Abwehr oder schweigenden Zustimmung.
Bald kühner geworden, redete er mit leise eindringlicher Stimme
weiter; als er zum Ende kam, hatte er alles gesagt oder nichts. Der
Gouverneur blieb minutenlang in verlorenem Schweigen sitzen, so,
als seien seine Gedanken lange ganz wo anders gewesen, als habe er
vergessen, zuzuhören. Der Spion hätte viel darum gegeben, wenn
er dem neuen Vorgesetzten ins Gesicht und vor allem in die Augen
hätte sehen können, aber der Gouverneur hielt den Kopf in die Hand
gestützt, und der grüne Reflex des Lampenschirms lag schattend
über seiner Stirn.
Endlich schien er zum Entschluß gekommen zu sein und wandte
sich voll seinem Besucher zu. Er sah den kleinen Unterbeamten
scheinbar prüfend und mit einem leisen Hauch von Wohlwollen an.
Er fühlte sich im ersten Augenblick angezogen durch diese grauenhafte
Verwegenheit und empfand leise Dankbarkeit dafür, daß dieser Kerl
mit einem meisterhaft fertiggeschmiedeten Plan zu ihm kam, dessen
Gelingen ihn mit einemmal von allen drückenden Schwierigkeiten zu