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650

DasDuchfüvAlls

SM 28

vorgezogen, aber Wera liebte den kültestarren Winter, und er tröstete
sich mit der Aussicht auf die für das kommende Frühjahr geplante
Agyptenreise.
Im Frühstückszimmer des Hotels sahen trotz der frühen Stunde
nur noch ein paar ältliche, strickende Damen, die nach den Lorgnons
griffen, um die Neuangekommenen zu mustern; die übrigen Gäste
tummelten sich längst tätig oder als Zuschauer auf den Sportplätzen.
Wanjka Kondereff hielt einen der Kellner an, der eine kunstvoll
aufgebaute Pyramide aus Tassen und Tellern hinaustrug, und hörte,
daß um zehn Uhr der Eishockeykampf zwischen Engländern und
Amerikanern zum Austrag käme. Kondereff entschloß sich, das Wett-
spiel anzusehen.
Das Treffen war bereits voll im Gange; der spiegelglatt gefrorene
See war dicht umstanden von einem Kranz Schaulustiger. Aller
Länder Sprachen schwirrten durcheinander. Die vernickelten Schlitt-
schuhe der Spielenden blitzten auf wie das kurze Entladen elektrischer
Funken. Pfeilschnell vorwärtsgetrieben, flogen die Scheiben über
oas spröde, glänzende Eis; entschieden war die englische Mannschaft
im Zusammenspiel überlegen; darüber bestand bald kein Zweifel mehr.
Auf gegnerischer Seite hielt ein einziger Mann das Gleichgewicht;
er schien überall gegenwärtig zu sein. Jedesmal, wenn die Lage
kritisch ward und die Zuschauer erregt aufstanden von den niederen
Klappstühlen und die hüllenden Kamelhaardecken achtlos in den
Schnee gleiten ließen, stieß er in das Gedränge, ein Sprühregen
von glitzernden Eiskristallen stob auf, und er wand sich lächelnd her-
aus, schlug eine Finte und riß vorgebeugt und beschwingt die
Kämpfer, deren Farbe er vertrat, zu neuem Angriff fort.
Nach anderthalb Stunden wurde der Kampf, zum zweitenmal
in der Saison, abgebrochen, ohne zur Entscheidung gelangt zu sein.
Den Spielern stieg der Atem in kurzen, zitternden Stößen aus Mund
und Nase; es sah aus wie Rauch in der kaltklaren Luft. Sie nahmen
einen Schluck Milch und lagerten sich in zwei Gruppen auf den Liege-
stühlen, wie Pakete in Decken gehüllt. Andere standen umher und
unterhielten sich erregt über das bisherige Ergebnis.
Dann wurde die Bahn von neuem abgesteckt, die Hauptfläche
der Allgemeinheit freigegeben und nur ein mehrere Meter breiter,
rings herumlaufender Ring denen Vorbehalten, die sich für die dem-
nächst auszutragende Schnelligkeitskonkurrenz einübten.
In den letzten Dezembertagen kamen noch weitere Kämpfe zum
Austrag. Das eiste Zusammentreffen verlief ordnungsgemäß; den
Ehrenbecher im Schnellauf errang ein Holländer. Der darauffolgende
Geländeschilauf brachte den fremden Gästen eine leise Demütigung;
der Sieger, ein Schweizer Soldat, der eigens Urlaub bekommen
und die halbe Nacht durch im Zug gesessen war, ließ alle übrigen
Teilnehmer in weitem Abstand hinter sich. Er ging als erster durchs
Ziel, steckte sich eine Zigarre an und zog mit dem Preis ebenso sang-
und klanglos davon, wie er gekommen war.
Die größte Überraschung brachte der dritte Tag, an dem im
Sk'ckjöring trotz schlechtem Start eine russische Dame ihr Pferd als
erstrs durchs Ziel zwang. Auf vielen Hoteltischen prangten darauf
zur Dinerstunde kleine Seidenfähnchen in den Farben des Zarenreichs.
Die Bobbahn war schon seit mehreren Nächten berieselt worden;
man hoffte auf strengen Frost, denn es blieb nicht mehr viel Zeit
vor der Neujahrsfeier. Und dann brachte ein Ertrazug ganz St. Moritz
an den Start. Der erste Schlitten schoß wie ein Torpedo seine Bahn
und bog in einer Lawine von Schneestaub um die Kurve; die Starter
sahen auf die Stoppuhren und warteten auf das elektrische Klingel-
zeichen, das die Ankunft meldete. Schwerfällig erst, wie Robben,
die von einer Eisscholle ins Wasser gleiten, dann in immer heftiger
gesteigerter Fahrt raste einer der Sechssitzer nach dem anderen tal-
wärts. Einmal schrillte das Telephon: der siebente Bob war ver-
unglückt, lag mit zersplittertem Steuer hinter der gefürchteten Kurve;
zwei der Beteiligten waren schwer verletzt.
Der große Tag war vorbei, und man drängte sich um die offenen
Kamine in den Hoteldielen, sah in die hitzesingende Glut der harzigen
Föhrenklötze. Überall roch es nach frisch gebrochenem Tannenreis und
nach Gebäck; als es zu dunkeln begann, strahlten ein letztes Mal die
kleinen Lichtblumen der halb niedergebrannten Kerzen des Weih-
nachtsbaums auf, der auf einem Tisch in der Ecke stand. Die bauchigen
Bowlengläser wurden ein letztes Mal gefüllt, schon knallten die
silbernen Pfropfen der Champagnerflaschen, denn die Zeiger rückten
der Mitternachtsstunde näher. Fünf Minuten vor zwölf stand man

