Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
626

DasBuchfüvAlle

Heft 27

Ohne auf die Leute zu achten, ging Spalding, von Dimitri ge-
folgt, zwischen den Reihen durch nach der nächsten Abteilung. Dies
war der Raum der Frauen, und in ihm wurden zierliche, kleine Lurus-
gegenstände erzeugt: handbemalte Lampions, auf dünnen Bambus-
gestellen schwebend, große, durchscheinende Zierfächer, Puppen, Por-
zellan, Flechtarbeiten und erhabene Stickereien.
„All das ist Tand," sagte Spalding wegwerfend, „aber es bringt
Geld, viel Geld. Hier sehen Sie die beste Goldgrube."
Er betrat mit Dimitri eine riesige, glasüberdachte Halle. Hier
lagerten große Ballen Rohseide, zum überseeischen Versand ver-
schnürt; bis zur Decke aufgestapelt türmten sich eingefärbte sattrote
und taubenblaue Stoffe.
Ein Gong läutete die Mittagstunde.
Frauen brachten das Mahl in handgroßen Schalen, hie und da
glommen die haselnußgroßen Pfeifenköpfe auf; leises Geplauder lief
durch die Reihen. Die starken Leute, die einen langen Vormittag
härtester Muskelarbeit hinter sich hatten, begnügten sich mit einer
Handvoll Reis. Trübe Gedanken stiegen in Dimitri auf, er dachte
an Rußland und das Leiden und die Not der Menschen, die er durch
eine rasche Tat glücklicher zu machen hoffte. Was würde sich in der
Heimat geändert haben? Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Spal-
ding sah gleichmütig über die Köpfe der Arbeiter weg und sagte: „Sie
werden wohl nicht im Gasthof wohnen können, es ist zu teuer für
uns. Man muß sich mit einem der elenden papierbeklebten Grillen-
kästen begnügen. Wir Angestellte des Hauses haben hier unsere eigene
Küche; wir wollen essen. Dann werde ich Ihnen behilflich sein, eine
Wohnung zu suchen, wenn Sie es wünschen."
Am Nachmittag suchte er mit Spalding nach einem Obdach, das
sie auch bald fanden. Als sich der Engländer von ihm verabschiedete,
rief er ihm im Gehen zu: „Kommen Sie abends ins Kasino, wir
werden Ihnen sagen, wie Sie sich gegen diese gelben Teufel zu
stellen haben, um nicht unter Wasser zu kommen!"
Dimitri sah sich seufzend um in dem fremdartigen, luftigen Raum,
in dem er nun wohl auf Jahre hinaus würde Hausen müssen. Er
begann aus seinem Koffer die wenigen Dinge auszupacken, an die
sich heimatliche Erinnerungen knüpften; fremd und verloren genug
nahmen sie sich in der neuen Umgebung aus. Der goldbronzene
Buddha, der in einem zierlich geschmückten Lackschrein in der Ecke
stand, sah ihm mit rätselhaftem Lächeln zu.
Als Dimitri am späten Abend den Gesellschaftsraum betrat, ließ
Spalding seinen Whisky für einen Augenblick stehen und machte
den neuen Angestellten des Hauses Asband L Sons, den Russen
Wladimir Babajew, mit den Anwesenden bekannt. Die meisten
Namen, die Dimitri hörte, waren englisch, nur ein,paar Deutsche
und Franzosen und zwei polnische Juden fielen ihm besonders auf.
Der chinesische Diener kam und empfahl nach einem raschen Blick
auf Dimitri Wodka und Tee.
Im angrenzenden Zimmer wurde, wie es schien, um hohe Ein-
sätze gespielt; man sah es an den auffallend erhitzten Gesichtern
einzelner Spieler. Als Dimitri einige Worte darüber verlor, zuckte
Spalding die Achseln und sagte gleichmütig: „Die Leute spielen aus
demselben Grund, aus dem ich mich betrinke. Sie werden das noch
verstehen lernen, wenn Sie länger hier sind. Unser Chef ist Opium-
raucher, und ich trinke Schnaps, wie Sie sehen. Zu einem oder dem
anderen werden auch Sie sich'bekehren müssen, ob Sie sich auch sträuben
oder nicht. Es fängt ganz langsam an, zuerst mit der Sehnsucht
nach allem Vertrauten, nach den Lauten, die unsere unbeholfene
Kinderzunge zuerst formte; es geht nicht rasch, aber es kommt un-
weigerlich ! Wenn ich bedenke, was ruft mich nach England zurück?
Nichts, gar nichts. Da ist niemand, der sich um mich kümmerte, es
ist völlig gleichgültig, wo ich zugrunde gehe; in England wäre ich
ein armer Tropf, der verhungern müßte, hier habe ich die Taschen
voll Geld, und trotzdem ...! Ich will nicht mehr darüber sagen. Ich
war in Indien, vor langen Jahren; auch dort verdiente ich Geld,
aber es war genau dieselbe Geschichte. Damals ließ ich mich zu
den Truppen anwerben, nur um darüber Herr zu werden. Mit
Patrouillen kam ich ins Landesinnerste, wchin zuvor kaum ein Euro-
päer den Fuß gesetzt hatte; umlauert von Eingeborenen, war ich
keine Minute meines Lebens sicher. Nichts schützte mich vor der
inneren Verdumpfung; das Elend blieb in mir. So quälte ich
mich durch fünf ewigkeitslange Jahre; so lange war ich verpflichtet
zu dienen. Es gibt nichts Grauenvolleres als die Gewißheit, die

Heimat nie wiedersehen zu dürfen," endete er leise und sah in sein
Glas.
„Ich glaube es," sagte Dimitri Okinschewitsch fröstelnd und richtete
sich auf: „Noch einen Wodka, Steward!"
Er war entschlossen, sich diesen Abend zu betrinken.

