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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,4.1918

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Heft 22 (2. Augustheft 1918)
DOI Artikel:
Hartwig, Ernst: Ein politisch Lied - ein leidig Lied
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https://doi.org/10.11588/diglit.14374#0135

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Erneste SeUliere ist überhaupt ein höchst bezeichnender Kopf. Wie er in seinem
Buch über Goethe und Frau von Stein dieses Liebesverhältnis politisch deutet,
das ist gewiß „undeutsch", aber weder ganz falsch noch gar uninteressant.

Im Zusammenhang solcher Betrachtung lohnt sich ein Blick auf den soge-
nannten „deutschen Freiheitbegriff". Hat man einmal gesagt, der Deutsche
erstrebe die Freiheit vom Staat, während der Westlichs die Freiheit i m Staat
wolle, so läßt sich dies anders so ausdrücken: hier das Ideal der nnbehinderten
Entfaltung nach innen, dort das der wirksamen Entfaltung nach außen,
oder noch kürzcr: Persönlichkeitwille gegen Machtwillen. So erklären sich auch
die Versuche, die „deutsche" Freiheit als eine im Range höher stehende Art
der Freiheit zu erweisen, als die der Westler ist. Da geht man ungefähr so vor:
Freiheit heißt für den Deutschen vor allem „innere" Freiheit, Unabhängigkeit
von falschen Vorstellungen, von törichter Aberlieferung, von nichtiger Aberein-
künftlichkeit, von Herdenzwängen und Schlagworten. Der Deutsche tut seine
Pflicht darum so bewunderungwürdig, weil er sich aus „freier" Äberlegung
heraus für das entscheidet, was von außen her von ihm gefordert wird. Solche
Behauptungen erscheinen dem zu stark, der nicht einsieht, aus welchem Natur-
gesetz eigentlich die Abereinstimmung zwischen den Erkenntnissen der Machtlosen
und den Anforderungen der Mächtigen hervorgehen soll. And noch mißtrauischer
muß sie aufnehmen, wer den Wert der Persönlichkeit nach ihrem Machtwillen
bemißt und darum in der „freiwilligen" Pflichterfüllung einfach Unterwerfung,
in der Theorie von einer besonderen deutschen Art von Freiheit eine Art Selbst--
schutz-Erklärung für angeborenes Untertanenverhalten erblickt. Aber wir brauchen
uns auf diese Beurteilung um so weniger einzulassen, als wir das wert mäßige
Vergleichen solcher Ideen von vornherein nicht für ertragreich halten. Weitaus
fruchtbarer schiene es uns, den Freiheitbegriff der „höheren Stufe" zu suchen,
in dem sich die verschiedenen Freiheitbegriffe der niederen verschmelzen; er
wäre wohl auffindbar, nachdem das Leben selbst ihn längst anschaulich dar-
gestellt hat, z. B. in Schillers Persönlichkeit.

Uns diene indessen die oben angeführte Zergliederung eines „deutschen Frei-
heitbegriffes", um noch tiefer in das politische Verhalten des Deutschen ein-
zudringen. Ihr Kennzeichen ist ein sehr großes Vertrauen auf die Einsicht,
auf den Intellekt. Freiheit stellt sich darin dar als das Ergebnis eines
weit ausgreifenden Nachdenkens, eines Nachdenkens über Sitte, Aberliefe-
rung, Abereinkunft, Bürgerpflicht usw. Die Stimme des Gefühls, der
Drang der Natur wird nicht so recht zur Erörterung zugelassen. Und
die instinktübende Erfahrung eigentlich auch nicht. Dies Verhalten bezeichnet
das politische Wesen des Deutschen in ziemlichem Umfang. Ihm verdankt
Deutschland einen Teil seiner großen Erfolge, die Erfolge auf allen Gebieten,
wo shstematisches, unermüdliches Nachdenken und gründliches Durchdenken der
Sache Erfolge erzielen kann. Ihm verdankt es aber auch jene zahllosen un°
fruchtbaren, mit der Hartnäckigkeit und Heftigkeit des „Doktrinarismus" gleich-
sam im luftleeren Raum, nicht um sachliche Machtangelegenheiten, sondern
um Recht- Und Theoriefragen geführten Parteikämpfe — diese „leidigsten
Lieder" im Konzert des öffentlichen Lebens. Eine Bemerkung, die nicht im
Gegensatz steht zu der Beobachtung, daß „unzureichende Begründungen" das
politische Gespräch so oft unerfreulich gestalten. Doktrinäre Ansichten sind sub-
jektive Meinungen, welche sich den Anschein geben, tief begründet zu sein,
während sie nur dialektisch herausgezogen sind aus einer ursprünglichen und
unreflektierten „Weltanschauung"; sie entstammen nicht dem Einblick in das
politische Getriebe, sondern dem dialektischen Meinungstreit; sie bilden in
gewissem Sinne stets Kennzeichen der Unreife. Doktrinäre Begründungen sind
nahezu immer unzureichend, und die fruchtbaren Systeme von Gründen und
Folgerungen stammen in der Politik nicht aus dem Bereich der Theorien,
sondern aus dem der anschaulichen Sachkenntnis. Gerade dann richtet sich der
Wille, den Gegner zu überzeugen, vielfach so falsch ein, gerade dann bleibt er
so oft fruchtlos, gerade dann greift er so oft zu aufreizenden und ärgerlichen
 
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