zelne und Gruppen (Ausschüsse, Kör-
perschaften) befragen. Und dabei wird
er die entscheidende, überraschende Er-
fahrung machen, daß solche Auskunft
sehr oft schlechterdings nicht zu haben
ist. Zuallererst, weil die Beteiligten
keine Zeit oder nicht den Willcn haben,
Auskünfte zu geben. Dann weil sie
sich über die selbsterlebte Vergangen-
heit täuschen, weil die Erinnerung sie
trügt — wozu die Ereignisse bekanntlich
gar uicht stets um Iahrzehnte zurück-
liegen müssen; Monate, Wochen ge-
nügen. So kommen von gleich Be-
teiligten ganz auseinanderlaufende
Mitteilungen zustande, auch ohne daß
der gute Glaube bezweifelt werden kann.
Endlich und vielleicht wichtigstens: weil
die wirkenden Menschen die „Ursachen"
ihres eigenen Tuns sehr oft nicht ken-
nen. Noch sehr „einfach" ist da etwa
dieser Fall: wir suchen Auskunft über
eine Zwiesprache zwischen A und B.
B ist verstorben. A berichtet nun nach
seiner Auffassung; aber vielleicht hat
B ihn in der Zwiesprache so nach einer
Richtung beeinflußt, daß dies sehr wirk-
sam würde, ohne daß A es merkte,
so daß A sich für dcn Urheber einer
Angelegenheit hält, deren „wahrer" Ar-
heber B war. B braucht dann nicht
einmal verstorben zu sein, es genügt,
wenn er nicht will, daß man seine
Urheberschaft kenne — um Mit- und
Nachwelt für immer zu täuschen. Es
gibt sehr vicle Menschen vom Thpus
„B"! Und sehr viele, sehr tüchtige vom
Typus »A". Häufig ist auch der Fall,
daß wirkende Mcnschen nicht imstande
sind, sich über ihr Tun wie man sagt:
Rechcnschaft abzulegen. Sie tun „ein-
fach", tun Fnstinktmäßig", tun „blind-
lings" ihr Werk, oft ein großes, welt-
geschichtliches Werk; und auf ein
Warum haben sie nur ganz offensicht-
lich ungcnügende Antworten. Bcbels
Lebenscrinncrungen sind voll von Ba-
nalitäten — und doch war Bebel cin
Löwe an Wirksamkeit und alles andre
als banal. Wieder Andre geben wasser-
fallähnliche Auskünfte und erklären
„sich" in endlosen Redeströmen — so
Richard Wagner; und, an ihrcm „wirk-
lichen" Tun gemessen, sind ihre Aus-
künfte schief, ungenügend, ja objcktiv
salsch. Dann scheint es, als ob sie
ihr „Wahrstes" in Werken und Taten
gäben, in Worten aber zwangläufig
daneben griffen. Unter allen Umstän-
den: es ist' z w e i e r l e i, es betrifft
zwei durchaus verschiedene Eigenschaf-
ten: zu Leistungen befähigt sein
oder zur Beobachtung innerhalb
dessen, was wir „leisten". Und nur
selten fallen diese Eigenschaften beide
auf einen Menschen.
So ändert denn auch an der Unauf-
findbarkeit der „Wahrheit" der Um-
stand durchaus nicht immer etwas, daß
so vieles heutzutage von Gruppen
von Menschen betrieben und erwirkt
wird. Gewiß sehen zehn Augen mehr
als zwei, aber die Aussagen von fünf
Menschen ergeben auch leicht mehr Wi-
sprüche als die Aussage von einem.
Und wenn nun alle fünf „unreflek-
tierte" Tatmenschen sind und sich über
sich selbst und übereinander täuschen?
Oder wenn einer die vier andern irre-
führt? Man muß sich mindestens klar
sein, daß solche sich selbst oder Andre
täuschende Menschen weder Schurken
noch Tröpfe zu sein brauchen. Im
Gegenteil: sie können sogar Genies
sein.
„Aber in den Akten steht doch alles
ganz genau?" Himmlische Einfalt, die
so denkt! Von wem werden Akten-
stücke geschricben? Von untergeorductcn
Persönlichkeiten, denen z. B. ein Bis-
marck gewohnhcitmäßig sehr viel „an-
vertraute", nicht nur trotzdem, sondern
weil er wußte, daß sie es letzten
Endes — nicht verstanden. Wer diktiert
Akten? Wirkende Menschen! Also
Menschen, die vielleicht über die
„Wahrheit" wedcr Nechenschaft ablegcn
wollen, noch dies können. Und zuletzt:
YUOck UOll 68t lU UOtis, tUINSN 6886
potsst in munäo! Es geht täglich un-
endlich viel Wichtiges vor, wovon nie
ein Aktenstück, nie ein Brief, nie ein
Erinnerungwerk erzählen wird. Oder
hat schon jemand von den Gesprächen
Genaues gehört, die Bismarck mit
König Wilhelm führte, von deu Nach-
sihuugcn führender Ausschuß - Mitglie-
dcr nach Protokollschluß, bei dencn crst
oft das Wichtigste gesagt wurde, von
den heimlichen Verabredungcn, welche
Hunderttausende von Ereignissen etwa
der neunzigjährigen russischen Revo-
lution „vcrursacht" habcn? Gar heute
währcnd des Weltkrieges: geht in eine
l?5
perschaften) befragen. Und dabei wird
er die entscheidende, überraschende Er-
fahrung machen, daß solche Auskunft
sehr oft schlechterdings nicht zu haben
ist. Zuallererst, weil die Beteiligten
keine Zeit oder nicht den Willcn haben,
Auskünfte zu geben. Dann weil sie
sich über die selbsterlebte Vergangen-
heit täuschen, weil die Erinnerung sie
trügt — wozu die Ereignisse bekanntlich
gar uicht stets um Iahrzehnte zurück-
liegen müssen; Monate, Wochen ge-
nügen. So kommen von gleich Be-
teiligten ganz auseinanderlaufende
Mitteilungen zustande, auch ohne daß
der gute Glaube bezweifelt werden kann.