auf, warf die Mäntel über und trat mit weinheißen Gesichtern hin-
aus unter den wolkenjagenden Himmel. Die Uhr der Dorsiirche
holte als echte aus zu den zwölf bedeutungsvollen Schlägen, aber
sie ward überschrien von dem vielstimmigen „Prosit Neujahr!", das
von allen Seiten her in die Nacht hinausgrüßte. Schlanke Sekt-
gläser klangen leise aneinander; ein Feuer flammte auf: eine über-
lebensgroße Strohpuppe wurde verbrannt, und mit ihr starb sinn-
bildlich das Jahr 1913.
Wanjka Kondereff warf sein Glas gegen den dunklen Stamm
einer Fichte, Scherben splitterten, fielen nieder und versanken lautlos
im tiefen Schnee. Wanjka hob seine Frau ganz hoch, nur um ihre
süße Last in seinen Armen zu spüren, und sagte noch einmal ganz
allein zu ihr und mit einer innigen Betonung: „Gutes im neuen
Leben."
Eine Woche später fuhren sie, sich nur die notwendigsten Unter-
brechungen gönnend, durch Italien, von dem ihnen angesichts der
Jahreszeit kaum eine andere Erinnerung blieb als die an verschlafene
Kellnergesichter und verstaubte, vorhanglose Zimmer. In Kairo
angekommen, hatten sie den Winter um ein paar Monate betrogen,
denn hier war es schon Frühling.
Arabische Händler priesen ihre gefälschten Waren an; Eseljungen
belagerten die Hotelausgänge. Sonnendurchglüht und die Augen
ermüdet von den vielen grellen Farben, schliefen sie die erste Nacht
unter den wogenden Musselinschleiern der Moskitonetze.
Dann unternahmen sie Kamelritte nach den Pyramiden von
Gizeh; sie sahen sie flimmernd in den sengenden Sonnenstrahlen
und blieben, bis sich der Abend senkte und der Mond sein weißes,
fahles Silber über ihre getürmten Quadern goß.
Viele Tage folgten, an denen sie auf strohgeflochtenen Liege-
stühlen auf dem Balkon ruhten und auf die Schreie der Frucht-
verkäufer lauschten oder den arabischen Kindern zusahen, die sich um
eine zugeworfene Kupfermünze balgten.
Manchmal jagten sie in wilder Fahrt in einem der leichten Wagen,
von ausdauernden, kleinen Pferden gezogen, stundenlang dahin.
Auf einer Nilfahrt machten sie die Bekanntschaft eines Attaches
der russischen Gesandtschaft. Der kleine Vergnügungsdampfer war
auf einer Untiefe festgelaufen, und Matrosen und Eingeborene
machten verzweifelte Anstrengungen, ihn wieder flott zu bekommen.
Kondereff schien verstimmt, als es endlich soweit war und man
wieder an Bord ging, aber als man in Assuan ausbarkiert ward,
machte er dem Attache eine sehr tiefe Verbeugung und sagte, indem
er ihm die Hand gab: „So ungelegen mir das kommt, ich bin Ihnen
jedenfalls sehr verbunden."
Der Attacke nickte formell und erwiderte leise: „Ich weiß es
gewiß, die diesmaligen Manöver sind eine Scheinaktion, sie bedeuten
die Mobilisierung."

Nun war Wanjka Kondereff mit Wera und Sonja in Peters-
burg. Erst als die „Nowoje Wremja" mit unverhohlener Offenheit
die Nachricht brachte, daß aus dem serbischen Mord am österreichischen
Thronfolger auch der Krieg zwischen Deutschland und dem Russen-
reich herangereift sei, ging in Wera ein unklares Verständnis auf
für den wahren Grund ihrer damaligen Heimreise, die so sehr Hals
über Kopf erfolgt war.
In unabsehbaren Kolonnen wurden aus allen Landesteilen die
noch verfügbaren Truppen zusammengezogen und in langen Zügen
an die Grenze geworfen. Sie lehnte sich aus dem Fenster und sah
den Männern nach, die mit Gesang vorüberzogen, und fühlte, daß
niemand so wie sie Schmerz empfand um die Scheidenden; denn
man muß lange der Heimat fern gewesen sein, um alles, was sie
umschließt, mehr als sich selbst zu lieben.
Einer der Diener trat herein, entschuldigte sich und bat um letzte
Weisungen. Sie verstand ihn nicht gleich, sie mußte mit ihren Ge-
danken erst zurückfinden und sich an das Unglaubliche gewöhnen,
sie solle heute abend zum erstenmal vor der Petersburger Gesellschaft
erscheinen. In ihrem eigenen Haus gab sie ein Fest zu weiter keinem
anderen Zweck, als um daraufhin geprüft zu werden, ob Wanjka
Kondereffs Wahl zu billigen oder zu verwerfen sei. Sie erschrak
darüber, als sie empfand, daß sie kein Recht besaß, sich darüber zu
empören, denn diese Gesellschaft, die Feste feiern konnte, während das
Volk in seiner Gesamtheit um sein Bestehen rang, war jetzt die ihrige.
Sie hatte das Recht verscherzt, sich rein zu fühlen von dieser Schuld.
 
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