Heft 28
DasBuchfüvAlle
661
des Freundes; er sah quer über die Straße hin, nach einem Fenster
eines alten Hauses. Es lag still und auf den ersten Blick ganz im
Dunkel in der schmalen Straße. Aber der geschnitzten Eingangstür
hielten zwei aus Stein gemeißelte Putten ein Wappenschild; unter
den Fenstern des ersten Stockes lief als einzige Zier der glatten
Mauerfläche ein schmaler Fries, dessen Formen verwischt im Dämmer-
lagen. Wenn man genau hinübersah, fand sich, daß nicht alle Fenster
im ersten Stock dun¬
kel waren; aus den
beiden letzten der
Reihe schimmerte
ein schwacher Schein
hinter denGardinen.
Nach diesen beiden
Fenstern sah der
Doktor unausgesetzt,
ohne den Blick da¬
von zu wenden. Von
einem Kirchturm in
der Nähe schlug die
Glocke; langsam ver¬
loren sich die leise
verebbendenKlänge
in der stillen Som¬
merabendruhe. Der
Doktor horchte ihnen
nach; leise, wie zu
sich selbst, sagte er:
„Halb zehn." Der
Professor nickte.
Drüben wurde
in dem einzigen er¬
leuchteten Zimmer
der Vorhang zurück¬
gezogen; das Licht
fiel wärmer in die
dunkle Straße. Dann
wurde das Fenster-
Weit geöffnet, und
man konnte deutlich
einen kleinen Tisch
sehen, auf dem eine
Schüssel stand, indie
jemand ein weißes
Tuch eintauchte. Der
Arzt erhob sich und
preßte die Stirn an
die Fensterscheibe;
ohne sich umzuwen¬
den, sagte er: „Sie
legen ihr soeben kalte
Kompressen auf die
Stirn." Nach einer
Weile fragte er:
„Hast du sie nicht
gekannt, Helmri ch?
Nein? Hast du sie
nie hier bei mir ge¬
sehen? Sie saß so
gerne in meinem
blauen Renaissance¬
sessel, den sie so
liebte, vielleicht weil sie wußte, wie wundervoll ihr Gesicht mit dem
dunklen Haar sich von dem tiefen Blau abhob. Du sahst sie auch nie
aus dem Haus treten in einem ihrer weißen Sommerkleidchen und
zu mir heraufgrüßen? Du sahst sie wirklich nie?"
Der Professor verneinte.
„So laß dir wenigstens erzählen von ihr. Als sie noch klein war,
ein schmales, zwölfjähriges Dingelchen, küßte sie einmal eine Rose
in meinem Garten. Ich kam dazu und erschrak vor dem Ausdruck
ihres kleinen Gesichts. Nie sah ich an einem Kind so tiefe Innigkeit:
sie stand auf den Zehen, den ganzen Körper, Hände und Kopf zu
der Blume emporgehoben und hielt die Augen geschlossen. — Ich
sah sie groß werden; ihre Seele, ihr Gemüt wurde immer empfind-
samer und zarter. Sie war fast Tag für Tag in meinem Hause,
und alles, was ich besitze, jedes kleinste Ding hat sie mit ihren
Fingerchen neugierig betastet oder um seiner Schönheit willen ge-
streichelt. Bei ihren Kinderkrankheiten war ich drüben und saß an
ihrem Bett, dort in dem Zimmer, das jetzt erleuchtet ist. Sie war-
me ernstlich krank,
nicht einmal sonder-
lich zart, obwohl sie
fast zerbrechlich aus-
sah. Als Arzt hatte
ich nie Sorge um sie;
ich dachte immer, sie
ist wie ein dünnes
Weidengertchen, das
wohl jeder Windzug
biegen, aber so leicht
nicht brechen kann.
Wie sie dann groß
wurde, erblühte und
erwachte, das war
das Schönste, was
ich alter Kerl je er-
lebthabe. Sie reifte
langsam und war im
Innersten mit zwan-
zig Jahren noch fast
ein Kind geblieben.
Dann kam vor drei
Jahren im Sommer
gegen End e Juni ein
Tag, an dem ich von
drüben zu einem
Gartenfest eingela-
denwurde. Damals
dachte ich: nun wird
sie sich freuen, die
Kleine, denn ein
Gartenfest hatte sie
sich ja schon lange
gewünscht. Am sel-
ben Vormittag noch
kam sie selber zu mir
herüber, in fröhlicher
Erwartung bis un-
ter die Spitzen ihrer
feinen Fingerchen
hinein. ,Du kommst
doch, Onkel Doktor,
gelt? Im Schrank
deiner seligen Frau
Großmama hast du
noch einen blauen
Frack mit Goldknöp-
fen, den mußt du
herunterholen, denn
es soll ein Fest von
Anno dazumal ge-
ben, weißt du! Ich
habe mir ein weißes
Kleidchen mit flieder-
farbener Seide bestickt, zu den Puffärmelchen konnte ich alte Spitzen
verwenden. Dazu will ich den Amethystschmuck von Tante Grete
tragen. Es wird ein schönes Fest werden, und alles soll sein, wie
ich es will, hat Papa gesagt?
Ich suchte den blauen Frack hervor, dazu ein großes Spitzenjabot
und den hohen Zylinder und ging am Abend zum Gartenfest hinüber,
erwartungsvoller als ein Primaner zum ersten Tanzstundenball.
An diesem Abend traf sie zum erstenmal einen jungen Mann.
Ich sah sie zusammen durch den Garten gehen und wußte gleich,
daß sie füreinander bestimmt waren. Sie ahnten vielleicht selbst
Phot. Dufa.
