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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1915)
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Avenarius, Ferdinand: Deutscher Wille
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0020

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Liberalen als rninderwertig ihrer Äberzeugungen wegen, galten den Sozial-
demokraten die ^Iunker^ ihrer Äberzeugung wegen, galten noch bis zum
Kriegsbeginn den Bürgerlichen zur Rechten die „Roten" ihrer Äberzeugung
wegen als minderwertig. Nicht nur als intellektuell, auch als moralisch min-
derwertig, als minder achtbar bis zur gesellschaftlichen Achtung hin. Sie gal»
ten nicht allen einzelnen in den Parteien dafür, aber den Mehrheiten und
Massen, und: man duldete, daß man demgemaß in den Zeitungen sprach.
Wer sich dessen nicht mehr erinnern kann, vergegenwärtige sich einen ein-
zigen Wahlkampf. Uns deucht, der deutsche Wille sollte fortan mit un»
erbittlicher Entschlossenheit nicht nur jede Berketzerung, nein, jede moralische
Minderbewertung wegen abweichender Äberzeugungen als einen vater-
landsfeindlichen Mt verwerfen, unbedingt verwerfen, auch bei Ge»
sinnungsgenossen. Das einzige an aufrichtigen Gedanken, was man von
der Gemeinschaft der Volksgenossen ausschließen sollte, müßte der Geist
sein, der verketzert.

^a das Verstehen anders bedingten Denkens die Vorbedingung zur
^Duldsamkeit gegen fremdes Denken, zur Verträglichkeit, zur Bündnis-
fähigkeit ist, so sollte der deutsche Wille, scheint uns, mit ganz anderer Ent-
schlossenheit als bisher auf solches Verstehen dringen. Bisher war wenig
davon zu merken, wenig zum mindesten von einem Bemühen, das Verständ-
nis für fremde Richtungen des Denkens, Glaubens, Wollens, wenn es
den Führern vielleicht beschert war, denen weiter zu vermitteln, die man
^elber führte. Unsre öffentlichen Erörterungen waren öffentliche Streite.
Und zwar waren sie Prozesse, in denen sich der Beteiligte viel seltener als
ein befragter Gutachter um eine strittige Frage fühlte^ denn als der
plädierende Anwalt einer Partei. Wo erschienen bei uns Aufsätze, wo
hielt man Reden, wo tat man irgend etwas, um dem Volk unparteiisch
begreiflich zu machen: aus diesen Bedingungen heraus hat sich hier diese
Äberzeugung entwickelt, unter jenen andern Bedingungen jene andre?
Welche Zeitungsaufsätze klären den verantwortlichen Reichstagswähler auch
über die feindlichen Parteien aus ihren eigenen Worten und Taten auf,
ohne zü färben? Und doch wäre ein solches Aufklären die erste Vorbe-
dingung dazu, daß man die geistige Lage im Vaterland überhaupt
richtig erkennte. Sie wird jedem nur von einer Seite gezeigt.

G

^er Kampf würde, mit dem Willen auf innerliches Verstehn geführt, viel-
^leicht nicht weniger scharf, aber er würde sauberer und dadurch klarer
und sachlicher werden. Die Gegensätze zwischen den Interessen wie zwischen
den Weltanschauungen würden bleiben, aber das Drängen auf ein Ver-
stehenlernen des Gegners statt auf seine Entwertung um jeden Preis würde
auch den Verschleierungen entgegenwirken. Interessen sind Kräfte,
keiner kann ihnen das Recht bestreiten, für sich zu kämpfen, wo sie's unter
eigner Fahne tun, aber sie kämpfen tausendfach unter falscher, unter vater-
ländischer, oder unter der Fahne irgendwelcher andern Idee. Das System
der Verschleierungen in unserm öffentlichen Leben ahnt in seiner unge-
beuerlichen Größe von hundert Zeitungslesern bei uns noch nicht einer.
 
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