Endlich und vielleicht wichtigstens: weil
die wirkenden Menschen die „Ursachen"
ihres eigenen Tuns sehr oft nicht ken-
nen. Noch sehr „einfach" ist da etwa
dieser Fall: wir suchen Auskunft über
eine Zwiesprache zwischen A und B.
B ist verstorben. A berichtet nun nach
seiner Auffassung; aber vielleicht hat
B ihn in der Zwiesprache so nach einer
Richtung beeinflußt, daß dies sehr wirk-
sam würde, ohne daß A es merkte,
so daß A sich für dcn Urheber einer
Angelegenheit hält, deren „wahrer" Ar-
heber B war. B braucht dann nicht
einmal verstorben zu sein, es genügt,
wenn er nicht will, daß man seine
Urheberschaft kenne — um Mit- und
Nachwelt für immer zu täuschen. Es
gibt sehr vicle Menschen vom Thpus
„B"! Und sehr viele, sehr tüchtige vom
Typus »A". Häufig ist auch der Fall,
daß wirkende Mcnschen nicht imstande
sind, sich über ihr Tun wie man sagt:
Rechcnschaft abzulegen. Sie tun „ein-
fach", tun Fnstinktmäßig", tun „blind-
lings" ihr Werk, oft ein großes, welt-
geschichtliches Werk; und auf ein
Warum haben sie nur ganz offensicht-
lich ungcnügende Antworten. Bcbels
Lebenscrinncrungen sind voll von Ba-
nalitäten — und doch war Bebel cin
Löwe an Wirksamkeit und alles andre
als banal. Wieder Andre geben wasser-
fallähnliche Auskünfte und erklären
„sich" in endlosen Redeströmen — so
Richard Wagner; und, an ihrcm „wirk-
lichen" Tun gemessen, sind ihre Aus-
künfte schief, ungenügend, ja objcktiv
salsch. Dann scheint es, als ob sie
ihr „Wahrstes" in Werken und Taten
gäben, in Worten aber zwangläufig
daneben griffen. Unter allen Umstän-
den: es ist' z w e i e r l e i, es betrifft
zwei durchaus verschiedene Eigenschaf-
ten: zu Leistungen befähigt sein
oder zur Beobachtung innerhalb
dessen, was wir „leisten". Und nur
selten fallen diese Eigenschaften beide
auf einen Menschen.
So ändert denn auch an der Unauf-
findbarkeit der „Wahrheit" der Um-
stand durchaus nicht immer etwas, daß
so vieles heutzutage von Gruppen
von Menschen betrieben und erwirkt
wird. Gewiß sehen zehn Augen mehr
als zwei, aber die Aussagen von fünf
Menschen ergeben auch leicht mehr Wi-
sprüche als die Aussage von einem.
Und wenn nun alle fünf „unreflek-
tierte" Tatmenschen sind und sich über
sich selbst und übereinander täuschen?
Oder wenn einer die vier andern irre-
führt? Man muß sich mindestens klar
sein, daß solche sich selbst oder Andre
täuschende Menschen weder Schurken
noch Tröpfe zu sein brauchen. Im
Gegenteil: sie können sogar Genies
sein.
„Aber in den Akten steht doch alles
ganz genau?" Himmlische Einfalt, die
so denkt! Von wem werden Akten-
stücke geschricben? Von untergeorductcn
Persönlichkeiten, denen z. B. ein Bis-
marck gewohnhcitmäßig sehr viel „an-
vertraute", nicht nur trotzdem, sondern
weil er wußte, daß sie es letzten
Endes — nicht verstanden. Wer diktiert
Akten? Wirkende Menschen! Also
Menschen, die vielleicht über die
„Wahrheit" wedcr Nechenschaft ablegcn
wollen, noch dies können. Und zuletzt:
YUOck UOll 68t lU UOtis, tUINSN 6886
potsst in munäo! Es geht täglich un-
endlich viel Wichtiges vor, wovon nie
ein Aktenstück, nie ein Brief, nie ein
Erinnerungwerk erzählen wird. Oder
hat schon jemand von den Gesprächen
Genaues gehört, die Bismarck mit
König Wilhelm führte, von deu Nach-
sihuugcn führender Ausschuß - Mitglie-
dcr nach Protokollschluß, bei dencn crst
oft das Wichtigste gesagt wurde, von
den heimlichen Verabredungcn, welche
Hunderttausende von Ereignissen etwa
der neunzigjährigen russischen Revo-
lution „vcrursacht" habcn? Gar heute
währcnd des Weltkrieges: geht in eine
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