Dimitri blieb in den nächsten Tagen am Abend zu Hause und
versuchte zu lesen; er fand keinen Sinn in den Worten. Dann lief
er auf die Straße und trieb sich in den offenen Verkaufsläden der
kleinen Handwerker herum; er kaufte bei dem einen billige Vasen
und dort eine Schnitzerei, und all dies nur, um eine Stunde lang
neben dem verkaufslustigen Händler auf der Matte niederzukauern,
eine Tasse bitteren Tee zu trinken und nicht mit sich allein zu sein.
Erst nach einer Woche kam er wieder in den Klub. Der fran-
zösische Korrespondent schlug eine Fahrt ins Teehausviertel vor.
Dimitri ließ sich bestimmen, mitzugehen und forderte auch Spalding
dazu auf. Der hob kurz den Blick von seinem Glas und sah Dimitri
an; stumpfe Traurigkeit lag wie ein Schleier über seinen glanzlosen
Pupillen. Die Jinrikishakulis bekamen Sake zu trinken; sie sollten
in Stimmung kommen, sagte der Franzose, und der kleine Zug setzte
sich gröhlend in Bewegung. Uber den Franzosen ward während
der Fahrt allmählich die Trunkenheit Herr; er klagte unausgesetzt
mit weinerlicher Stimme: „Aber wir fahren ja falsch, sagen Sie den
Leuten doch, daß wir falsch fahren! Ich will zum Montmartre!"
Er schlug mit dem Silbergriff seines Spazierstocks wiederholt auf
den nackten Rücken seines Läufers, aber niemand hörte auf ihn.
Da erwachte in Dimitri der Ekel; er sah zur Seite, um nicht wütend
loszuschelten. Vor dem durchaus hellerleuchteten, einzigen Hotel,
an dem sie in rascher Fahrt vorbeiglitten, stand eine Dame. Ein
wehender Schleier, um den Samthut geknotet, umflatterte die schlanke
Gestalt; sie stand leicht vorgebeugt, als ob sie auf jemanden warte.
Dimitri fühlte erzitternd, wie seine Hände eiskalt wurden; er biß
sich die Lippen blutig, um nicht aufzuschreien: Wera! Jäh überfiel
ihn die Erinnerung an das geliebte Mädchen. Die Dame wandte
den Kopf zur Seite; ein flüchtiger, leerer Blick streifte ihn, es war
ein fremdes, alltägliches Gesicht, irgendeine gleichgültige englische
Lady. Als fürchte er, seinen Verstand zu verlieren, strich Dimitri
sich mit zitternden Fingern die feuchten Haare aus der Stirn, lachte
kurz auf und gab dem Läufer Weisung, umzukehren und vor dem
Klub zu halten.
„Ist es so weit?" fragte Spalding leise, als Dimitri verstört eintrat.
Da warf er den Kopf auf die Arme und stöhnte auf: „Ja! Es
ist unerträglich, es ist furchtbar!"

Allmählich lernte Dimitri Okinschewitsch seinen Kummer ertragen;
er versah seinen Dienst und gewöhnte sich, wenn auch immer wieder
schmerzlich betroffen, an die Menschen seiner Umgebung. Was ihm
am wehesten tat, war das Ausbleiben jeder Nachricht aus Rußland;
was er aus den Zeitungen erfuhr, gab ihm kein Bild der verzweifelten
Zustände, in denen die Menschen seiner Heimat leben mußten.
Spalding trank mehr denn je; manchmal schon am frühen Morgen;
das Weiß seiner Augen überzog sich mit einem Netz roter Äderchen.
Einmal ging er zum Stapelplatz, breitspurig, wie die Matrosen bei
unruhiger See gehen; die Lippen preßte er wider einander, daß an
der Stelle des Mundes nur noch ein schmaler Schatten erschien.
Als Dimitri ihm begegnete, deutete Spalding mit dem Reitstock auf
die Träger: „Sechen Sie, wie die Bestien lächeln?" Dimitri nickte,
er kannte dies Undurchdringliche der Gesichter; sie lächelten alle-
Es schien, als kennten diese Gesichter keinen anderen Ausdruck.
Spalding schlug mit der Gerte klatschend gegen die hohen Stulpen
seiner gelben Gamaschen und schloß die Augen wie im Schmerz:
-„Wie sie glücklich sind, diese Menschen! Ich hasse sie."
Barsch, mit völlig veränderter Stimme rief er: „Vorwärts! In
einer Stunde muß aufgeladen sein! Ich brauche euch im Lager!"
Einer der Arbeiter warf seine Last hin und sagte laut: „Das ist
unmöglich!"
Spalding zog die Brauen zusammen, die Schläfenadern über-
füllten sich mit Blut; wie der Aufschrei eines Erlösten klang es, als
er offenen Widerstand erlebte: „Da, du Hund!" Einmal, zweimal
sauste die Gerte durch die Luft und klatschte auf den gebeugten Rücken.
Da verschwand das Lächeln auf den Gesichtern mit einem Male.
Der kleine Kuli, der Spalding kaum bis zum Gürtel reichte, schnellte
 
Annotationen