Leim Bau einer Pontonbrücke über den Dnjesir bei Czernowitz.
von
DasBuchfüvAlle
661
des Freundes; er sah quer über die Straße hin, nach einem Fenster
eines alten Hauses. Es lag still und auf den ersten Blick ganz im
Dunkel in der schmalen Straße. Aber der geschnitzten Eingangstür
hielten zwei aus Stein gemeißelte Putten ein Wappenschild; unter
den Fenstern des ersten Stockes lief als einzige Zier der glatten
Mauerfläche ein schmaler Fries, dessen Formen verwischt im Dämmer-
lagen. Wenn man genau hinübersah, fand sich, daß nicht alle Fenster
im ersten Stock dun¬
kel waren; aus den
beiden letzten der
Reihe schimmerte
ein schwacher Schein
hinter denGardinen.
Nach diesen beiden
Fenstern sah der
Doktor unausgesetzt,
ohne den Blick da¬
von zu wenden. Von
einem Kirchturm in
der Nähe schlug die
Glocke; langsam ver¬
loren sich die leise
verebbendenKlänge
in der stillen Som¬
merabendruhe. Der
Doktor horchte ihnen
nach; leise, wie zu
sich selbst, sagte er:
„Halb zehn." Der
Professor nickte.
Drüben wurde
in dem einzigen er¬
leuchteten Zimmer
der Vorhang zurück¬
gezogen; das Licht
fiel wärmer in die
dunkle Straße. Dann
wurde das Fenster-
Weit geöffnet, und
man konnte deutlich
einen kleinen Tisch
sehen, auf dem eine
Schüssel stand, indie
jemand ein weißes
Tuch eintauchte. Der
Arzt erhob sich und
preßte die Stirn an
die Fensterscheibe;
ohne sich umzuwen¬
den, sagte er: „Sie
legen ihr soeben kalte
Kompressen auf die
Stirn." Nach einer
Weile fragte er:
„Hast du sie nicht
gekannt, Helmri ch?
Nein? Hast du sie
nie hier bei mir ge¬
sehen? Sie saß so
gerne in meinem
blauen Renaissance¬
sessel, den sie so
liebte, vielleicht weil sie wußte, wie wundervoll ihr Gesicht mit dem
dunklen Haar sich von dem tiefen Blau abhob. Du sahst sie auch nie
aus dem Haus treten in einem ihrer weißen Sommerkleidchen und
zu mir heraufgrüßen? Du sahst sie wirklich nie?"
Der Professor verneinte.
„So laß dir wenigstens erzählen von ihr. Als sie noch klein war,
ein schmales, zwölfjähriges Dingelchen, küßte sie einmal eine Rose
in meinem Garten. Ich kam dazu und erschrak vor dem Ausdruck
ihres kleinen Gesichts. Nie sah ich an einem Kind so tiefe Innigkeit:
sie stand auf den Zehen, den ganzen Körper, Hände und Kopf zu
der Blume emporgehoben und hielt die Augen geschlossen. — Ich
sah sie groß werden; ihre Seele, ihr Gemüt wurde immer empfind-
samer und zarter. Sie war fast Tag für Tag in meinem Hause,
und alles, was ich besitze, jedes kleinste Ding hat sie mit ihren
Fingerchen neugierig betastet oder um seiner Schönheit willen ge-
streichelt. Bei ihren Kinderkrankheiten war ich drüben und saß an
ihrem Bett, dort in dem Zimmer, das jetzt erleuchtet ist. Sie war-
me ernstlich krank,
nicht einmal sonder-
lich zart, obwohl sie
fast zerbrechlich aus-
sah. Als Arzt hatte
ich nie Sorge um sie;
ich dachte immer, sie
ist wie ein dünnes
Weidengertchen, das
wohl jeder Windzug
biegen, aber so leicht
nicht brechen kann.
Wie sie dann groß
wurde, erblühte und
erwachte, das war
das Schönste, was
ich alter Kerl je er-
lebthabe. Sie reifte
langsam und war im
Innersten mit zwan-
zig Jahren noch fast
ein Kind geblieben.
Dann kam vor drei
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gegen End e Juni ein
Tag, an dem ich von
drüben zu einem
Gartenfest eingela-
denwurde. Damals
dachte ich: nun wird
sie sich freuen, die
Kleine, denn ein
Gartenfest hatte sie
sich ja schon lange
gewünscht. Am sel-
ben Vormittag noch
kam sie selber zu mir
herüber, in fröhlicher
Erwartung bis un-
ter die Spitzen ihrer
feinen Fingerchen
hinein. ,Du kommst
doch, Onkel Doktor,
gelt? Im Schrank
deiner seligen Frau
Großmama hast du
noch einen blauen
Frack mit Goldknöp-
fen, den mußt du
herunterholen, denn
es soll ein Fest von
Anno dazumal ge-
ben, weißt du! Ich
habe mir ein weißes
Kleidchen mit flieder-
farbener Seide bestickt, zu den Puffärmelchen konnte ich alte Spitzen
verwenden. Dazu will ich den Amethystschmuck von Tante Grete
tragen. Es wird ein schönes Fest werden, und alles soll sein, wie
ich es will, hat Papa gesagt?
Ich suchte den blauen Frack hervor, dazu ein großes Spitzenjabot
und den hohen Zylinder und ging am Abend zum Gartenfest hinüber,
erwartungsvoller als ein Primaner zum ersten Tanzstundenball.
An diesem Abend traf sie zum erstenmal einen jungen Mann.
Ich sah sie zusammen durch den Garten gehen und wußte gleich,
daß sie füreinander bestimmt waren. Sie ahnten vielleicht selbst
Phot. Dufa.
Leim Bau einer Pontonbrücke über den Dnjesir bei Czernowitz.
von