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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Maser, Siegfried: Zur Entwicklung des Spiegels und der Spiegel-Metapher von der ägyptischen Antike bis zur virtuellen Realität
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0123

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beginnt zu „denken", d.h. Informationen
zu verarbeiten.

Soweit (und vereinfacht !) die sog. naive
Abbildtheorie, die höchstens die sinnlichen
Abbilder (also Empfindungen, Wahrnehmun-
gen und Vorstellungen) erkiären kann, nicht
aber die rationalen Abbilder, also Begrif-
fe, Urteile, Schlußfolgerungen oder Theori-
en. Die Erweiterung der Abbildtheorie auf
solche rationalen Abbilder ist das Verdienst
von Baruch SPINOZA (1632 - 1677). Der Spie-
gel wird zum Weltsymbol: Er sammelt das
Viele (die Vielzahl der konkreten Dinge) in
Einem (in einem Spiegelbild). Der Spiegel
wird Metapher für Totalität und Symbol für
Wissensdrang, und so wie der Spiegel alles
in sich aufnimmt, so nimmt der erkennende
Mensch die Welt in sich auf, der Spiegel wird
zum Modell, zum Schema, zum Paradigma
für menschliches Erkennen schlechthin.
Sachsenspiegel, Fürstenspiegel, Narrenspie-
gel, Eulenspiegel und unsere heutigen Welt-
spiegel und „Der Spiegel" (Bild 16) knüpfen
daran an.

Eine wesentliche Weiterentwicklung erfuhr
die naive Abbildtheorie durch die englischen
und französischen Empiristen im 17. und 18.
Jahrhundert: Thomas Hobbes, John Locke
und Denis Diderot.

Thomas HOBBES (1588 - 1679) erklärt die
Wahrnehmung als Abbildung der materi-
ellen Gegenstände im Bewußtsein. Auf der
Grundlage von Aristoteles, Descartes und
Mersenne (Comprendre c'est fabriquer I)
unterscheidet er an den Gegenständen ne-
ben den primären Qualitäten (Größe, Zahl,
Gestalt, Lage, Bewegung und Ordnung - vgl.
Spiegel !) sekundäre Qualitäten (Licht, Far-
be, Wärme, Töne, Schwere, Geruch, Ge-
schmack): Erstere liefern Empfindungen,
letztere Phantasmen, die aus der Einwir-
kung der Gegenstände auf unsere Sinnesor-
gane entstehen.

John LOCKE (1632 -1704) interessiert sich vor
allem für die Leistungsfähigkeit, den Ur-
sprung, die Gewißheit und den Umfang der
menschlichen Erkenntnis als Grundlage für
die menschliche Lebensgestaltung. Nach
seiner Auffassung ist die menschliche Seele
zunächst ein weißes, unbeschriebenes Blatt,

einetabula rasa. Darauf werden dann ein-
zelne Erkenntnisse „aufgeschrieben", sei es
durch äußere, sinnliche Erfahrung (sen-
sation: sinnliche Wahrnehmung: Sehen,
Hören, Fühlen, ...) oder durch innere, ratio-
nale Erfahrung (reflexion: rationale Wahr-
nehmung: Denken, Zweifeln, Glauben,
Erkennen). Aus beiden Quellen entstehen
Ideen. Unsere reflektive Tätigkeit besitzt
dabei insbesondere die folgenden Vermö-
gen: Das Vermögen, sich Ideen vorzustellen
(perception), Ideen zu behalten (zu spei-
chern), das Vermögen, sich an Ideen zu erin-
nern, Ideen zu unterscheiden, zu vergleichen,
Ideen zusammenzusetzen, Ideen zu benen-
nen, zu bezeichnen und das Vermögen zu
abstrahieren. Durch die Annahme der Exi-
stenz solcher aktiver Eigentätigkeit des
Geistes geht J. Locke wesentlich über die
einseitigen / unilateralen Vorstellungen der
Empiristen bzw. Sensualisten hinaus ( vgl.
Schema 2). Die Spiegel-Metapher als einsei-
tige Abbildung wird fragwürdig: Menschli-
che Wahrnehmung wird als bilaterales,
interaktives System gedacht.

Denis DIDEROT (1713 - 1784) entwickelt
schließlich (im Rahmen seines Enzyklopädie-
Projektes) eine klare und konsequente Struk-
tur des Wahrnehmungsprozesses (vgl.
Schema 3): Die materiellen Gegenstände
existieren außerhalb des menschlichen Be-
wußtseins. Sie wirken durch ihre Eindrücke
auf unsere Sinne und produzieren Empfin-
dungen. Diese Empfindungen werden als
Wahrnehmungen im menschlichen Gehirn
bewußt und schließlich von demselben in
Ideen verwandelt, die wiederum auf die
Gegenstände bezogen werden, welche sie
hervorgerufen haben. Es besteht ein orga-
nischer Zusammenhang zwischen Empfin-
dungen, Wahrnehmung und Denken.

Mit der Transzendentalphilosophie von
Imanuel KANT (1724 - 1804) wird die Er-
kenntnistheorie (nicht mehr die Ontologie
!) zentrales Thema der Philosophie über-
haupt (vgl. Schema 4). In seiner Kritik der
reinen Vernunft (1781, Logik), in seiner Kri-
tik der praktischen Vernunft (1788, Ethik) und
in seiner Kritik der Urteilskraft (1790, Ästhe-
tik) werden die unterschiedlichen menschli-
chen Erkenntnisvermögen gründlich
analysiert und in ihre jeweilige strikte, logi-
sche Form gebracht: A priori und a posteriori,

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