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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1915)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Eine Hauptgefahr für unser Kunstgewerbe
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Landsberg, ...: Fürsorgeerziehung und Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0282

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Soll es soweit kommen?

Ich nahm dieser Tage ein Werk zur Hand, das die Anfange der deutschen
kunstgewerblichen Umwalzung behandelte. Lauter fröhlicher Glaube, wenig
Erfahrung, viel Mut, ein religiöser Ernst über ckllem, junge lebendige Ge-
danken über Versöhnung von Kunst und Leben, Entdeckerfreude, Arbehagen
gewaltigen Schaffenstriebes, weitausblickende Plane. Das alles kann nicht
von den hemmenden Mächten in fünfzehn Iahren aufgezehrt sein. Von
den Mächten, die wohl ausgleichen, aber nicht vernichten sollen.

Ls ist Zeit, daß die Gegenkräfte auftreten.

Man spricht jetzt hie und da von der Mobilmachung des Geistes. tzier
läge für seine Führer und Soldaten eine Aufgabe. Was durch die histori-
zistische Erschlaffung im Kunstgewerbe — denn eine Erschlaffung ist es,
eine selbstbetrügerische Bequemlichkeit — bedroht wird, ist ja nicht in erster
Linie die Industrie, mag sie auch dem „Deutschen Stil^ Unschätzbares ver-
danken. Sie würde sich anpassen, das ist ihr Recht und sogar ihre Pflicht.
Bedroht seid ihr, Künstler, denn die beseelte Bachahmung, mit der ihr euch
heute ergötzt, muß sehr bald zum seelenlosen Kopieren entarten. Bedroht
ist auch Deutschlands Einfluß auf dem Weltmarkte des Geschmacks. Bedroht
ist auch der deutsche Name. Für die Erneuerung der kunstgewerblichen und
baulichen Formen ist heute nicht viel weniger als die E h r e des Deuts ch-
tums verpfändet. Führen wir sie nicht durch, so muß das Vertrauen in
die Kraft unserer schöpferischen Arbeit dauernden Schaden leiden. ^

Wilhelm Michel

Fürsorgeerziehung und Kunst

/^v^er hatte, armer Knabe, deines Schicksals Buch also geschrieben?
^V v^Wer bestimmte dir Leben und Werdegang scheinbar so deutlich
"^^^lesbar voraus? Und doch lasest du salsch, o Deuter solcher Ge«
schicke!

Sein Vater lag wieder betrunken auf dem zerlumpten Bett. Seine
Mutter war mit johlenden Fremden davongezogen. Blaß und hungrig
kniete der sechsjährige Iakob de Veen an dem niedrigen Fenster, durch
welches man eben bemerkte, wie der Zeiger der Kirchenuhr die zehnte
Stunde des jungen Tages verließ. Das Fenster war halb geöffnet, ebenso
das zierliche Mündchen des hübschen Knaben, der still und verzückt lauschte.
Weit und sehnsüchtig starrten seine Augen hinunter auf die doch so öde
Straße, und nichts in seinem Ausdruck paßte zu dem, was ihn in diesem
Gemache umgab. Was war es wohl, was den kleinen Iakob in diesen
Augenblicken hinausbrachte über tzunger und Not, über Furcht und Ver-
lassenheit? Es war ein Lied, es war Musik. Anten sang die blinde Tochter
des tzausherrn, wie jeden Morgen, am Klavier. tzeute sang sie: „Erwach^
erwach, o Menschenkind, daß dich der Lenz nicht schlafend find!" Iakob
de Veen ahnte in seinem Kinderherzen, daß hinter diesen Mnen eine
herrliche Welt stecken müsse, ein Traumland der Sehnsucht, daß es weit
dahinten Mächte und Fähigkeiten geben müsse, stärker als tzunger und
Not, stärker auch als das Schicksal. Eine Weile noch hielt der Traum,
als das Lied verklungen war; in sich gesunken wartete der Knabe. Dann
drehte er sich nach dem Vater um und sein Gesicht nahm dabei einen
erschreckend unkindlichen Ausdruck an. Rasch schlich er sich in die NLHe
des Schlafenden und schob leise die tzand in dessen Rocktasche. Ein Weilchen

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