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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,4.1918

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1918)
DOI Artikel:
Spranger, Eduard: Das Problem des Aufstieges, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14374#0109

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gebenden Geisteswclt lebendig verknüpfen* Knrz: der ganze Mensch, nicht
Bruchstücke seiner Seelenelemente, muß aufgefaßt werden. Alles echte geistige
Verstehen richtet sich auf die individuelle Totalität. Es baut
Brücken von Mensch zu Mensch, von Stand zu Stand, von Lebensalter zu
Lebensalter, von Epoche zu Epoche, und begründet so erst die Gemeinsamkeit der
geistigen Welt, die uns trägt und die wir tragen. Die Intelligenzprüfungen und
psychographischen Aufnahmcn, wie sie heute geübt werden, kann ich höchstens
als eine wertvolle Vorarbeit für dieses individuelle Verstehen betrachten. So-
lange sich unsre Psychologie nicht auf das Ganze der Verwebung von Seele
und Umwelt richtet, reicht sie au die Fragen des Lebens nicht heran. Wer
aber für die geprägte Form, die lcbend sich entwickelt, ein Äuge gewonnen
hat, der besiht im Verstehen zugleich eine Kraft des Emporhebens. Und nur
solche Menschen sind berechtigt, dem Werdenden wirklich zn raten, weil nur
sie aus dem Ganzen seincr Natur heraus zu urteilen fähig sind.

So schließt sich als zweites an das Verstehen die Beratung. Die Or-
ganisation unserer Berufsberatung ist noch in den Anfängen. Für alle ihre
Zweige gilt gleichmäßig, daß sie nicht von der Psychologie.allein getragen
werden kann. Nur der psychologisch weitblickende Fachmann, der überdies noch
ein Lebenskenner sein muß, kann die ganze Fülle von Faktsren übersehen, die
bei einer Berufswahl in Rücksicht gezogen werden müssen. Für diese Auf-
gabe muß sich erst cine Tradition bilden. Die wichtigsten Fragcpunktc müssen
gesammelt werden. Und doch muß übcr dem Schema zuletzt der lebendige
Mensch stehen: der Berater, dem die Sache nicht zum Handwerk werden darf,
nnd der Beratene, in dem das eigne Verantwortungsgefühl als das Wich-
tigste bei jeder Lebensentscheidung geweckt werden muß. Ls wäre unendlich zu
beklagen, wenn unsre Berufsberater sich allein als Fragekasten oder als Aus-
kunftstellen, nicht als Erzieher in höherem Sinne ansehen wollten.

Das dritte ist neben dem ersten und zweiten fast äußerlich. And doch ist
es praktisch vor allem wichtig: Will man der heutigen falschen Auslese ent-
gegenwirken, so muß man dafür sorgeu, daß nicht der Besitz allein über den
Bildungsweg entschcidet. Für aussichtsreiche junge Menschen aller Berusszweige
müssen Mittel bcreitgestcllt werden, die ihnen nicht nur den Besuch gceigneter
Schulen, Fach- und Hochschulen gestatten, sondern ihnen auch die Verpflichtung
zu allzu frühem Erwerb abnehmen, damit sie, frei vou dem äußcren Kampf
des Lebens, ausreifen können. Ls ist gewiß etwas Richtiges daran, daß der
finanzielle Druck zu vermehrten Lcistungen anspornt. Aber das Ringen mit
der Sorge um das tägliche Brot ist ein so ungeistiger Kainpf, daß aus ihm
alleiu nichts Ideales geboren werden kann. Was übrig bleibt: die Wider-
stände iu der eigncu Natur, die qualvolle Problematik der Iugend als solcher,
das Ringen mit dcr sachlichen Aufgabe, enthält des Stähleuden genug. Auch
werdcn dic Beihilfen, die für die Ausbildung gewährt werden können, nicht
gerade znr Appigkeit der Lebensführung uud damit zu früher Erschlaffung
führen. Als Trägcr dieser finanzielleu Leistungen denke ich mir den Staat,
die Gemeinde und die Berufsgruppen selbst. Denn dieser Förderung junger
Talente muß der Eharakter einer privaten Angelegenheit genommen werden.
Die Verantwortung muß vou Gebeuden und Empfangenden als eine allge-
meine empfundcn werden; soll doch der einzelne zu einem Wert für die Volks-
gemeinschaft, nicht zum bloßcn Selbstgenuß emporgebildet werden.

Aus diesem Grunde kann auf das Mittel der Prüfungen nicht ver-
zichtet werdcn. Und an Prüfungen werden sich naturgemäß immer Berechti -
gungen knüpfen. Aber das System unsrer Berechtigungen muß daraufhin
untersucht werden — und das ist die vierte Forderung —, ob es wirklich ganz
nach dem inneren Wcsen dcr einzelnen Bildungsgänge und der Berufsanforde-
rungen gestaltet ist. Alles, was nur Rest einer älteren gesellschaftlichen Ab-

* Vgl. meine Schrift „Lcbensformen". Festschrift für Alois Riehl, Halle

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